A Whiter Shade of Pale

Über den Mythos Weißwurst und die im Zusammenhang stehenden Fragen nach der Originalrezeptur, der wahren Genussfrische, dem Geheimnis der Fleischerei Ringl und vermeintlicher kultureller Aneignung.

Foto von Ingo Pertramer
Text von Thomas Maurer

Die Kulinarik ist eines der wenigen Felder, auf dem Importe aus anderen Traditionen nicht zwangsläufig kreischende Debatten zwischen den Polen „Kulturelle Bereicherung“ und „Vorsätzliche Identitätszerstörung“ auslösen.

Mag ja sein, dass chinakritische Wirtschaftsjournalisten ihre Dim Sum gelegentlich mit gemischten Gefühlen verzehren oder freiheitliche Sympathisanten sich ihren Jausen-Dürüm tendenziell einpacken lassen, um nicht beim Verzehr erwischt zu werden. Aber auch unter den hart gesottensten Nostalgie-Patrioten wird man wenige finden, die sich ernstlich die Zeit zurückwünschen, als es hierzulande weder Tajine noch Curry, weder Burger noch Pizza gab.

Glücklicherweise verzichteten die Österreicherinnen und Österreicher auch in den von kultureller Unsicherheit geprägten Frühphasen des Exotisch-essen-Gehens darauf, sich speisenangebotsadäquat zu kleiden und beispielsweise zum Pizzaessen als Gondoliere oder für Sushi als ­Madame Butterfly kostümiert zu erscheinen. Das erspart uns heute sehr viele, sehr öde Debatten zum Thema „Kulturelle Aneignung“.

Gebrochen wurde mit dieser begrüßenswerten Nicht-Tradition aber erstaunlicherweise im Rahmen des späten Aufstiegs einer hierzulande lange Zeit nicht vertretenen kulinarischen Kultur: der bayerischen. Ich spreche hier natürlich aus der Perspektive des Östösterreichers. Der staatlich geprüfte Meisterfotograf Ingo Pertramer zum Beispiel ist aus Salzburg-Stadt gebürtig und sozusagen mit Weißwürsten aufgezogen worden; ich habe hingegen meine erste Weißwurst sicher nicht verzehrt, ­bevor ich wahlberechtigt war. Und ich erinnere mich, anlässlich dieser bemerkt zu haben: „Für vom Glauben abgefallene Vegetarier der ideale Tofu-Ersatz.“ Dennoch sind wir Freunde. Eine friedliche Welt ist möglich.

Und so geschah es, dass die vor zehn Jahren in Anlehnung ans berüchtigte Münchner Oktoberfest ins Werk gesetzte Retortengeburt der „Wiener Wiesn“ in vielen Menschen die Überzeugung reifen ließ, man könne seine Maß und seinen ­Obatzdn nur angemessen genießen, wenn man sich dazu als Bayer verkleidet oder zumindest in irgendeine Fantasy-Variante von „Tracht“ wirft.

Die Veranstalter der „Wiener Wiesn“ haben übrigens heuer ihren Pachtvertrag durch die Stadt Wien gekündigt bekommen, nahtlos ersetzt wird dieses, ähm, Traditionsevent am gleichen Ort durch die „Kaiser Wiesn“. Inhaltliche Kontinuität scheint hier großgeschrieben zu werden; das Livemusik-Angebot (Die Lauser, Die Draufgänger, Volxrock, Dirndlrocker u. v. a.) weckt die ­berechtigte Hoffnung, dass man sich auch um eine Versorgung mit ähnlich authentischer ­oktoberfestlicher Verpflegung keine Sorgen zu machen braucht.

Persönlich habe ich mich übrigens im Zuge etlicher München-Gastspiele mit der Weißwurst doch noch angefreundet. Nicht so sehr, dass ich mich, um wieder einmal in deren ­Genuss zu kommen, als Andreas Gabalier kostümieren und mir während des Verzehrs die Dirndlrocker anhören würde, aber doch genug, um mich gemeinsam mit dem Weißwurstconnaisseur Pertramer in den Herstellungsprozess zu stürzen. Zunächst unter kundiger Anleitung, aber mit der Perspektive, eventuell später auch in der eigenen Küche zur Weißwurstproduktion schreiten zu können.

Wie viele ikonische Gerichte (Sachertorte, Huhn Marengo, Champagner) soll auch die Weißwurst zufällig aus einer Not heraus entstanden sein, die sich dann zur Tugend wandelte. Konkret soll, so die Legende, der bürgerliche Gastwirt Joseph Moser am 22. Februar 1857 erstmals Weißwürste in seinem Gasthaus Zum Ewigen Licht am Münchner Marienplatz serviert haben. Und zwar deshalb, weil ihm die für Bratwürste verwendeten zarte Schafdärme ausgegangen waren und er das Brät ersatzhalber in die dickeren Schweinsdärme füllte, die so entstandenen Würste nicht briet, sondern sott und in einer Terrine servierte. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.

Geschichte ist mittlerweile aber auch das Gasthaus Zum Ewigen Licht, was eine Pilgerreise an den mythischen Ort zu Recherchezwecken angenehmerweise überflüssig machte. Stattdessen suchten wir die bestens beleumundete und obendrein bequem mit der U-Bahn erreichbare Fleischerei Ringl in Wien-Gumpendorf auf, ein Bollwerk klassischen Fleischertums, in dem selbstverständlich noch selbst gewurstet wird. Nicht nur, aber eben auch Weißwurst. Die gibt es hier allerdings auch erst seit Mitte der Neunzigerjahre, also ein bisschen, aber nicht viel länger als das ebenfalls sanft exotische hausgemachte Beef Jerky.

Produziert wird hier mit einem angenehm aus der Zeit gefallen wirkenden Handwerksethos, das sich auch im Erscheinungsbild des Verkaufslokals widerspiegelt. Handgeschriebene Preisschilder, selbst­bewusst von der Decke baumelnde Würste und ein allgegenwärtiger, fast schon schmeckbarer Duft nach Selche und Bratkrustel, Leberkäse und Fleisch. „Abfall“ gibt es keinen, Aorta, Kutteln, Ziemer und Herz liegen getrocknet im Regal, bereit, um Hunde glücklich zu machen.

Helmut Ringl, der Senior, ein schmal gebauter Wiener Sir der alten Schule und eigentlich längst in Pension, ist immer noch täglich präsent, obwohl die Töchter Claudia und Monika den Betrieb seit 2009 ohne Generationenkonflikt führen. Die Prinzipien sind gemeinsame: keine Konservierungsmittel, Rohware von kleinen, persönlich bekannten Innviertler Bauern. Rindfleisch reift mindestens vier Wochen am Knochen, Wurst, Schinken und Selchwaren werden grundsätzlich im eigenen Haus erzeugt.

Die Idylle hat allerdings ihren Preis: Claudia Ringl verströmt gute Laune und bodenständigen Charme, ungeachtet der Tatsache, dass sie am Tag unseres vormittäglichen Besuchs bereits seit halb drei Uhr früh im Betrieb steht, weil eine Fleischlieferung entgegenzunehmen war. Dasselbe gilt für Andreas („I bin der Andi.“) Nossek, der seit sieben Jahren Mitarbeiter ist und, obwohl gelernter Fleischer („In die ersten paar Jahr hab ich eigentlich nur Stier’ geschlachtet und zerlegt“), erst im Hause Ringl das Wursten erlernt hat. Und deshalb sind wir schließlich auch da.

Bevor es losgeht, gibt es noch einen kleinen kulturgeschichtlichen Exkurs, und der führt in den Hof des Gründerzeithauses, in dem seit Errichtung eine Fleischerei untergebracht war. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs wurde hier gerade eine Tiefgarage ­gebaggert, was temporär den Blick auf die Überreste von zwei Kellergeschoßen freigab, in denen früher die komplett angelieferten Tiere zerlegt und das Fleisch via Lastenaufzug ins Erd­geschoß befördert worden war. Das Ganze sieht ein bisschen aus wie das Forum Romanum ohne Säulen und kündet, wie dieses, von einer unwiderruflich untergegangenen Kultur.

Der Geist der Geschichte weht dann aber gleich weiter, denn wir versammeln uns zunächst um einen Ehrfurcht gebietenden, ein knappes halbes Jahrhundert alten Kutter. Sollte, wonach es ja aussieht, Fleischer nach Bäcker das nächste Trendhandwerk für qualitätsbewusste Besserverdiener werden, so werden derart archaisch unverwüstliche Arbeitsgeräte (Andi: „Einmal is uns ein Blechkübel reing’fallen. Die Messer haben’s überstanden, der Kübel nicht“) vermutlich in den dazugehörigen einsehbaren Arbeitsräumlichkeiten eine ähnliche Distinktionsquelle darstellen wie die klassische ­Faema-E51-Espressomaschine für designbewusste Kaffeesieder.

Und der Kutter hat auch gleich seinen Auftritt. Nachdem wir das sehr gut gekühlte (drei Grad) Kalbfleisch herbei­getragen haben – die Ringls verzichten darauf, der Masse die zulässigen bis zu 30 % Feineis zuzufügen, dafür darf die Brättemperatur im Lauf des Verarbeitungsprozesses maximal 15 Grad nicht übersteigen –, verkündet Andi: „I lass ihn amal im ersten Gang rennen.“

Worauf sich ein ohrenbetäubendes, basslastiges Kreischen erhebt. Claudia Ringl brüllt vergnügt über den Lärm hinweg: „Er is ein bisserl laut, vor sieben in der Früh dürf ma den gar net anwerfen!“ Der zweite Gang ist dann der zweiten Runde, dem Feinkuttern, vorbehalten. Hier wird der Masse auch Wasser zugefügt, konkret sechs Liter auf 21 Kilogramm Fleisch. Und zwar reines Kalbfleisch.

In der bayerischen Heimat der Weißwurst werden gerne auch Kalbshaxen, eventuell auch Kalbsmasken, zugefügt, was aber, da sind sich Andi und Claudia einig, die Masse „zu leimig“ mache. Auch auf die dort übliche Zugabe von Schweineschwarten wird hier verzichtet (erlaubt ist, bis zu 30 % Fett zuzusetzen, was den Leichtes-Gabelfrühstück-Faktor der Weißwurst doch in einem ­anderen Licht erscheinen lässt; allerdings lässt sich fettere Weißwurst besser „zuzeln“), stattdessen wird bestes Kalbsnierenfett zum Einsatz gebracht.
Das heißt – für den angestrebten Hausgebrauch bitte entsprechend dividieren –, in einer Ringl-­Ladung Weißwurst sind:

21 Kilogramm Kalbfleisch
6 Liter Wasser (sehr kalt, siehe oben)
42 Deka Salz (2 Deka pro Kilogramm)
2 Kilogramm Nierenfett

Und sonst nix, außer den Gewürzen. Und auch von denen weniger als üblich. Verwenden darf man grundsätzlich, ohne eine Vorladung vor den kulinarischen Strafgerichtshof der UNESCO zu riskieren, auch Zitronenschale, Macis oder Muskat, weißen Pfeffer und gelbe Senfkörner. Bei Ringls aber beschränkt man sich würztechnisch neben der bereits erwähnten Kochsalzgabe (Pökelsalz würde eine rote Weißwurst ergeben und obendrein den Geschmack beeinflussen) auf getrockneten Petersil (fünf Deka pro Kilogramm) und grünen Pfeffer (zwei Deka pro Kilogramm).

Zugegeben werden die Gewürze erst im dritten Kutterdurchlauf, wobei besonders beim Petersil darauf zu achten ist, in Rotationsrichtung der Messer zu streuen, weil ansonsten die Geschwindigkeit, mit der sich das brüllende Monstrum dreht, den ganzen Segen ­zurück in den Raum blasen würde. Wenn die Masse die perfekte Konsistenz hat (Claudia: „Man muss reingreifen, dann spürt man’s. Das is wie beim Gugelhupfmachen“) kommt sie in die Maschine zum Wurstfüllen, welche, was mich als Liebhaber berufsspezifischen Fachvokabulars doch sacht enttäuscht, einfach „Wurstfüller“ heißt.

Immerhin lerne ich doch ein neues Wort. Zügiges Arbeiten ist deshalb angebracht, weil ein zu warmes Brät dafür sorgen würde, dass die Wurst „kurz“ wird; das heißt, dass sich das Fett aus der Masse lösen und absetzen würde. Und eine kurze Weißwurst produziert zu haben, scheint für einen Fleischer von Ehre in etwa das Äquivalent zu einem Hells Angel zu sein, dem sein Chopper umfällt.

An der Wurstfülltülle (schönes Wort!) wird nun der Darm aufgezogen (Schweinssaitling, Kaliber 36/38) und zunächst noch einmal mit ordentlich Wasser durchgespült, bevor man beginnt, die Masse behutsam (Andi: „Da brauchst ein G’fühl wie a Hebamm’“) nachrutschen zu lassen. Natürlich ist es für Nichtfleischer wie mich eine Herausforderung, den Saitling halbwegs gleichmäßig prall zu bekommen, und natürlich zeitigt das Trennen in Einzelwürste durch elegantes Rotieren um die Längsachse in meinem Fall sehr, nun ja, individuelle Würste von deutlich unterschiedlicher Länge. Meine unverzüglich aufkeimenden Minderwertigkeitsgefühle versucht Claudia aber freundlicherweise mit der Bemerkung „Na ja, die werden dann eh abgewogen“ zu zerstreuen.

Die noch zusammenhängenden Wurstgirlanden werden dann über Latten gehängt und im Weiteren samt diesen in den Brühkessel befördert, wo sie bei etwa 75 Grad etwa 30 Minuten garen. Jetzt gilt es eigentlich nur noch, sich eine eigene Meinung zum Thema: „Stimmt es, dass ganz frisch gebrühte Weißwürste noch mal besser schmecken als kalte, die man durchwärmt?“ Und siehe da – ich berufe mich hier auch auf die lebenslang erworbene Expertise von Meisterfotograf Ingo Pertramer –, es stimmt.

Womit endlich auch ein halbwegs rational nachvollziehbarer Grund vorliegt, die Weißwurst nicht einfach bei den Ringls oder einem anderen Fachbetrieb zu erwerben, sondern doch den selten verwendeten Fleischwolf samt der noch nie verwendeten Wurstfülltülle aus dem hinteren Bereich des schwer erreichbaren obersten Küchenregals zu holen und ein bisschen Freizeit zu investieren. Wer mag, kann dazu auch Tracht tragen. Oder ein Winnetou-Kostüm.
Sieht ja niemand. —

Adresse

Fleischerei Ringl
Gumpendorfer Straße 105, 1060 Wien, T 01/596 32 78
fleischerei-ringl.at

Eine Weißwurst kommt selten allein – hier allerdings eine Portion für wirklich starke Esser.
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Gruppenbild mit Dynastie, Andi & Autor