Es ist magisch

Alchemist in Kopenhagen. 50 Gänge in knapp sechs Stunden und eine eindringliche multimediale Inszenierung fordern alle Sinne. Die Ansage von Rasmus Munk: „Change the world with food.“

Text von Christian Grünwald

Einst war am Refshaleøen in der Industriezone von Kopenhagen in einer 2.200 m2 großen Halle das Kulissendepot des königlich-dänischen Theaters untergebracht. Seit Sommer 2019 befindet sich hier das Alchemist, eines der aufwendigsten Restaurantprojekte unserer Zeit. Die massiven Bronzetüren, die ins Alchemist führen, sind 2,4 Meter breit und 4,9 Meter hoch und wurden von der dänischen Künstlerin Maria Rubinke entworfen. Sie wiegen zwei Tonnen und könnten auch in einem Game of Thrones-Königspalast Einlass gewähren. Wer an die Alchemist-Pforte pocht, hat bereits einige Schreibarbeit hinter sich, um zu einer Reservierung zu gelangen, und auch schon einen großen Teil der fälligen Rechnung beglichen. Pro Kopf sind für das Alchemist Experience-Menü 720 Euro fällig. Extra verrechnet wird das Getränkepairing, das je nach Zusammenstellung zwischen 270 und 1.270 Euro kostet. Es erwarten einen rund 50 Gänge voll geschmacklicher Impressionen, garniert mit Kunst, Drama und spektakulären visuellen Eindrücken. Schon bei der Reservierung wird man auf die Dauer der Darbietung eingestimmt. Sechs Stunden soll man sich bitte Zeit nehmen und die Bereitschaft für neue Erfahrungen mitbringen. Was lieber draußen bleiben soll, so die Reservierungsempfehlung, sind wichtige Geschäftsbesprechungen und erste aufgeregte Dates. Und was auf der Website nicht steht, aber enorm wichtig ist: Kommen Sie mit einem Menschen, den Sie mögen und der mindestens mit soviel Neugier und Genussfreude ausgestattet ist wie Sie selbst.

Inhaber des Alchemist sind Küchenchef Rasmus Munk und Lars Seier Christensen, der ehemalige CEO der Saxo Bank. Rasmus Munk entwarf und zeichnete die ersten Pläne für die Gestaltung der ehemaligen Lagerhalle bereits 2016 selbst. Später legte der britische Architekt Mike Duncalf professionelle Hand an. Einige Zahlen und technische Angaben helfen vielleicht, die Dimension des Alchemist-Projekts darzustellen. Die Hauptlounge ist über 22 Meter hoch und bietet durch eine Glaswand Einblick in die Forschungs- und Entwicklungsküche. Der dreistöckige Weinkeller ist 15 Meter hoch und bietet Platz für 10.000 Flaschen. 200 Tonnen Stahl wurden für den Bau der gigantischen Planetariumskuppel, dem Herzstück des Restaurants, verwendet. Die Kuppel hat einen Durchmesser von 15 Metern. Zehn Mapping-Projektoren bieten den Gästen ein 360-Grad-Erlebnis. Zusätzlich zur Kuppel werden zwei Erlebnisräume regelmäßig ­erneuert und mit überraschenden interaktiven Kunstdarbietungen gefüllt. Zwei Lounge-Bereiche laden zum Innehalten und Nachdenken ein.

Das Alchemist bietet pro Abend Platz für maximal 52 Gäste. Sie kommen in den Genuss der von Rasmus Munk erdachten „Holistic Cuisine“, einer ganzheitlichen Küche, die man in jeder Facette erleben soll. „So wie die antiken Alchemisten Philosophie, Naturwissenschaft, Religion und Kunst zu einem neuen Verständnis der Weltordnung zu verbinden suchten, so ist es das Ziel der ganzheitlichen Küche, unser Verständnis des Essens neu zu definieren und zu erweitern“, erklärt Munk. „Wir greifen hier auf Elemente aus Gastronomie, Theater und Kunst sowie Wissenschaft, Technologie und Design zurück, um ein allumfassendes Sinneserlebnis zu schaffen. Geschmack, hochwertige Zutaten und Zubereitung sowie der Prozess des Essens bilden die Grundlage. Das Erlebnis soll aber über den Tellerrand hinausgehen und sowohl die unmittelbare Umgebung als auch Zeit und Raum überdauern.“

Tatsächlich verschmelzen hier Essen, Trinken, Soundcollagen und eindringliche visuelle Bilder zu einer Inszenierung, die die Bezeichnung Alchemist-Universum verdient. Am intensivsten wirkt das alles, wenn man in der Planetariumskuppel Platz genommen hat. Der gigantisch groß wirkende Raum ist das Zentrum des Restaurants. Die Kuppel ist die 360-Grad-Projektionsfläche für kunstvolle, atemberaubend Bilder und Filme. So schwebt man durch den Weltraum, findet sich unter Wasser inmitten von bunten Fischen und Quallen oder auch in einem menschlichen Körper mit Ausblick auf das entspannte Schlagen des Herzens. Dabei wird dem Ton mindestens so viel Aufwand zuteil wie dem Bild. Das Soundsystem vermag Töne auch körperlich spürbar zu machen.

Die ersten Gänge kommen in der Lounge mit Blick auf die Versuchsküche und Hunderte von Gläsern mit Flüssigkeiten und Eingelegtem. Da ist etwa ein bunter Schmetterling, gefriergetrocknet und auf einem knusprigen Brennnesselblatt serviert. Es ist geschmacklich ein filigraner Hauch von Nichts, wunderhübsch anzusehen und dazu, welch Ironie, auch noch regional, weil vom befreundeten Bauern in einem Gewächshaus gezüchtet. Sehr stolz ist das Alchemist-Forschungsteam auch auf das sogenannte Weltraumbrot. Gemeinsam mit dem MIT Media Lab in Cambridge entwickelt, kann man mit dieser Technik alle möglichen Produkte in einem Art Vakuum verdichten. Rasmus Munk tut dies mit einer zehn Jahre alten Sojasauce aus Kyoto. Das Ergebnis ist eine angenehm superfluffige Masse, die ein wenig an ebensolchen Brotteig erinnert. Garniert mit Kaviar ein echter Hit. Das Weltraumbrot wird aber auch anderswo serviert, nämlich im Kinderkrankenhaus von Kopenhagen. Die kleinen Patienten lieben es heiß (selbstverständlich mit anderen Belägen als Kavier). Oft ist es das Einzige, was sie an manchen Tagen wegen ihren von den intensiven Behandlungen mitgenommenen Rachen und Speiseröhren zu sich nehmen. Rasmus Munk sucht ganz bewusst derartige Einsatzgebiete. Ausschließlich kulinarische Motive waren und sind ihm zu wenig. Das meint Rasmus Munk, wenn er davon spricht, dass er mit Essen die Welt verändern möchte.

Seit der Gründung des Alchemist besteht das Team nicht nur aus Köchen und Servicemitarbeitern, sondern auch aus Wissenschaftern verschiedenster Disziplinen: Lebensmitteltechniker, Multimedia-Digitaltechniker, Grafiker, Toningenieure, Industriedesigner, Biotechniker … Das Multimedia-Team ist ähnlich groß wie das Küchenteam. Vieles ist KI-unterstützt. Die benötigte Rechnerleistung ist gewaltig und dementsprechend kostenintensiv. Bei einem 50-Gänge-Menü spricht man klarerweise nicht von herkömmlichen Tellergerichten. Es sind Miniaturen, Ideen-Happen, flüchtige und eindringliche Impressionen, die allesamt eine Geschichte erzählen. Viele große Dinge des Lebens kann man mit den Mitteln eines Restaurants nicht ändern, aber man kann darauf hinweisen, Bewusstsein schaffen. Etwa wenn es um die Erfassung unserer persönlichen Daten im Alltag geht. Rasmus Munk lässt nicht nur eine bedrohlich wirkende Augenarmada auf die Kuppel projizieren, er verwendet auch ein mit seinem Auge bemaltes Harzelement für ein Gericht aus Muscheln, Spargel und Pili-Nüssen, die in einem Gel aus ­Kabeljauaugen und Schwertmuscheln eingelegt werden, obendrauf kommt Chef’s Selection Kaviar.

Bewusstseinsmachung funktioniert wohl dann am besten, wenn die Gäste aus der Komfortzone gelockt werden und man Emotionen irgendwo zwischen Lust und Ekel entfacht. Da ist etwa der „Zungenkuss“, wofür eine Silikonzunge, die einer menschlichen Zunge nachempfunden ist, mit Rindstatar, unreifen Mangos und Salzzitronen belegt ist. – Und jetzt raten Sie, wie man das isst … Mehr Achtung vor dem Leben und den Tieren soll man haben, was dann auch durch den „Denkanstoß“ nochmals eindringlich dargestellt wird. Zu Tisch kommt ein halbierter menschlicher Kopf, der mit Hirnmasse ausgelegt ist. Lammhirn wird in Dänemark normalerweise als Abfall entsorgt. Hier glänzt es im Silikonkopf als Kirsch-Baiser-Torte, gefüllt mit Lammhirnmousse und Kirschgel, gekrönt mit einem gefriergetrockneten Lammhirn-Crisp. Und möglicherweise führt auch Selbsterkenntnis zu neuen Weisheiten. Rasmus Munk betreibt Lithophanie, eine alte Kunsttechnik für Reliefdarstellung in transluzentem Material, nun mit einer Creme aus weißen Bohnen. Mit 3D-Technologie zaubert er daraus ein Porträt jedes Gastes, das dieser dann mit Crackern aus Schweinsfett isst bzw. abschabt.
Man fragt sich zwischendurch: „Warum kommen da all diese Glaubst-du-wirklich-dass-ich-das-essen-werde-Gerichte?“ Die Antwort lautet: Weil es um weit mehr als nur Essen geht.

Da ist dieses „Burnout Chicken“-Gericht. Zwei Hühnerbeine werden in einem Käfig serviert, dessen Durchmesser proportional zur Bodenfläche eines ganzen Huhns aus Käfighaltung ist. Darum ragen die Krallen deutlich aus einer kleinen Käfigbox hervor. Deutlicher kann man als Koch nicht auf den Irrsinn der weltweiten Lebensmittelindustrie hinweisen. Und auch an diesem Beispiel wird die Verschwendung klar, die mit vorhanden Ressourcen betrieben wird. Die Hühnerfüße, die im Westen weggeworfen werden, sind
in asiatischen Ländern sehr geschätzt. Im Alchemist werden die Hühnerfüße im Schnellkochtopf gegart, entbeint, anschließend kryo-frittiert und mit einer klebrigen süß-sauren Fischkaramellsauce überzogen. Dazu gibt es eine Suppe, die von traditioneller Tom Yam inspiriert ist.

In einer Inszenierung wie im Alchemist über Hunger zu reden, erscheint völlig grotesk. So, wie auch Hunger eines der großen Paradoxe der modernen Zivilisation ist. Denn einerseits produziert die Welt zu viel Essen, umgekehrt gehen 800 Millionen Menschen weltweit jeden Abend hungrig zu Bett. Rasmus Munk weist in einem sehr eindringlich arrangierten Gericht darauf hin. Er legt dünn geschnittenes Kaninchenfleisch über eine skulpturale menschliche Brust aus Silber, um die Gäste an unterernährte Kinder zu erinnern, die aufgrund der globalen Ungleichheiten in der Nahrungsmittelverteilung leiden. Ergänzt wird das Ganze durch eine Harissa-Sauce, die von nordafrikanischen Aromen inspiriert ist. Bei jedem Gang faszinieren neben den technischen Machbarkeiten auch Geschmack, Textur, der dazu gereichte Wein bzw. das komponierte Getränk. Der Service agiert omnipräsent, manchmal scheint es, also wüssten die Serviceleute noch vor einem selbst, wonach man gleich fragen wird. Kein Detail geschieht zufällig. Je nach Gericht variiert nicht nur die Art, sondern auch die Temperatur des Bestecks. Und wenn etwa nach den Seafood-Gängen zum Fleisch gewechselt wird, dann wechselt der Service auch alle Gläser am Tisch. Man könnte sonst schließlich einen fischigen Hautgout am Glasrand haben.

Die Vielschichtigkeit des Alchemist-Programms ist eng mit der Biografie von Rasmus Munk verwoben. Der 34-jährige Küchenchef hat sich immer schon nicht nur für hochfliegende technische Möglichkeiten in der Küche begeistert. Er ist sowohl Künstler, Denker, Humanist und verrückter Wissenschafter als auch kühner Unternehmer, Visionär und ein feinfühliger Mensch. Während des Corona-Lockdowns 2022 gründete Rasmus Munk die Wohltätigkeitsorganisation JunkFood, die Obdachlosen in Kopenhagen täglich eine kostenlose Mahlzeit zur Verfügung stellt. Bis heute hat die Organisation 255.000 Mahlzeiten ausgegeben.
Und da ist nun auch noch, ganz neu, das von Rasmus Munk ins Leben gerufenen Spora-Netzwerk. Das Ziel ist, die Entwicklung eines nachhaltigen globalen Lebensmittelsystems mit den unterschiedlichsten Mitteln zu beschleunigen. Es geht um die Entwicklung neuer proteinreicher Lebensmittel (z. B. aus Rapspresskuchen), um Meeresfrüchtealternativen unter Verwendung von Fadenpilzen und Algen, um das Potenzial des 3D-Drucks von Lebensmitteln oder auch um die Nutzung von Ultraschall zur Aroma-Extraktion.

Eine digitale Plattform bietet Zugang zu Fachwissen, Forschungsergebnissen und einem multidisziplinären kulinarischen Netzwerk. Gute Ideen sollen auf diese Weise schneller und effektiver realisiert werden. Damit es guten Projektansätzen nicht so ergeht, wie es Rasmus Munk zu Beginn des Alchemist erleben musste: „Als ich das erste Mal mit dem Konzept zur Bank ging, sagten sie: Nein.“ Wie die Geschichte dann letztlich doch gut weiterging, weiß man heute. Für Spora tätigten die Biowissenschafts-Pioniere Claus und Bente Christiansen ein Startinvestment von zehn Millionen dänischen Kronen (ca. 1,4 Mio. Euro). —

Nordlicht-Stimmung in der Kuppel.
Detailreiches Anrichten des Seafood-Mix auf Augen-Modellen aus Kunstharz für das Gericht „1984“.
Rasmus Munk präsentiert sein Aromen-Archiv.
Der Schmetterling als potente Proteinquelle, im Alchemist gefriergetrocknet und auf einem knusprigen Brennnesselblatt platziert.
„Food for thought“ lautet der Titel des Gerichts, das in einem halbierten Silikonkopf serviert wird.
Rasmus Munk scheut nicht vor Konfrontativem zurück: Die Hüherkeulen im Käfig zeigen, wie wenig Platz ein Zuchthuhn hat.
Das Kaninchenfleisch auf Silberskelett soll an den Hunger afrikanischer Kinder erinnern.
Für den Zungenkuss wird eine Silikonzunge mit delikatem Belag ausgestattet.