Gute Unterhaltung

Dem Essen im gehobenen Restaurant sind sie das, was dem Drama der Prolog, dem Roman das Vorwort, der Oper die Ouvertüre ist. Über die anspruchsvolle und heikle Kunst der Amuse-Gueules und deren Sinnhaftigkeit in Zeiten der fixen Verkostungsmenüs.

Text von Georges Desrues
Heinz Reitbauer hat die Steirereck-Amuse-Gueule-Parade in letzter Zeit deutlich reduziert. Drei Miniaturen sind nun genug.

Irgendwann erschien ihm die Menge an Amuse-Gueules einfach zu viel, sagt Heinz Reitbauer. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass diese Form der Zwangsbeglückung von etlichen Gästen gar nicht gewünscht werde. „Generell sind wir ja bemüht, unsere Arbeit etwas weniger zu zelebrieren, sie eher in den Hintergrund und den Gast in den Vordergrund zu rücken“, sagt der Wirt und Küchenchef des Steirereck. Und so gibt es heute in dem mythischen Spitzenrestaurant im Wiener Stadtpark vorweg nur mehr einen einzigen Gang, der aus nicht mehr als drei solcher Miniaturgerichte beziehungsweise Happen besteht, die man in der gehobenen Gas­tronomie Amuse-Gueules nennt.

Aufgetaucht sind sie erstmals in den 1970er-Jahren. Damals, in Zeiten der Nouvelle Cuisine, setzte sich die Praxis durch, dem Gast kleine Aufmerksamkeiten zu servieren, die bis vor nicht allzu lange Zeit auch als „Gruß aus der Küche“ bekannt waren. Was sie auszeichnet, ist, dass sie nicht Teil der angekündigten und tatsächlichen Speisenfolge sind, sondern eben dieser vorweg und unbestellt aufgetragen werden. Erfüllen sollen sie gleich mehrere Zwecke. Nämlich zum einen dem Gast die Wartezeit auf den Beginn der Mahlzeit verkürzen, ihn also ­gewissermaßen unterhalten. Daher auch ihr Name, der frei übersetzt soviel wie „Maul-Unterhalter“ bedeutet. Da jedoch der Begriff Maul auch im Französischen nicht gerade als elegant gilt, ersetzt man ihn bisweilen durch das vermeintlich vornehmere „bouche“ – Mund. (Wenngleich der Larousse, das französische Gegenstück zum Duden, den Begriff Amuse-Gueule keineswegs als „familiär“ oder gar als „vulgär“ führt). Heutzutage tauchen sie auch immer öfter unter dem englischen und weitaus uncharmanteren Namen „snacks“ auf. Doch der steht genauso gut für ein Stanitzel Pommes, für eine Salzbreze oder einen Cupcake und soll hier folglich ignoriert werden. Außer ihn zu unterhalten, sollen Amuse-Gueules dem Gast auch den Appetit öffnen und ihm einen Vorgeschmack auf das, was noch kommt, liefern sowie einen Einblick in das Können des Küchenchefs. All das macht sie zu einer durchaus heiklen Herausforderung, zu einer komplexen Stilübung, der sich die Köche mit unterschiedlichen Herangehensweisen nähern. Schließlich geht es darum, ihr Talent unter Beweis zu stellen, ohne zu übertreiben, nicht zu über- und nicht zu unterfordern, also darum, mit wenig viel zu sagen.
Dabei kommt es nicht selten vor, dass das Unterfangen misslingt. Dann etwa, wenn etwas allzu Üppiges wie eine Entenleberpraline weder den Mund noch sonst etwas amüsiert, sondern bereits vor Beginn des eigentlichen Menüs den Wunsch nach Espresso, Schnaps und Couch weckt. Oder wenn ein staubtrockener beziehungsweise gummiger Tarteletten­boden im Mund immer mehr wird, sodass man sich wünscht, man hätte statt der Weinbegleitung ein großes Bier bestellt. Keine Frage, dass eine derart falsche Note gleich zu Beginn nur schwer wieder auszubügeln ist. „Selbstverständlich sollten die Amuse-Gueules in erster Linie leicht säuerlich und angenehm bitter anstatt süß schmecken und in der Konsistenz leicht, frisch, kurzweilig und eher knusprig als teigig sein“, sagt Heinz Reitbauer, „um einerseits die Geschmacksknospen zu stimulieren und andererseits die Lust auf mehr zu wecken.“ Deswegen bestünden sie im Steirereck in erster Linie aus Gemüse, mit dem gelegentlichen Auftauchen eines Stücks Fischs oder, noch seltener, Fleischs. Vorbei seien zudem die Zeiten, in denen ein einzelnes Amuse-Gueule nach dem anderen serviert und vom Kellner beziehungsweise Koch ausführlich beschrieben wurde, meint Reitbauer. „Zum einen erkannten wir, dass wir plötzlich zu jedem Allergen einen Happen hatten, was die Sache ex­trem komplizierte, zum andere wollten wir den Ablauf etwas zügiger gestalten.“ Während es also bis vor Kurzem noch zum guten Ton gehörte, eine möglichst ausgedehnte Salve an ziselierten Happen aus der Küche zu schicken, so ist inzwischen immer öfter Reduktion angesagt.

„Wir haben bereits vor zehn Jahren aufgehört, sie zu servieren“, sagt etwa der italienische Drei­sternekoch Niko Romito. „Ich bin zwar nicht generell gegen Amuse-Gueules. Sie können ja auch ein wundervoller und spannender Auftakt, ein Preludio zu einer Komposition sein. Nur ist das eine Funktion, die in meinem Degustationsmenü der erste Gang übernimmt.“ In diesem süditalienischen Spätsommer ist das etwa ein Pfirsich, der in seinem eigenen Saft mariniert und mit Basilikum und Oliven garniert wurde. Gerne starte er sein Menü aber auch mit einem „assoluto“, worunter Romito eine Art Brühe versteht, die in Wahrheit, da kein Wasser zugegeben wird, eher eine intensiv schmeckende Essenz ist. Und je nach Saison aus so unterschiedlichen Dingen wie Schwarzkohl und Karfiol oder Tomaten und Erdbeeren bestehen kann.

Auf Saisonalität und Regionalität setzen erwartungsgemäß die allermeisten Köche bei der Gestaltung ­ihrer Amuse-Gueules. Schließlich sollen diese ja nicht – wie in den schlimmsten Fällen – zur unnötigen, mit ein paar Körnern Billig-Kaviar oder einer labbrigen Scheibe „australischer Sommertrüffel“ garnierten Effekthascherei verkommen. Sondern vielmehr und zusätzlich zur physiologischen und appetitanregenden Funktion auch eine konzeptuelle erfüllen, indem sie dem Gast etwa eine jahreszeitliche und geografische Orientierungshilfe liefern.

„Für mich sind sie eine gute Gelegenheit, um auch etwas zu verarbeiten und anzubieten, dass ich in dem Moment nur in kleinen Mengen zur Verfügung habe“, sagt etwa Lukas Nagl vom Restaurant Bootshaus am oberösterreichischen Traunsee. Das könne etwa ein Wildfisch wie die Aalrute beziehungsweise dessen Leber oder auch Pilze wie Parasol oder Tintling sein, von denen gerade einmal ein paar Exemplare gefangen beziehungsweise gesammelt wurden. Ansonsten hält es Nagl wie sein ehemaliger Lehrmeister Heinz Reitbauer und richtet seine drei bis maximal fünf Happen auf einem einzigen Teller an, den er in der Regel persönlich serviert. „Das erlaubt mir, die Gäste zu begrüßen und ein paar Worte zu sagen, die gemeinsam mit den Amuses (sic!) das Menü einleiten“, so der Küchenchef.

Gänzlich auf eine Einleitung in irgendeiner Form verzichtet indessen Ana Roš. „Bei mir beginnt die Erzählung gleich mit dem ersten Gang, der möglichst dreist, wuchtig und ­direkt sein soll, damit er den Gast ins Geschehen zieht“, sagt die slowenische Spitzenköchin. Ein Auftrag, der derzeit ganz dem Gericht „Sellerie, Krabbe, Wildkräuter und Senfkörner“ zukommt. Gewissermaßen als Pendant beziehungsweise Antonym zu den Amuse-Gueules gelten die Mignardises oder Petits Fours genannten Naschereien, die, gleichermaßen unangekündigt und ungefragt, nach dem eigentlichen Dessert serviert werden. In einem Moment also, in dem man nicht selten hofft, das zwanzigängige Menü endlich hinter sich zu haben, fährt plötzlich eine ganze Flut an Pralinen, Krapferln, Gelees, Keksen, Krokant, Makronen, Bonbons und Ähnlichem auf, die einem das Gefühl vermitteln, bei einem Kindergeburtstag gelandet zu sein. Auch hier pflegen die Küchenchefs durchaus unterschiedliche Zugänge.

„Nach dem Dessert stellen wir eine Schatulle mit mehreren Laden mit Petits Fours auf den Tisch, an denen sich die Gäste nach Belieben bedienen – oder eben nicht“, sagt etwa Lukas Nagl. Gegenüber den separat und in mehreren Gängen servierten Süßigkeiten bringe das den Vorteil, dass sich niemand gezwungen fühle, jede einzelne davon zu kosten.
Heinz Reitbauer indessen möchte nicht darauf verzichten, ein kleines Feuerwerk an süßen Happen hinterherzuschicken. „Wir legen viel Wert darauf, das Menü mit einem Zeichen der Großzügigkeit zu beschließen“, sagt der Küchenchef, „auch ist es Teil unserer Wiener Identität, den Süßspeisen ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“ Und so seien auch seine Naschereien in der Regel konzeptuell und je nach Saison und Anlass gestaltet. Wie etwa anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Wiener Weltausstellung, als die Petits Fours von Hochstrahlbrunnen und Riesenrad inspiriert waren und winzige Apfelstrudel beinhalteten, um der Wiener Kaffeehauskultur zu huldigen.
Weniger aufwendig geht man das Thema im Hiša Franko an. Dort serviert Ana Roš nach einem einzigen Dessert lediglich saisonale Früchte, die in der Regel und wie nahezu das gesamte Menü im slowenischen Dreisternerestaurant ohne Besteck und mit den Fingern und in einem bis maximal drei Bissen gegessen werden.
Übrigens fielen in früheren Zeiten sowohl die Amuse-Gueules als auch die Petits Fours in die Kategorie der Hors­d’œu­v­re, die, wie ihr Name besagt, „außerhalb des Werks“, also nicht Teil des Menüs waren. Doch das war zu einer Zeit, als noch das sogenannte „Service à la française“ vorherrschte, bei dem jeder Gang aus mehreren Speisen bestand, die man im Ganzen und nach einem festgelegten Schema auf den Tisch stellte. Also beispielsweise zur Hauptspeise das komplette Spanferkel neben einer Pyramide aus Fasanen, einem Kelch voller Krustentiere und einer Skulptur aus Butter. Dazwischen platzierte man, vergleichsweise willkürlich, die Hors­d’œu­v­re.

Als sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts sukzessive das sogenannte „Service à la russe“ durchsetzte, bei dem die Speisen vorgeschnitten in einzelnen Portionen serviert werden, änderte sich die Bedeutung des Begriffs Hors­d’œu­v­re. Er stand nun für eine Vorspeise, die nach den „mises en bouche“ (vergleichbar mit unseren heutigen Amuse-Gueules) und den Suppen als dritter Gang eines klassischen Menüs serviert wurde. Und so ist auch durchaus denkbar, dass, in Zeiten des heute häufig üblichen, einzigen und fixen Verkostungsmenüs, das in vielen Fällen sowieso vorwiegend aus fingerfreundlichen kleinen Happen besteht, auch die Amuse-Gueules eines Tages wieder verschwinden werden. Nämlich spätestens dann, wenn sie von den restlichen Gängen überhaupt nicht mehr zu unterscheiden sind. —

„Selbstverständlich sollten die Amuse-Gueules in erster Linie leicht säuerlich und angenehm bitter anstatt süß schmecken und in der Konsistenz leicht, frisch, kurzweilig und eher knusprig als teigig sein, um einerseits die Geschmacksknospen zu stimulieren und andererseits die Lust auf mehr zu wecken.“ Heinz Reitbauer

Niko Romito verzichtet komplett auf Amuse-Gueules. Er serviert ­vorzugsweise eine intensive Essenz mit Einlage, etwa zum Thema Karotte.

„Wir haben bereits vor zehn Jahren aufgehört, sie zu servieren.“ Niko Romito

Lukas Nagl serviert in seinem ­Restaurant Maruni. „Maruni“ heißt im japanischen „Seeigel“.
Am Traunsee wird daraus Maroni mit hausgemachtem Miso und haus­gemachtem Reinanken-Kaviar.

„Für mich sind sie eine gute Gelegenheit, um auch etwas zu verarbeiten und anzubieten, dass ich in dem Moment nur in kleinen Mengen zur Verfügung habe.” Lukas Nagl

Ana Roš serviert statt zarten Amuse-Gueules kraftvolle erste Gänge: Wildkräutersandwich mit Trockenfrüchten.

„Bei mir beginnt die Erzählung gleich mit dem ersten Gang, der möglichst dreist, wuchtig und ­direkt sein soll, damit er den Gast ins Geschehen zieht.“ Ana Roš