Vom Charme der Nachhaltigkeit

Eneko Atxas Restaurant Azurmendi im Baskenland wird nicht nur wegen seiner Avantgarde-Küche, sondern auch wegen seiner Bemühungen um maximale Nachhaltigkeit mit Auszeichnungen überhäuft. Das tut dem Gast-Gewissen gut und ist auch dem Appetit nicht abträglich.

Foto von Christian Grünwald
Text von Christian Grünwald

Mit seiner drahtigen Statur wirkt Eneko Atxa so überhaupt nicht wie ein Küchenchef der alten Schule. Man würde bei seiner Erscheinung aufs Erste eher auf einen ausdauernden Rennradfahrer oder ­Marathonläufer tippen. Langstreckeneignung hat der 45-Jährige in jedem Fall und besitzt so immerhin schon seit zehn Jahren eine 3-Sterne-Michelin-Bewertung. Zwei Mal, 2014 und 2018, wurde Azurmendi von The World’s 50 Best mit dem Sustainable Restaurant Award ausgezeichnet. Auch alle anderen Listen und Guides waren mit Trophäen nicht knausrig.

Eneko Atxa hat Starappeal, zugleich aber auch einen sympathisch zurückhaltenden Auftritt, der sich weniger für die polternde Gruppendynamik in Kochshows eignet, dafür aber in jedem intellektuellen Gourmet-Round-Table gerne gesehen wird. Meistens geht es dabei um Aspekte der Nachhaltigkeit in der Gastronomie, ein Thema, dem sich Atxa als einer der ersten Spitzenköche seit Anfang der 2010er-Jahre ausführlich widmet. Darüber später noch mehr.

Grüne Glas-Oase
Im Azurmendi fühlt man sich wie mitten am Land, in einer grünen Oase, knapp zwanzig Autominuten von Bilbao entfernt. Das Restaurant Azurmendi, der Name ist der eigentliche Familienname des Küchenchefs, ist ein mächtiger Bau, in dem die Materialien Stein, Holz und Glas dominieren. Die Küche, von allen Seiten einsehbar, ist so groß, dass die zwanzig Mitarbeiter darin beinahe einsam und verloren wirken.

Ähnlich fühlt sich der Gast beim Einchecken in den Glaspalast. Man ist froh, den richtigen Eingang erwischt zu haben – in dem in den Hang gebauten Komplex befinden sich auch noch das Familienweingut sowie das etwas weniger elaborierte Zweitrestaurant. Im Foyer wird man eingeladen, bei einem Glas Txakoli, dem für das Baskenland so typischen Weißwein, die Empfehlung eines in die Wand eingravierten Haiku zu befolgen.

Clouds hasten away,
cars race along, come and go.
Let us linger on.

Die klassische japanische Drei-Zeilen-Lyrik passt situationsbedingt sehr gut, weil der Service einen kleinen geflochtenen Campingkoffer mit allerlei Appetithappen präsentiert, unter anderem Garnelen in der Brioche, geräucherten Aal, pfeffriges Ibérico-Brät und eine kräftigende Bouillon.

Ehe der Gast seinen Tisch im Restaurant erreicht, muss er noch in die Küche. Dort wartet an einer eigenen Station das Trüffel-Ei, eines der berühmten Gerichte von Eneko Atxa. Dafür wird einem rohen Eigelb kochend heißer Trüffelfond injiziert. Nach kurzer Wartezeit darf man … ein Holzlöffel voll umamigetränktem seidigen Schmelz, warm und kühl zugleich.

Individualistisch und intensiv im Geschmack geht es in einem Teil des Gewächshauses weiter. Je nach Jahreszeit sind verschiedene Szenerien aufgebaut. Da findet sich dann etwa im Unterholz ein raffiniert drapiertes Stück Spargel, da liegt im Miniatur-Bühnenbild eines Flussufers ein ausgezeichneter Lachs-Happen. Ja, der Hang zur Dramaturgie wird in diesem kulinarischen Parcours tatsächlich hemmungslos ausgelebt.

Hightech-Küche mit Regional-Appeal
Sobald man am Tisch im Restaurant Platz genommen hat, inszeniert bloß noch die Küche selbst. Sie tut dies innovativ, spielt mit Aggregatzuständen, Texturen und Temperaturen, ohne dabei den Eigengeschmack der Produkte und deren Herkunft zu ignorieren.

Gänseleber wird in der Zitrusfrucht so erfrischend-animierend serviert, dass man das gerne als Auftakt-Vorspeise annimmt. Die Rosenessenz mit erfrischend süßsaurem Ton ist optisch dermaßen betörend schön umgesetzt, dass niemand dieses Kunstwerk zerstören möchte.

Ein hauchdünn geschnittener roher Kalamar zeigt, dass moderne Technik nicht immer gleichbedeutend sein muss mit sphärischem Schaum und ­Aggregatsverfremdung. Erst durch die kunstvolle Schnitttechnik wird das ­Produkt überhaupt essbar. Eine geschmackliche Offenbarung in Sachen Meeresfrucht, süß und angenehm salzig zugleich. Betörend cremig und jodig schmeckt ein Gang mit unter weißem Schaum drapiertem Seeigel.

Mehr Meer ist nur schwer vorstellbar. Oder vielleicht doch? Denn dann kommen rohe Gambas, frisch von der Südküste. Aus den Schalen und Köpfen wurde eine Sauce gemacht. Dazu der blaue Rogen der Tiere, der auch optisch enorm viel hermacht. Ein klassischer Hochgenuss, für den es außer korrektem Handwerk ­keine ultramoderne ­Küchentechnik braucht.

Stammgäste kommen ins Azurmendi, weil es nach deren Ansicht hier den besten Hummer überhaupt gibt. Sie haben recht. Das prächtige Schwanzstück wird am Grill gegart, dann ausgelöst in einem Paprika-Chili-Fond serviert. Weil gerade Sommer war, gab es Kirschen dazu. Das sensationelle Hummerstück hat einen absolut perfekten Biss, es wirkt außen krustig, innen ist es mollig-glasig.

Die Speisenaufzählung aus dem Menü könnte endlos weitergehen. Es gibt auch noch umwerfende Fleischgerichte wie geschmortes Ibérico-Schwein in Form einer schillernden Muschel mit einer mächtigen Sauce an der Seite. Oder beeindruckend ­intensive Pilzgerichte. Die kunstvolle Dessertparade lässt keinen süßen ­Effekt aus, gerät mit ihrer bunten Vielfalt zum hochkarätigen Kindergeburtstag für Erwachsene, kombiniert dabei auch Schokolade mit Oliveneis.

Ein Extralob verdient der Käsewagen wegen seiner regionalen Schätze von Schaf und Ziege. Baskische Hartkäse können eine Klasse für sich sein. Erinnerungswürdig neben den gereiften Spezialitäten ein Gouda aus Ziegenmilch.

Ein Menü bei Azurmendi ist nicht das typische spanische 3-Sterne-Hightech-Klischee-Menü. Da sind bei aller Inszenierung auch sehr viel Regionalität und Terroir in einem sehr arbeitsaufwendigen und modernen Erscheinungsbild, das kaum von selbstverliebten Abstraktionen getrübt wird.

Mustergültiger Wiederverwerter
Für seine Ausbildung hat Eneko Atxa (die korrekte Aussprache geht so in Richtung „Atscha“) die Kulinarik bei den besten Männern der Region studiert. Nach der Hotelfachschule in jugendlichen Jahren formte ihn eine lange Praxiszeit bei Martín Berasategui, und auch am berühmten Holzkohlegrill von Victor Arguinzoniz im Asador Etxebarri sowie beim superkreativen Andoni Aduriz im legendären Mugaritz verbrachte Atxa jeweils einige Zeit.

2005, im Alter von 28 Jahren, startete er seine erste eigene Küche auf dem Gelände des Familienweinguts. Schon 2010 konnte Eneko Atxa zwei Michelin-Sterne einheimsen, da fiel dann auch der Startschuss für den großen Umbau des Betriebs, der 2012 Premiere hatte. Der weitläufige Glasbau inmitten grüner Hügel und Weingärten muss damals unfassbar futuristisch und abgehoben gewirkt gehaben. Die lichtdurchflutete Architektur von Naia Eguino hat auch heute noch absolut moderne Aspekte.

Nachhaltigkeit ist nicht nur im Erscheinungsbild des Gebäudes gegeben, Eneko Atxa hat von Beginn an jedes Detail des Azurmendi-Projekts Nachhaltigkeitskriterien untergeordnet.

Das bioklimatische Restaurantgebäude war das erste seiner Art auf der iberischen Halbinsel, wobei beim Bau nicht-invasive Methoden für die Arbeit mit der Umwelt, lokale und recycelte Materialien und die damals modernste Technologie in Bezug auf erneuerbare Energien zum Einsatz kamen: Photovoltaik-Solarpaneele auf Glasdächern, Speicherbatterien und Klimatisierungssysteme, die geothermische Energie nutzen. Außerdem wurden Pflanzenentwässerungssysteme, die Sammlung von Regenwasser für Bewässerungs- und Reinigungszwecke, Wasserspeicher, Ladestationen für Elektrofahrzeuge usw. ein­gebaut. Zur Anwendung kamen ausschließlich lokales Holz und recycelte Materialien: keramische Bodenbeläge, Schlacke, Kunststoffe, Glas, Aluminium etc.

Auf dem Dach des Gebäudes befinden sich Gemüsegärten, Kräuterbeete und ein Gewächshausbereich. Die Vegetation ist ein aktiver Teil des Gebäudes. Die Ausrichtung des Gewächshauses nach Süden und des Speisesaals nach Norden ermöglicht eine Wärmespeicherung im Winter und vermeidet die Notwendigkeit einer Beschattung im Sommer, zusätzlich zur Querlüftung zwischen den beiden Räumen. Der Raum wird durch ein Atrium mit einem Innen-garten organisiert, der die natürliche Beleuchtung der Küche gewährleistet und den Bedarf an künstlicher Beleuchtung reduziert.

Das Azurmendi arbeitet eng mit Produzenten in der Region zusammen. In Zusammenarbeit mit den ­Erzeugern hat das Restaurant ein ­Abholsystem entwickelt. Die Produkte werden nicht mehr von den einzelnen Erzeugern transportiert, sondern von einem einzigen Lkw, der alles in einer Fahrt abholt. Das verringert den CO2-Ausstoß durch die Reduzierung der Anzahl der Fahrzeuge. Auch kommunale Initiativen wurden von Eneko Atxa und seinem Team angestoßen. Schon seit Jahren werden die organischen Abfälle mit jenen der Stadt Larrabetzu aufbereitet und zu Kompost für eine Kreislaufwirtschaft in der Region verarbeitet.

Formidable Küche braucht glückliche Menschen
Zur Nachhaltigkeit gehört auch ein neuartiges Arbeitszeitmodell für die Mitarbeiter. „Für mich selbst ist jede Stunde in der Küche nicht Arbeit im eigentlichen Sinn, sondern Passion und Freude. Aber natürlich muss man sehen, dass sich die Zeiten verändert haben, wir das Höllentempo und die Arbeitsbelastung von einst heute nicht mehr praktizieren können. Mir liegt viel daran, dass meine Mitarbeiter entspannt, fröhlich und gut motiviert im Betrieb sind. Sie sollen hier eine echte Lebensperspektive erhalten. Man braucht glückliche Menschen, um gutes Essen zu machen. Wir sind es uns schuldig, nicht nur für den Planeten, sondern auch, sozial nachhaltig zu sein.“

Darum hat das Azurmendi Dienstag, Mittwoch und Donnerstag nur mittags geöffnet (wobei man schon drei bis vier Stunden für einen Besuch einplanen sollte). Freitags und samstags werden mittags und abends Termine angeboten. Sonntags und montags ist das Restaurant dann geschlossen.

Das sogenannte Terroir des Baskenlands ist für Eneko Atxa die perfekte Grundlage all seines Schaffens. „Diese Landschaft zwischen Meeresküste und Bergen bietet alles, was man als Küchenchef benötigt. Das alles ist mit sehr vielen regionalen Traditionen und Know-how verbunden. Jeder im Baskenland lebt dieses Erbe. Und darüber hinaus sind wir in der Region immer schon sehr offen gegenüber allem Neuen gewesen. Während anderswo eine neue Technologie noch skeptisch betrachtet wird, wird sie in den baskischen Küchen schon angewendet.“ Kulinarik liegt den Basken offenbar in den Genen, ist wohl auch identitätsstiftend. „Die Menschen hier essen ständig. Die Besessenheit von ­Essen ist enorm. Wenn wir zu Mittag essen, sprechen wir bereits darüber, was wir am Abend essen werden.“

Expansion als Kreativprinzip
Eneko Atxa hat auch während der Pandemie nicht aufgehört, neue Projekte zu starten. Mittlerweile bespielt er sieben verschiedene Restaurants. Neben dem Azurmendi und dem legeren Eneko in Larrabetzu sind da auch noch die Eneko Basque-Restaurants in Brüssel, Sevilla, Lissabon und Tokio sowie das japanisch-baskische Fusionskonzept NKO in Bilbao.
Gesamt hat Atxa so mehr als 100 Mitarbeitende, denen er auch international ­attraktive Karrieremöglichkeiten bieten kann. „Wir gehören zu den wenigen Unternehmen, die derzeit kaum von Personalmangel geplagt werden.“ Wohl auch ein Resultat der nachhaltigen Personalpolitik und der äußerst attraktiven Arbeitszeiten. Terroirgedanke und Kultur-erbe sind für Atxa ein und dasselbe. Das beweisen auch seine Initiativen wie etwa Hydrokulturen mit lokalen, vom Aussterben bedrohten Gemüsesorten. Noch recht neu ist die Keimplasmabank, untergebracht im Gewächshaus des Azurmendi-Komplexes, wodurch mehr als 400 lokale baskische Gemüsesorten in ihrer genetischen Vielfalt ­erhalten bleiben sollen.

Bei Azurmendi reicht der Nachhaltigkeitsgedanke übrigens bis ins kleinste Souvenir. Aus dem gebrauchten Fett in der Küche stellt man im Haus regelmäßig eine duftende Seife her. Ein ­kleines Stück davon, in Jute verpackt, begleitet jeden Gast auf dem Heimweg. Und auch die Visitkarten des Hauses sollen Gutes verbreiten. In das Naturpapier sind Samen von baskischen Kräutern und Blumen eingearbeitet. Mal sehen, was da noch so alles wächst. —

Adresse

Azurmendi
Legina Auzoa, ES-48195 Larrabetzu
azurmendi.restaurant
enekoatxa.com

Eneko Atxa beweist, dass Ökologie und Gourmandise kein Widerspruch sein müssen. Die Gerichte im Azurmendi entbehren nicht einer gewissen Verspieltheit, wobei auch der Gast zum Suchen aufgefordert ist. Etwa, wenn es um das Aufspüren der Feigen geht.
Was man als Gast eher nicht sieht: die Gemüse- und Kräuterbeete am Dach des Restaurants.
Sehr präsent am Tisch einer der besten Hummer, den man weltweit zubereitet bekommt.
Hell und grün umringt: So sitzt man im Azurmendi.
Blüten in der Taco-Shell verbirgt sich weißes Tuna-Tatar.