Die Einzigartigkeit füttern

Ana Roš lotet Grenzen aus. Die zwischen Slowenien und der Welt, zwischen Gastronomie und Literatur sowie Shiso-Anbau auf 800 Metern Seehöhe und der Wahl zur Staatspräsidentin.

Foto von Suzan Gabrijan
Text von Nina Wessely

Das Blau dieses Flusses ist einzigartig. Türkis, Südsee, Hellblau und Meerjungfrauen-Fischschwanz-Grün, alles gipsfüßige Assoziationen. Socˇafarben! Ebenso verhält es sich mit den unfassbar vielen und schönen Grüntönen, die den Fluss auf beiden Seiten als sanfte Wald- und Wiesenhügel einsäumen. Auf so einer Wiese steht sie: Ana Roš, 2017 von der The World’s 50 Best Restaurants-Liste als beste Köchin der Welt ausgezeichnete. Die Haare kurz und hellblond, eine eng an­liegende Jeans, ein unaufgeregtes blaues T-Shirt. Die Blicke sind auf die Köchin gerichtet. Es ist das Küchenmeeting vor dem Mittagsservice, das die Slowenin gerade abhält. Ab und an ist die tief­grüne Wiese neben ihrem rosaroten Restaurant im Dörfchen Kobarid dafür genau richtig. Ebenso wie für ihre Yoga-Sessions zwischendurch. Es ist auch ein guter Platz: unter einem satter Boden, auf dem Hahnenfuß, Klee und Kamille wachsen. Den Berg Krn im Rücken, der aus dem Triglav-Nationalpark als graue Spitze seinen Schatten vorausschickt. ­Geradeaus ein bewaldeter Hügel, auf den Roš ihre Gäste gerne mit einer Flasche Champagner im ­Gepäck schickt. Blumen auf der Bluse. Ana Roš hat ihr T-Shirt gegen eines aus ihrer ei­genen Mode- bzw. Uniformlinie getauscht. Die floralen Muster auf Shirt und Kimono der Mannschaft stammen aus der Feder der slowenischen Designerin Matea Benedetti. Die Inspiration dazu aus den nahe ­liegenden Weingärten und besagten Wiesen und ­Wäldern. Ana Roš präsentiert sich als stolze, international denkende Slowenin, in deren Küche sich das Socatal, ihre Lebenserfahrung und Persönlichkeit spiegeln. Zweifel und Unsicherheit prägen auch ihren Alltag. Diesen Kampf mit sich selbst öffentlich ausgetragen zu haben und dabei zum Vorbild geworden zu sein, ist eine Besonderheit, die Ana Roš ausmacht. „Heute kann ich das, was ich vor einigen Jahren gekocht habe, niemals mehr im Restaurant anbieten. Schon gar nicht essen. Das bin nicht mehr ich“, sagt Ana Roš. Wer Ana kenne, der wisse, dass die Gerichte genauso sind wie sie, sagt Manca Istinicˇ. Sie steht der Köchin als Assistentin, Freundin und Struktur­geberin zur Seite. Würzig, pikant und geradeheraus präsentieren sich demnach auch die nixtamalisierte Bergmais-Tortilla mit Drežnica-Lamm und Pilz-Mole sowie Seeforelle mit Apfel und Kren und geröstetem Hefepulver aus dem Menü des Zwei-Sterne-Restaurants. Von subtiler Zurückhaltung halten Roš und ihre Gerichte wenig.

Die beste Köchin der Welt
Für ihre Leistungen als Gastronomin und Köchin bekommt sie, spätestens seit sie als „Beste Köchin der Welt“ ausgezeichnet wurde, Anerkennung internationaler Natur. Sie musste für ihren Erfolg aber auch viel Kritik einstecken. Zuletzt von der slowenischen Regierung, die mit ihrer Art, sich für die Gastronomie zu Coronazeiten stark zu machen, nicht einverstanden war. Dabei hätten sie alle nur nicht sterben wollen. Ein offener Dialog sei kaum möglich gewesen, sagt Roš. Sie macht keinen Hehl daraus, dass ihr Weg kein einfacher ist. Gepflastert mit Selbstzweifeln, Unmengen an Arbeitsstunden, Erschöpfung, Unverständnis und Tränen. „In meinem Leben gab es so viel Regen“, sagt Ana Roš. Ihre erste Tätowierung sei daher folgender Satz gewesen: „Nach jedem Regen kommt ein Regenbogen.“ Das unmittelbar, bevor sie sich „Die Kraft ist in dir und nicht in anderen“ unter die Haut stechen ließ.

Es scheint, als sei Ana Roš nun, kurz vor ihrem 50. Geburtstag, in der Lebensphase angelangt, in der sie zufrieden auf ihre Erfolge zurücksieht. Ohne dabei mit unbändigem Tatendrang nach vorne zu blicken. In gastronomischen Projekten gesprochen, sind das noch im Jahr 2022 die Eröffnung ­eines Bistros, einer Bäckerei sowie die Vollendung ihres zweiten Buchs. Ein Fischrestaurant sowie eine Cocktailbar, ebenso in Ljubljana, sind ebenso in Planung. Zeitgleich scheint das Leben ihr zu zeigen, dass sich ihre Tränen und der Schweiß ausgezahlt haben. Daher hält sie heute auch nicht mehr hinter dem Berg mit ihrer Empfehlung, nur ja authentisch zu sein. Einzigartig!, so sehr andere (wer auch immer das sein möge) das auch bekritteln mögen.

Sie, die sich hochschwanger selbst das Kochen in einem entlegenen Tal Sloweniens beigebracht hat, Mutter zweier Kinder ist und das Restaurant ihrer Schwiegereltern zu einem der bekanntesten Europas und dem höchstausgezeichneten Sloweniens ­gemacht hat, sagt: „Liebt eure unperfekten Seiten. Das ist das, was euch besonders macht.“ Als Köchin der Hiša Franko serviert sie ihren Gästen diese Erkenntnis als Happen von Karottenkebab mit wilder Magnolie und Panch Phoron oder Mandel, Feigenblatt und Wassermelone. Ein Schwedenofen in jedem Gastraum (Roš: „Die Wärme von Feuer ist wie keine andere“), eine Katze namens Berta und ein Hund namens Prince, die wie selbstverständlich mit zum Begrüßungskomitee gehören, eine Trauerweide mit Blick auf die Wiese, die bis zum Nationalpark zu reichen scheint, rote Wände innen, rosa Putz außen, bis hin zu Details wie Gläser vom ­befreundeten Winzer Josko Gravner machen das Gesamterlebnis Hiša Franko aus. Ana Roš lädt mit jeder Faser und jedem Detail ihres Restaurants ein, sie, ihr Team und ihre Heimat, das Socˇatal, kennen, lieben und kosten zu lernen.

Kulinarische Jam­ses­sions
2022 wird dabei das letzte Jahr sein, in der die Hiša Franko in ihrer klassischen Form als Restaurant besteht. Zu groß ist die Lust, ihre vielseitigen Ideen in die Tat umzusetzen. Zu präsent die Erkenntnis, dass Ana Roš das, was sie sich vornimmt, gelingt, und die Inspiration, die sie damit für andere wird, zu leben und auszukosten.

Hiša Franko wird ab 2023 ein Ort der permanenten kulinarischen Jam­ses­sions werden. Köche aus aller Welt sollen und wollen im Socˇatal mit ­Karotten, Marmorataforellen und Gemüse aus 800 Metern Seehöhe jammen. Letzteres kommt wiederum von den beiden Agrarwissenschaftern Jeanne und Matteo, die über der Hiša Franko ­Gemüse anbauen. Eigentlich wollten die beiden Naturwein machen. Dazwischen kamen das Zusammentreffen mit Ana Roš und der Blick auf Kobarids potenzialgefüllte Erde. „Unser Shiso ist zum Niederknien“, jubelt Ana Roš, die neben ihren gastronomischen Unternehmungen in Ljubljana auch ihr internationales Produzentenprojekt vorantreiben möchte. Sie macht es vor, arbeitet mit lokalen Landwirten eng zusammen. Zum einen für ihr Restaurant, Hiša Franko, zum anderen aber, um Supermärkten und deren Kunden zu zeigen, wie aus vermeintlich sekundären Gemüse­teilen oder -qualitäten Lebensmittel werden, die massentauglich und hochwertig sind. Ein Projekt, das sich weltweit anwenden ließe und wohl bald auch werde, erzählt Roš.

Ein politischer Berater, angetan von der Küche Roš’ und der Welt Hiša Franko, habe ihr sogar den Sieg attestiert, würde sie zur Präsidentenwahl in Slowenien antreten, erzählt die ­Köchin. Nicht in einem Schwall aus Euphorie, sondern als Erkenntnis einer Analyse ihrer Unternehmens- und Persönlichkeitsstruktur. Tritt Ana Roš eines Tages als Präsidentschaftskandidatin an, gewinnt sie die Wahl wohl möglicherweise. Noch aber zeigt die knapp 50-jährige Slowenin von ihrem rosaroten Restaurant aus, dass Grenzen überwindbar sind und dass, auch wenn nicht alles, doch sehr vieles möglich ist. Wie auch, dass ein Fließtext als Interview endet, um die vor Tatendrang sprudelnde Ana Roš, das per­sonifizierte Socˇatal, Köchin, Mutter, Autorin, Tochter einer Journalistin und eines Dorfarztes, mit ihren eigenen Worten sprechen zu lassen.

Ana Roš, wie macht man ein unbekanntes Wirtshaus zu einem weltweit bekannten Restaurant?
AR: Die Welt ist heutzutage von Erfolgsmodellen geprägt, die keine Einzigartigkeit mehr zulassen. Es gibt immer weniger einzigartige Menschen. Wir alle nutzen die gleichen Schönheitstricks, um attraktiv oder interessant zu wirken, und sehen deshalb alle gleich aus. Und wir setzen die gleichen Karriereschritte. Das macht nicht erfolgreich.

Was also dann?
Einzigartigkeit ist, sich genau so zu akzeptieren, wie man ist. Insbesondere die nicht perfekten Seiten an uns. Kaschieren wir diese, verlieren wir ­unsere Persönlichkeit. Und nur sie bringt uns langfristig zum Erfolg. Hiša Franko ist ein Ort, ein ­Restaurant, das nur da, wo es ist, und so, wie es ist, existieren kann.

Das klingt so einfach. Ist es das für Sie?
Wenn ich Menschen beobachte, macht mich das oft traurig. Kaum jemand hat heutzutage den Mut, seine Persönlichkeit durch die Art sich herzurichten, zu sprechen und zu handeln auszudrücken – so wie ich es mache. Aber ja, es ist auch für mich die schwerste Übung, bei mir zu bleiben.

Wie bleibt man bei sich und seiner Persönlichkeit?
Wenn ich meine Tochter betrachte, danke ich Gott, dass sie so anders ist als alle anderen. Ich nähre ihre Andersartigkeit jeden Tag, indem ich ihr sage: Denke, wie du denkst, sei, wie du sein willst. Du denkst, dein Gesicht ist nicht perfekt, das ist, weil es das auch nicht ist. Sei du selbst, eines Tages wirst du stolz darauf sein.

Ist, seine Persönlichkeit zu behalten, für Frauen und Männer gleich schwer bzw. leicht?
Ich glaube, das ist für Frauen ein noch größerer Kampf als für Männer. Wir sagen immer, die Welt ist heute vielgerechter. Ich glaube, es hat niemals mehr Geschlechterunterschiede gegeben als heute. Wir Frauen leben impermanenten Kompromiss, nochmehr, als es die Männer tun.

Welche Art von Kompromiss meinen Sie?
Ich meine, während ich Ihnen dieses Interview gebe, hoffe ich, dass meine Kinder in der Schule brav lernen, im Mittagsservice alles glatt läuft und auch meine weiteren Projekte ohne Probleme voranschreiten. Aber ich kann mich nicht teilen und ich brauche meine Stunden an Schlaf, um zu funktionieren.

Das klingt, als sei Organisation das Um und Auf. Fällt Ihnen das leicht?
Wir Frauen müssen aufhören, dauernd allen genügen zu wollen, Karriere und Familie gleicher­maßen. Fehlschläge passieren jedem. Immer und immer wieder. Dann auch noch ein schlechtes ­Gewissen zu haben, hilft niemandem weiter. Als Mutter hätte ich mir nie verziehen, wenn ich meine Kinder verhauen hätte. Und dennoch musste es so weit kommen, dass Eva-Clara mich als Fünfjährige mit dem Namen des Babysitters ansprechen musste, bis ich merkte: Ich muss etwas ändern. Meine Kinder brauchen meinen Einfluss.

Und Sie haben Stunden reduziert?
Ich habe Andrea, die Babysitterin, rausgeworfen. Es beginnt alles in unserer Kindheit. In der Art, wie wir unsere Kinder erziehen, welche Werte wir als Eltern vermitteln. Meine Kinder haben mir eine Lektion darin erteilt. Auf positive und negative Art und Weise. Meine Kinder sind nicht perfekt, aber ich liebe sie, wie sie sind.

Und das macht es Ihnen leichter, authentisch zu bleiben?
Jeder sollte sich akzeptieren, wie er ist. Das verändert Beziehungen, Erfolg und Freundschaften. Das ist etwas, das man auch im Erwachsenenleben lernen kann. Natürlich habe ich genau wie andere Frauen dunkle Tage voller Zweifel und Ängste. Um mich an diesen Tagen an mich zu erinnern, habe ich mir „Die Kraft liegt in dir und nicht in anderen“ tätowieren lassen. Ebenso wie „Nach jedem Regen kommt ein Regenbogen“. In meinem Leben hat es so viel Regen gegeben. Die Anerkennung durch die beiden Sterne des Guide Michelin, 2021, kam, als ich mich persönlich an einem sehr schwierigen Punkt in meinem Leben befand.

Sie haben immerhin schon Jahrzehnte, bevor die Auszeichnungen kamen, Gastronomieim Stil von heute gelebt.
Als wir begonnen haben, mit unserer Arbeit, sind wir unserer Intuition gefolgt. Ich war mir nicht ­sicher, ob wir überhaupt einen Stern bekommen. Weil wir so anders sind. Hier ist eine Katze, die überallhin darf, ein Hund. Es gibt Gerichte, die weder Kaviar noch Lobster beinhalten, aber kraftvoll wie die Hölle sind. Ich meine, mit den Techniken, die wir anwenden, können wir eine Kartoffel zum besten Gericht der Welt machen.

Das beste Gericht der Welt … Bescheidenheit führt also anscheinend nicht zum Erfolg?
Wenn du einzigartig bist, bist du anders, und das ist schön. Und schwer. Nehmen wir mein Selbstbewusstsein. Wenn ich durch die Straßen von Ljubljana gehe oder sogar New York, gratulieren mir Menschen zu unserem Erfolg. Ich kann das nicht an jedem Tag fühlen, annehmen oder wirklich ­glauben. Ich fühle mich nicht erfolgreich und an schweren Tagen besonders nicht. Dennoch mache ich weiter.

Weil der leichte Weg für Sie zu langweilig ist?
Das ist eine Eigenschaft, die erfolgreiche Menschen ausmacht: Sie sind niemals zufrieden mit dem, was sie tun. Sie hören nie auf, noch besser werden zu wollen. Auch wenn ich oft unverstanden bin, sehr oft von Slowenen, die im Gegensatz zu unseren ­internationalen Gästen noch niemals einen Fuß ins Socˇatal gesetzt haben. Eines Tages ist alles slowenisches Erbe. Ich hoffe, dann wird es wertgeschätzt und Slowenien vielleicht eine Food-Destination. Bis dahin ist noch viel zu tun. —

Infos & Adressen

Hiša Franko
Das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Restaurant liegt im slowenischen Socatal. Von Wien fährt man mit dem Auto in weniger als fünf Stunden dorthin, von Graz aus sind es etwas mehr als drei. In der 2022-Liste der World’s 50 Best belegt Hiša Franko Platz 34. Ana Roš kredenzt hier Produkte aus dem Socatal unter Anwendung ­internationaler Techniken.
Staro selo 1, 5222 Kobarid, Slowenien, T +386/5 389 41 20, hisafranko.com

Hiša Franko, Übernachten
In dem Landgasthof aus dem 19. Jahrhundert kann man auch übernachten. Im selben Gebäude, in dem auch das Restaurant untergebracht ist, stehen zehn Doppelzimmer zwischen 160 und 180 Euro die Nacht inklusive Frühstück zur Verfügung.

Ana Roš Bäckerei, Ljubljana
Im September 2022 eröffnet Ana Roš in Zusammenarbeit mit lokalen Produzenten eine Bäckerei nahe der Fußgängerzone in Ljubljana. Gebacken wird ausschließlich vor Ort, mit alten Mehl- und Getreidesorten.
Slovenska Straße, 1000 Ljubljana

Ana Roš Bistro, Ljubljana
Das Bistro, das im November 2022 seine Pforten öffnet, bietet nahbare Küche unter Verwendung slowenischer Produkte. Für Ana Roš einer der ersten Schritte zur Food-Destination. Mit dem Bistro möchte sie zeigen, dass gutes Essen aus hochwertigen Zutaten nicht teuer und elitär ist.
Copova Straße,1000 Ljubljana

AR&T Boutique, Ljubljana
Der Gourmetshop, den Ana Roš gemeinsam mit dem Supermarkt Tuš eröffnet hat, bietet slowenische Produkte im Zentrum von Lju­bl­ja­na.
Mo.–Sa. 8–20 Uhr, Pogacarjev trg 1, 1000 Ljubljana

Küchenmeetings werden bei Ana Roš häufig im Freien abgehalten.
Die Perfektion des Unperfekten: Karottenkebab, wilde Magnolie & Panch Phoron
Rote Wände, Schwedenöfen und viele geschmackvolle Details machen die Hiša Franko aus.
So schmeckt das Socatal: Käse-Bienenwachs-Fondue, Brennnesselgnocchi, Birne & Walnuss.
Die floralen Muster der Hiša Franko-Uniformen, hier an Sommelière Maria Anna Ogl, sind von den umliegenden Wiesen und Weingärten inspiriert
© Uniforms by Primož Lukežič