Von wegen Kräuter zupfen
Dem Volksmund zufolge sind Lehrjahre keine Herrenjahre. Vor allem in der Gastronomie ist Ausbildung häufig gleichbedeutend mit zu viel Arbeit und zu wenig Geld. Bisweilen auch: Kräuter zupfen. Dass es anders geht, beweisen zwei von Köchen initiierte Stipendien. Neben Idealismus spielt auch Eigennutz eine Rolle.
Wohl keinen Satz sagt Kim Bechinger an diesem Tag öfter als: „Das ist frittierter Palmkohl.“ Die dazu servierte sommerliche Gemüsequiche mag nicht so recht zum strömenden Regen vor den Fenstern des Andelsbucher Werkraums passen, in dem an diesem Tag das kulinarisch-politische FAQ-Festival stattfindet. „Eintopf wäre besser gewesen.“ Stattdessen schneidet sie Stücke von einer meterlangen Quiche, während ihre Kollegin Elena Kubiena, ebenfalls eine gastronomische Quereinsteigerin mit Taubenkobel-Erfahrung, Salat dazugibt. Palmkohl nicht vergessen! Bechinger trägt einen messerscharf geschnittenen Dreiviertelpony, Goldpiercings und eine auffällige Brille, dazu eine pampelmusenfarbene Kochschürze und Sneakers. Trotz des Wetters und der sich quer durch den Ausstellungsraum ziehenden Schlange ist sie bestens gelaunt. Stressresistenz dürfte etwas sein, das sie während ihrer kulinarischen Wandermonate gelernt hat.
Healthship heißt das von Lukas Mraz, Felix Schellhorn und Philip Rachinger gemeinsam mit der Wiener Agentur Friendship initiierte Projekt zur Förderung einer „unabhängigen, ungefilterten und eigenwilligen Form der Gastwirtschaft“, in Anlehnung an deren Healthy Boy Band. Auslöser war, ganz eigennützig, die Post-Corona-Situation mit ihrem drohenden Personalmangel, wie der in Wien kochende Mraz am Telefon bekennt. „Wenn Jungköche hierzulande zu oft den Betrieb wechseln, ist das verdächtig. In Holland, wo ich meine Ausbildung gemacht habe, gehört das Hineinschnuppern hingegen dazu.“ Siebzig bis achtzig Bewerbungen hätten sie bekommen, darunter viele von Frauen und einem Typen, der Oligarchenautos bombensicher macht („Quereinsteiger sind oft die besten.“) Rund zwei Dutzend mussten ein Eier-gericht probekochen, darunter eine vegane Köchin, die, ohne es probiert zu haben, das beste Omelette servierte, das Mraz je hatte. Gewonnen hat allerdings die von der deutschen Bodenseeseite stammende Bechinger, mit einem Sauce-béarnaise-Shot.
An ihr erstes Küchenpraktikum als Vierzehnjährige hat die Stipendiatin desaströse Erinnerungen: „Mir wurden die Aufgaben zugeschanzt, auf die andere keinen Bock hatten.“ Am ersten Healthship-Tag im oberösterreichischen Mühltalhof musste sie Karpfenbäckchen auslösen und Erbsenschoten pulen. „Die Stimmung war das Gegenteil von Kitchen Impossible. Philip Rachinger ist kein Saufkobold, wie es in der Kochserie manchmal den Anschein erweckt, sondern ein strukturierter Vollprofi“, wie sie nach der Quiche-Ausgabe an einem Wassereis lutschend bemerkt. „Krass jung“ seien alle gewesen. Ganz anders beim wilden, stets ausreservierten Mraz & Sohn. Das Durchschnittsalter des topeingespielten Teams sei deutlich höher, die Aufgabenteilung viel klarer gewesen. Gute Erinnerungen habe sie an das täglich von jemand anderem gekochte Personalessen, zu dem sie Hühnerfrikassee mit Erbsenreis beisteuerte. Zur Abwechslung regierte an der dritten Station mehr oder weniger das Chaos. Erst kurz vor ihrer Ankunft hatte Felix Schellhorn das Zepter seines Vaters Sepp übernommen, „man merkte, dass er alles anders machen will. Mit der Anleitung zur Selbstständigkeit klappte es nur bedingt.“ Nur zu dritt waren sie in der Seehof-Küche, darunter ein Lehrling.
An einem allgemein bestehenden Problem in den Küchen dieses Landes kann auch die „woke“ Healthy Boy Band nichts ändern: Frauen landen meistens in der Patisserie, so auch Bechinger, obwohl das eigentlich nicht ihrem Interesse entspricht. So bleibt ihr vom Mühltalhof vor allem ein Kapuzinerkresseeis in Erinnerung, vom Mraz & Sohn ein Germknödel mit Feigenblattsauce und Sumach und ein Linzer Kuchen vom Seehof. Hat sie etwas vom oft genannten rauen Ton mitbekommen, gar Sexismus erlebt? „Von wegen Arschlochküchen: In allen drei Betrieben war der Umgang sehr respektvoll. Klar fiel mal ein unnötiger Kommentar, und vor allem nach Schichtende kam beim ein oder anderen der Dorftrottel oder Macho raus. Zum Glück kann ich mich ganz gut wehren.“ Mit 1.400 Euro netto habe sie zudem deutlich mehr Geld bekommen als der Durchschnittslehrling und durfte vielfältigere Aufgaben übernehmen, „wobei ich gerne mehr Basics wie Saucenzubereitung gelernt hätte. Auch hätte ich mir mehr Platz im Healthy Boy Band-Dreiergespann gewünscht – es gibt kein einziges gemeinsames Foto von uns – und mehr Kommunikation. Auf ein Feedbackgespräch warte ich bis heute.“ Genossen habe sie ihre Zeit mit den Healthy Boy Band-Jungs trotzdem.
Als rundum gelungen empfindet sie ihre Erfahrungen im Zürcher Gül, wo sie nach dem Seehof Station machte. „Da durfte ich mich am meisten ausprobieren, außerdem war das sowohl vom Alter als auch Geschlecht her durchmischte Team superfreundlich. Wenn jemand einen Fehler machte, wurde er nicht angeschnauzt, sondern man klärte das nach dem Service.“ Wie und wo es für sie weitergeht? Erstmal nach Berlin, wo sie ein weiteres Stipendium in Anspruch nehmen darf, dieses Mal bei einem aus Kö-chen und Produzenten bestehenden gemeinnützigen Verein namens Die Gemeinschaft. Bei der Vienna Design Week wird sie sich um ein Pop-up-Curry-Lokal kümmern, und anschließend geht es vielleicht zurück in die Küche des Mraz & Sohn, dann als vollwertige Mitarbeiterin.
Das staatliche System lässt sich lieber Zeit
Mit der gastronomischen Ausbildung ist das so eine Sache. In Österreich hat sich das duale System bewährt, in Form einer dreijährigen, auf Küche und Berufsschule verteilten Ausbildung. Auf dem Stundenplan stehen Lebensmitteleinkauf, Preiskalkulation, Speiseplankonzeption, Organisation von Arbeitsabläufen und Gästeberatung. Die deutschen Nachbarn nennen, Schreck lass nach, als mögliche Tätigkeitsfelder des Weiteren „3D-Druck, Serviceroboter und Smart-Kitchen-Systeme“. Ein wenig mehr Zeitgeist würde allerdings auch Österreich gut stehen. „Topgastronomen fordern Kochlehre ohne Schnitzelzwang“ lautete vergangenes Jahr eine Schlagzeile, bezogen darauf, dass nur österreichisch kochende Betriebe ausbilden dürfen, nicht hingegen indische, italienische oder chinesische. „Mindestens siebzig Prozent heimische Gerichte auf der Karte“, so lautet die Vorgabe der Wirtschaftskammer. So gibt es beispielsweise im Mochi-Imperium bis heute keine Lehrlingsstellen, weil dort Bao Buns statt Beuschel im Topf landen. Revolutionär mutet hingegen an, was ab nächstem Jahr angesetzt ist: der Ausbildungsberuf „Vegetarische Kulinarik in der Gastronomie“. Prominente Fürsprecher sind der vegan kochende Siegfried Kröpfl und Paul Ivic´, der in seinem mit Hauben und Sternen dekorierten Tian schon seit eh und je auf Gemüse setzt. Von „völligem Unsinn“ hingegen sprach Mario Pulker, Wirtschaftskammer-Spartenobmann für Gastronomie: „Was bitte sollte ein veganer Koch drei Jahre lang lernen?“ Auch Themen wie Nachhaltigkeit und biologische Landwirtschaft tauchen praktisch nicht im Lehrplan auf. Kein Wunder, dass viele die aktuelle Ausbildung als nicht mehr zeitgemäß empfinden.
Dass Köche die Sache selbst in die Hand nehmen, indem sie Nachwuchstalente gezielt in Form von Praktika oder Stipendien fördern, überrascht also nicht. Heinz Reitbauer fordert im Anschluss an die Lehre eine Art weiterführende Fachhochschule für Lehrlinge aus der Koch- und Kellnerbranche zur Vertiefung von gastronomischem Wissen. Das Hamburger Zweisternerestaurant 100/200 bietet mit der Brandherd Esskultur Akademie eine dreijährige „Schulung“ – Ausbildung darf es aus rechtlichen Gründen nicht heißen –, die „klassisches Handwerk und ein Verständnis für alle Bereiche der Gastronomie vermitteln“ will. Ein Stipendium der besonderen Art vergibt die römische Villa Massimo. Eigentlich richtet es sich an Kunstschaffende, vergangenes Jahr kam erstmals ein Koch in den Genuss, der Kölner Daniel Gottschlich.
Was ist der Grund für so viel Engagement? Weltrettung? Eigennutz? Andreas Caminada winkt ab. „Von den achtzig ehemaligen Stipendiaten sind gerade mal vier in meinem Betrieben geblieben. Uns geht es darum, Impulse zu schaffen, Verantwortung zu übernehmen, etwas zurückzugeben. Was die Leute anschließend machen, bleibt ihnen überlassen.“ Kaum jemand geht in Sachen Nachwuchsförderung so systematisch vor wie der Schweizer Starkoch. 2015 gründete er gemeinsam mit seiner Frau Sarah die Uccelin Foundation, um „der kommenden Gastronomengeneration Flügel zu verleihen“, wie es auf der Website heißt. Fünf Monate lang schnuppern die Stipendiaten in sieben selbst gewählte Partnerbetriebe hinein. Dazu zählen siebzig Toprestaurants wie The Jane, Zilte, Geranium, Blue Hill at Stone Bars und Central, genauso wie Bier-, Schokoladen- oder Keramikproduzenten. Außerdem machen die zwanzig Begünstigten im Schloss Schauenstein Station, Andreas Caminadas eigenem Dreisterner. „15.000 Franken kostet uns das im Schnitt pro Person, dazu gehören Visa, Unterkünfte und ein Sackgeld, macht 300.000 Franken pro Jahr“, rechnet der bestens aufgelegte Caminada in einem Videointerview vor. Das Geld komme von privaten Gönnern ebenso wie Golf- und kulinarischen Charity Events wie einem Genussmarkt sowie Four-Hands-Dinnern mit dem Who’s who der internationalen Kochelite, von Joan Roca und Jan Hartwig über Ana Roš und Clare Smyth bis hin zu Massimo Bottura. Im November gibt sich Tanja Grandits die Ehre, einen Monat später werden Dominique Crenn und Björn Frantzén auf Schloss Schauenstein zu Gast sein. Abgesehen davon gehen von jedem dort und im am Bodensee gelegenen Mammertsberg verkauften Menü zwei Franken an die Stiftung. Von einem fünftägigen Zürcher Kinofestival mit kulinarischer Begleitung sei man hingegen abgekommen: zu aufwendig.
Next-Level-Stipendium
Bewerben kann sich jeder unter fünfunddreißig mit mindestens fünf Jahren Erfahrung in der Gastronomie. „Zwischen sechzig und hundert Bewerbungen bekommen wir pro Jahr, aktuell sind Köche gegenüber Servicepersonal in der Überzahl, genauso wie Männer“, so Caminada, der sein Programm ausdrücklich nicht als Kritik am Schweizer Ausbildungssystem verstanden wissen will, das sei nämlich tadellos. Eine der diesjährigen Stipendiatinnen ist die Gastgeberin Eva Baumgartner, die Stationen beim Winzer Markus Ruch, einem Kombucha-Produzenten und einer Kaffeerösterei sowie in den Restaurants Quintonil und Memories machen wird, ein anderer der Koch Roman Kirchmeier. In wenigen Wochen geht es für ihn zu den Sühringzwillingen nach Bangkok, anschließend in eine Sennerei. „Natürlich ist eine Woche zu kurz, um ein Käser zu werden, trotzdem hoffe ich auf den Aufbau eines Grundlagenwissens, auf das ich später in meiner Arbeit als Koch zurückgreifen kann“, verrät der 25-jährige Turgauer per E-Mail. Ganz bewusst habe er sich herausfordernde Stationen ausgesucht, wo beispielsweise kaum Englisch gesprochen werde. Zu seinen bisherigen Learnings zähle, in jedem Betrieb so zu arbeiten, als würde er eine Festanstellung anstreben: „So fasst das Team Vertrauen, teilt seine Expertise und überträgt einem viele verschiedene Aufgaben.“
Abgeschlossen wird das Uccelin-Stipendium in Form eines schriftlichen Berichts und eines zum Verkauf angebotenen Produkts. Der 24-jährige Ryan Oppliger etwa präsentierte gerade in Zusammenarbeit mit einer Zürcher Bar einen „Pomodori secchi Gimlet“, andere Alumni ein Sauerteigbrotset, einen Kombuchaansatz, einen Raumduft oder einen Bottled Cocktail. Und dann? Manche gehen zurück in ihren alten Betrieb, andere heuern bei einer der durchlaufenen Stationen an, wieder andere machen sich selbstständig. So wie Helena Jordan aus dem ersten Uccelin-Jahrgang. Nach Stationen bei Stucki, Blue Hill und Per Se betreibt die Gault-Millau-Sommelière des Jahres seit 2023 im niederösterreichischen St. Valentin das Café Capra. Auch Magdalena Matt wagte gemeinsam mit ihrem Partner und Mitstipendiaten Jason Haran die Selbstständigkeit und eröffnete im vorarlbergerischen Götzis die Patisserie Maja. „Während meiner Uccelin-Zeit habe ich Kontakte geknüpft, an die ich mich noch heute mit fachlichen und betrieblichen Fragen wenden kann, was als Jungunternehmerin sehr wertvoll ist“, so die 28-jährige Vorarlbergerin per E-Mail. Auch gewisse Techniken und Arbeitsabläufe hätten sich bewährt. Als besonders bereichernd empfand sie den Kurs beim Schokoladenhersteller Felchlin. Leicht sei die Zeit in den Profiküchen nicht immer gewesen: „In manchen Restaurants stieß ich in Sachen Arbeitspensum an meine Grenzen. Zum Glück liebe ich Grenzerfahrungen.“
Stichwort Grenzen: Die zu wahren ist bei herkömmlichen Praktika nicht leicht. Vor allem ambitionierte Köche sammeln gerne Erfahrungen in weltweiten Spitzenküchen, oft in Form unbezahlter Stages. Sieht super aus im Lebenslauf, bedeutet
in der Realität allerdings oft tage- oder wochenlang dieselbe Aufgabe. Das Noma beispielsweise hätte ohne die Armee unbezahlter Praktikanten nicht funktioniert. Ein Koch aus L.A. erinnert sich daran, dass vier Praktikanten nichts anderes taten, als Abend für Abend die Fasern aus einem Kalbsnacken zu friemeln. Sowohl Mraz, Rachinger und Schellhorn als auch Caminada wollen andere Wege gehen. Statt „lediglich Kräuter zu zupfen“ sollen dessen Stipendiaten so gut wie möglich in den Ablauf eingebunden und ordentlich entlohnt werden. Die Idee zu seiner Stiftung speist sich übrigens aus Caminadas eigener Biografie. Mit neunzehn verschlug es den frisch ausgelernten Koch für ein Jahr nach Vancouver. „Mein Gastvater arbeitete als Gourmetlieferant, durch ihn hatte ich die Chance, jeweils einen Tag lang in verschiedenen Küchen mitzuarbeiten. Jede Station hat mir die Augen geöffnet. Dieses Gefühl möchte ich weitergeben.“ —
„Wenn Jungköche hierzulande zu oft den Betrieb wechseln, ist das verdächtig. “
Lukas Mraz