Die Stadt mit den vielen Namen

Wegen ihrer zahlreichen Eigenschaften hat Bologna Beinamen wie etwa „die Fette“, „die Gelehrte“ und „die Rote“. In jedem Fall zählt Bologna zu Italiens schönsten und sehenswertesten Städten. Und sie gilt vielen auch als jene, in der man am besten isst.

Text von Georges Desrues

Mit Schrecken erfuhren die Bologneser im Oktober des Vorjahres, dass an einem der beiden schiefen Türme, den Wahrzeichen ihrer Stadt, ungewöhnliche Schwingungen gemessen wurden. Techniker bezeichneten den Zustand des mittel-alterlichen Bauwerks gar als „hochgradig kritisch“ und forderten Maßnahmen zu seinem und dem Schutz der Passanten. Die Stadtverwaltung reagierte umgehend, der betroffene Turm Garisenda wurde genau wie der daneben stehende Asinelli für Besucher gesperrt, der Autoverkehr in den umliegenden Gassen eingestellt, der gesamte Platz mit einer fünf Meter hohen Mauer aus Metallcontainern beschwert. Besonders attraktiv ist die Übergangslösung freilich nicht, doch zum Glück hat die Hauptstadt der Region Emilia-Romagna ja auch noch weitere Wahrzeichen zu bieten. Darunter etwa die seit dem Jahr 2022 als UNESCO-Weltkulturerbe geführten Laubengänge aus verschiedenen Jahrhunderten; sowie die ausgeprägte Liebe zum Essen, die in Bologna noch etwas präsenter ist als überall sonst in Italien und die laut Umfragen für viele Besucher einen der Hauptgründe für ihren Aufenthalt bildet. Um sich ein Bild von der lokalen Essbegeisterung zu machen, sind es von dem Container-Berg nur ein paar Schritte.
Gleich um die Ecke beginnt das Viertel namens Quadrilatero, in dessen engen Gassen spätestens seit dem Mittelalter Markt gehalten wird. Im Laufe der Jahrhunderte verwandelten sich die Stände in Geschäfte, die zum Teil seit Generationen von denselben Familien betrieben werden. Ihre Auslagen und Theken versinnbildlichen, warum einer der Beinamen Bolognas „la grassa“, die Fette, lautet.

Allerorts stapeln sich Salamis und Mortadellas, türmen sich Parmesan- und Provolonelaibe, von den Decken hängen Prosciutti und Culatelli, Händler schaufeln Tortellini und Tortelloni, stechen Lasagne aus großen Blechen und schöpfen Ragout. Von dem in Italien so hochgehaltenen Mythos der Cucina povera, der Armeleuteküche, ist hier nichts zu spüren. Alles im Quadrilatero vermittelt Üppigkeit, Überfluss und bürgerlichen Wohlstand. Dem auch in Bologna längst grassierenden Touristenboom ist zu verdanken, dass die meisten der Läden in den letzten Jahren auch als Imbisse doppeln. So gut wie alle Greißler stellen Tische und Hochtische in die engen Gassen und verabreichen nun Aufschnitt und Käse. Eine dem Wiener Naschmarkt ähnliche Entwicklung, die der Stadt mit dem Selbstbild als kulinarische Hauptstadt Italiens einen neuen, nicht gerade schmeichelhaften Beinamen einbrachte. Nämlich „città dei taglieri“, also Stadt der Schneidbretter beziehungsweise Brettljausen. Außerdem sieht man jetzt immer öfter Tortellini und Tortelloni in Stanitzeln oder Bechern, die als traditionelles Streetfood angeboten werden, was sie freilich niemals waren.

Ein dazu völlig konträres Programm fährt die Osteria del Sole, die seit dem 15. Jahrhundert in einem Winkel des Quadrilatero liegt und eine Osteria im ursprünglichen Sinn ist. Was bedeutet, dass sie überhaupt kein Essen, sondern ausschließlich Getränke serviert. Allerdings kann man, wie in einer derartigen Ur-Osteria üblich (und genau wie in früheren Zeiten beim heimischen Heurigen), seinen Prosciutto, seine Mortadella und sein Panino mitbringen und um Schneidbrett und Messer bitten. Eine Zeitreise in die Urgeschichte der Gastronomie, die gastgewerblich Interessierte keinesfalls auslassen sollten.

Ein paar Schritte durch die erwähnten UNESCO-Laubengänge weiter liegt das alteingesessene Ristorante Da Cesari, eine der Hochburgen der lokalen Küche mit rustikalem Interieur, dunkler Holz-Lamperie und makellos zubereiteten Bologneser Klassikern. Darunter die obligatorischen hausgemachten Pastagerichte wie Tagliatelle al ragù, Tortellini in brodo (Brühe) und, in der Saison, frisch gemachte Spaghetti al pomodoro mit per Hand zerdrückten Tomaten, weil die so viel besser schmeckten als
die geschnittenen, wie der jovial-freundliche Wirt Paolino Cesari gerne erklärt.
Um eine deutliche Spur gediegener geht es im ähnlich benannten Ristorante da Cesarina zu, mit seinen schwarz gekleideten Kellnern, den weißen Tischtüchern und den altmodischen Servierwägen. Der Schanigarten erstreckt sich unter Kolonnaden und auf einem der schönsten Plätze Bolognas, gegenüber vom eindrucksvollen Kirchenkomplex Santo Stefano, der mit seinen verschachtelten Kapellen, Krypten und Kreuzgängen zu den sehenswertesten Attraktionen der Stadt zählt. Das Cesarina rühmt sich, Ursprungsort einer geradezu revolutionären Erfindung zu sein, nämlich der Tortellini alla panna, also mit Obers. Tatsächlich soll es die namensgebende ehemalige Wirtin und Köchin Cesarina Masi gewesen sein, die im Jahr 1940 in einer Art Anfall von überschäumender Kreativität die geniale Idee gebar, ihre Fleischtascherln in Oberssauce zu servieren. Obgleich diese Urheberschaft von manchen angezweifelt wird, bleibt unbestritten, dass die selbstverständlich hausgemachten Tortellini von geradezu perfekter knackiger Konsistenz sind und die Sauce aus mit Parmesan vermengtem und in Italien heutzutage weitestgehend verpöntem Obers mit charmanter Sämigkeit verführt.

Für etwas Abwechslung in der doch sehr stark von Tradition geprägten örtlichen Lokalszene sorgt das Restaurant Ahimè, nahe dem überdachten Mercato delle Erbe und dessen angeschlossenem Food Court. Unverputzte Betonwände, Industriedesign und die bunten Etiketten der Naturweine sorgen dafür, dass man sich weniger in Italien als in einer skandinavischen Hauptstadt fühlt. Das Brot ist hausgemacht und exzellent (auch das ist für Italien eher ungewöhnlich), das Gemüse stammt aus dem eigenen Garten, Fleisch gibt es nur in geringen Mengen. Pasta muss natürlich schon sein, sie wird allerdings originell kombiniert, etwa mit Melanzanipüree und Hahnenkämmen oder gefüllt mit Heuschreckenkrebsen (Canocchie), Blauschimmelkäse, Lavendel und Feigen. Alles gleichermaßen waghalsig innovativ wie befriedigend ausgeführt.

Um richtig einzutauchen ins studentische Leben der Stadt, die dank ihrer uralten Universität noch einen weiteren Beinamen, nämlich „la dotta“, die Gelehrte, trägt, findet sich wohl kein ­besseres Lokal als die Osteria dell’Orsa. Vorwiegend junges ­Personal und Publikum, die Einrichtung minimalistisch, die Preise niedrig. Reservierungen werden keine angenommen, weswegen sich gutes Timing empfiehlt, um allzu langes Anstehen zu vermeiden. Die Küche beschränkt sich auf unausweichliche, vorwiegend teigige Klassiker der lokalen Tradition, also Lasagne, Tagliatelle und gefüllte Tascherln. Das alles unaufwendig angerichtet, schnell serviert und ausgesprochen befriedigend gekocht. Überraschend indessen die hohe Qualität des täglich wechselnden und in der Bologneser Küche ansonsten eher vernachlässigten Gemüseangebots. Eröffnet wurde die Osteria von zwei Marxisten im Jahr 1979, zu einer Zeit also, als die Stadt von der kommunistischen Partei Italiens regiert wurde und als deren Aushängeschild galt. Daher stammt übrigens ein weiterer Beiname Bolognas, nämlich „la rossa“, die Rote. Der bezieht sich allerdings nicht nur auf die politische Orientierung, sondern auch auf die Farbe der Häuser und Palazzi der Stadt. Sie präsentieren sich überwiegend in Rotschattierungen – von Ocker über Altrosa und Orange bis hin zu Scharlachrot. Womit es vor allem an sonnigen Tagen ein ergreifendes Schauspiel ist, im warmen Licht des Südens durch die Stadt zu spazieren, wenn die Sonnenstrahlen sich an den Säulen und Bögen der Arkaden und Laubengänge brechen und die Rottöne zum Leuchten bringen.
Wann genau die beiden sinnbildlichen schiefen Türme Garisenda und Asinelli wieder zugänglich sein werden, steht im Moment noch nicht fest. Aber zum Glück gibt es in der Stadt noch weitere historische Türme. Zwar nicht mehr hundert davon, so wie einst, aber immerhin noch 24, von denen gleich mehrere zugänglich sind. Ihnen hat Bologna übrigens noch einen weiteren Beinamen zu verdanken. Nämlich „la turrita“, Stadt der Türme. —

Adressen
Osteria del Sole

osteriadelsole.it

Da Cesari
da-cesari.it

Da Cesarina
ristorantecesarina.it

Ahimè
ahime.it

Osteria dell’Orsa
osteriadellorsa.it

Diana
ristorante-diana.it

Mo Mortadella
facebook.com/mortadellalab

­Im Marktviertel
Auch die ­Mortadella zählt zu den Wahrzeichen der Stadt.
Ristorante Da Cesarina, ­Ursprungsort der Obers-­Tortellini
Das bodenstän­dige wie ­exzellente Da Cesari
Tagliatelle al ragù im ­Ristorante Diana
Selbst im einstigen Kommunistentreff und Studenten-
restaurant Osteria dell’Orsa isst man gut­bürgerliche Eiernudeln mit Fleischragout.
Modern und trendig: Naturweine, hausgebackenes Sauerteig­brot und Gurkensalat mit Tahine im Ahimè