Hinter den ­sieben Bergen

Ein Besuch in Istanbul, Neues und Vertrautes, Einfaches und Kompliziertes und die große Frage: ein Kebab oder zwei Kebab?

Text von Christian Seiler
Illustration von Markus Roost

Es ist ein paar Jahre her, dass ich in Istanbul war, es war also Zeit. Ein Glück, denn kaum war ich da, widerfuhr mir Außergewöhnliches. Ich besuchte den Großen Bazar, was für einen Touristen noch nicht sooo außergewöhnlich ist, aber weil ich es unter der sympathischen Anleitung der beherzten und äußerst kundigen schweizerisch-türkischen Führerin Miriam tat, gelangte ich über allerhand schmale und steile, nein, sehr steile Treppen hinauf in das Atelier des armenisch-türkischen Silberschmieds Murad. Der Blick, der sich mir bot, war berührend. Im Inneren des Raums die Silberware des Schmieds, das übersichtlich an die Wand drapierte Werkzeug, sein Arbeitstisch, ein paar Sitzgelegenheiten, der Ofen, der sein langes Rohr durch den ganzen Raum windet – und ein kleiner, bunt geschmückter Weihnachtsbaum aus Plastik, der das ganze Jahr hier steht. Durch die beiden Fenster schaute ich auf die Dachlandschaft des Bazars mit ihren warzigen Kuppeldächern, James Bond hatte hier für Skyfall eine legendäre Verfolgungsjagd auf dem Motorrad abgeliefert. Auf der einen Seite fiel der Blick ins Innere des Hans, jenes Gebäudekomplexes, über dem das Atelier schwebt, dahinter die Kuppel des nahen Hammams, am Horizont auf den Galataturm und die neue Skyline Istanbuls. Auf der anderen Seite sah ich die Minarette und Kuppeln der Nuruosmaniye-Moschee, die majestätisch über die abenteuerliche Dachlandschaft ragt.
Wir bekamen Tee und plauderten, was funktionierte, weil Miriam als Simultanübersetzerin brillant ist, und irgendwann kamen wir auf bevorstehende Feiertage zu sprechen und auf das spezielle armenische Brot, das zu diesem Anlass traditionell mit Mastix gemacht wird.
„Wie“, fragte ich Murad, „kriegt ihr das Mastix ins Brot?“
Ich hatte ja schon vor längerer Zeit einen Brocken dieses aromatischen Harzes der Mastixsträucher besorgt, wusste aber nicht so recht, wie damit umzugehen. Murad schaute mich mit großen Augen an. „Wie soll ich das wissen? Da muss ich in der Zentrale nachfragen.“ Er fragte also per Handy in der „Zentrale“ nach, und seine Frau Elisabeth – die „Zentrale“ persönlich – antwortete. Man muss ein Bröcklein Mastix mit einem Stück Würfelzucker gemeinsam in den Mörser legen und mit dem Stößel zu „Sand“ machen. Dieser wird dann mit dem üblichen Hefeteig und geriebener Orangenschale zu „Chorek“ verarbeitet, zu armenischem Osterbrot. Das duftende Brot brachte Murad dann übrigens nicht in die Arbeit mit, und zwar nicht aus Neid, sondern aus Respekt: Seine muslimischen Kollegen befanden sich gerade im Ramadan, man will ja nicht stören. Und wie zum Dank für die Aufmerksamkeit begann in diesem Moment von mehreren Seiten der Muezzin zu rufen, und ich genoss die Aufforderung zum Gebet vor dem Eingang zu Murads Atelier mit dem Panoramablick auf die riesige Stadt – und auf diesen kleinen, bunt geschmückten Weihnachtsbaum. Ganz in der Nähe des Großen Bazars musste ich dann Kebab essen. Normalerweise bin ich da zurückhaltend. Ganz in der Nähe von dort, wo ich wohne (in Wien, nicht in Istanbul), gibt es einen dieser Kebabläden, die nicht nur Kebab, sondern auch asiatische Nudeln und Pizzaschnitten verkaufen, und wenn ich abends nach Hause spaziere, muss ich mir meinen Weg durch eine gewaltige Fettwolke bahnen, die so ekelhaft riecht, dass ich mir überlege, ob ich nicht umziehen soll (nein, das stimmt nicht, in Wirklichkeit überlege ich mir, wie ich es schaffen könnte, den Kebabladen auf den Mars zu schießen; ich muss Elon Musk anrufen, der hat da sicher eine Idee).

Das Kebabstandl, zu dessen Besuch mich Ayse Poffet geradezu zwang, heißt Dönerci S¸ahin Usta. Ayse, die zwischen Istanbul und Zürich pendelt und die ich kennengelernt hatte, weil sie mit ihrem Label Hayat-Trading die besten Pistazien importiert, die ich kenne, handelte auf Anweisung von Elif Askan, der Inhaberin des türkischen Restaurants Gül in Zürich, eines Lokals, von dem ich mir schon lange eine Filiale in Wien wünsche, so köstlich, herzenswarm und subtil wird dort gekocht. Ayse sagte also, Elif habe sie dazu angehalten, mir einmal zu zeigen, was Kebab sein kann: Und genau das tat sie. Wir waren noch früh dran, deshalb reichte die Schlange vor dem Dönerci S¸ahin Usta noch nicht einmal um die nächste Straßenecke. Wir warteten vielleicht eine Viertelstunde, bis ich das frische Brot mit seiner Fleisch- und Melanzanifüllung in der Hand hatte. Ich biss ab. Der Eindruck war in etwa so wie damals in Tokio, als ich neben dem Tsukiji-Fischmarkt Sushi aß: Man hat das Gefühl, etwas zu essen, was man kennt, bis man begreift, dass man es so sicher noch nie gegessen hat.
Mein erster Kebab war also eine große Freude, und es sollte nicht der letzte Kebab bleiben, aber davon gleich mehr. Zuerst verlief ich mich noch im Basar, kam – riesiger Schock – an einer lebensgroßen Statue des berühmt ­gewordenen Fleisch-mit-Goldbelag-Trottels Nusret Gökçe alias Salt Bae vorbei, fand ein paar Seidentücher, die ich nicht brauchte, aber trotzdem kaufte, weil sie schön waren, und irgendwann war ich wieder auf dem Weg zum Goldenen Horn, begeistert, satt und ein bisschen unsicher, was mich am Abend erwarten würde.

Denn am Abend hatte ich einen schweren Weg vor mir. Der führte mich von meinem Hotel in der ehemaligen französischen Mädchenschule Ecole St. Pierre nur hundert Meter unterhalb des Galataturms, ­hinunter zur Bootsanlegestelle. Gemeinsam mit Ayse nahm ich die Fähre über den Bosporus und steuerte in Istanbuls Stadtteil Kadıköy das Restaurant Çiya Sofrasi an. Dabei erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch vor gut fünfzehn Jahren. Damals hatte ich mich im Çiya haltlos überfressen und war Stunden nach meiner Ankunft satt bis zu den Schläfen zurück zur Fähre gewankt, so unschuldig glücklich, wie nur gutes Essen ­einen Menschen glücklich machen kann. Ich hatte das Çiya in der Zwischenzeit hundertmal weiterempfohlen und mich tausendmal an meinen Besuch erinnert, die sanften, warmen Geschmäcker von Knoblauchsuppe und saurem Kebab noch immer am Gaumen. Jetzt stand ich vor der Bewährungsprobe, die ich seither gefürchtet hatte: Würde das Essen wieder dieselbe Magie entfalten wie damals beim letzten Besuch? Oder würden mir Erinnerung und Erwartung, dieses Duo diabolique, einen Streich spielen und mich enttäuscht auf Grund laufen lassen? Ich merkte, wie mich Ayse ein bisschen besorgt aus den Augenwinkeln anschaute. Offenbar waren die Gedanken auf meiner Stirn deutlich zu lesen. Wir kamen an, und Musa Dagdeviren, der schnauzbärtige Inhaber des Çiya hieß uns willkommen. Das war ein großer Unterschied zu meinem ersten Besuch, als ich Musa zwar gesehen hatte, aber kein Wort mit ihm reden konnte, weil wir keine gemeinsame Sprache sprechen (außer natürlich der Sprache des guten Geschmacks, was nicht wenig ist, aber an den Rändern manchmal unscharf). Jetzt aber konnte Ayse übersetzen, und es entspann sich ein wundervoller Dialog, der nur dadurch unterbrochen wurde, dass permanent Essen auf den Tisch gestellt wurde – Musa hatte die Aufgabe übernommen, für uns zu bestellen.
Es gab l.çli köfte, gebackene Bulgurkrapfen, die mit Nuss-Hackfleisch gefüllt waren, Lahmacun, eine hauchzarte, leicht angeschärfte türkische Pizza, eine Ezogelin-Suppe, die aus Bulgur und roten Linsen zubereitet war, wundervolle Bohnen (weil wir erzählt hatten, dass wir an anderer Stelle gute Bohnen gegessen hatten, und ja, klar waren sie hier noch einmal so gut), eine hinreißende, leichte Lammsuppe mit geviertelten grünen Mandeln, einen Fıstıklı kebab, einen Hackfleischspieß mit Pistazien, ein Tavuk sis, einen Spieß von mariniertem Hühnerfleisch, einen fantastischen Zahter salatası,
Salat vom Wilden Thymian, Hummus, gefüllte Weinblätter und allerlei Desserts. Es war das pure Glück, und weil ich vom Glück nie genug bekommen kann, machte ich für den übernächsten Tag noch einmal ein Mittagessen aus. Am nächsten Tag spazierte ich durch die Stadt. Ich fuhr mit der historischen, grün-weißen Straßenbahn von Kadıköy nach Moda. Ich umrundete den Stadtteil Caferaga, wo man im Sommer baden geht, und besuchte die Bootsanlegestelle Moda Iskelesi, in deren erstem Stock eine öffentliche Bibliothek untergebracht ist. Ich schaute mir das neue Museum Istanbul Modern an, direkt am europäischen Ufer des Bosporus, das ein weiterer spektakulärer Museumsbau des großen Architekten Renzo Piano ist. Ich naschte Süßkram in der Kondi­torei Karaköy Güllüog˘lu, trank fermentiertes Gemüsewasser bei Asrı Turkusu und stieß – um genau zu sein: wurde von Ayse gestoßen – auf einen meiner neuen Lieblingsorte in Istanbul: die Vefa Bozacısı.

Es handelt sich dabei um ein Café, wo es allerdings keinen Kaffee gibt, sondern nur ein einziges Getränk namens „Boza“.
„Boza“ wird aus fermentierter Hirse gewonnen, die mit Wasser und Zucker versetzt wird, hat eine trübe, gelbliche Farbe und sieht auf den ersten Blick nicht unbedingt vertrauenserweckend aus. Das Getränk wird aus großen Kanistern in Viertelliterbecher eingegossen, und wenn man die Erfrischung in eine Zwischenmahlzeit verwandeln möchte, kann man gegenüber beim Greißler getrocknete Kichererbsen holen und ein paar davon in den Becher rieseln lassen.
Der Geschmack von „Boza“ liegt auf der Süß-Sauer-Skala eher auf der süßen Seite, vielleicht vergleichbar mit herbem, passiertem Apfelmus, das mit Milchsäure versetzt wurde. Es brauchte ein paar Sekunden, bis ich mich an den Geschmack gewöhnt hatte, aber dann fing ich sofort an, mich in ihn zu verlieben. Löffelte Kichererbsen in und aus dem Becher, leerte ihn bis auf den Grund, holte mir an der Bar Nachschlag. Dazu kam, dass das Geschäft von überirdischer, ein bisschen nostalgischer Schönheit ist. Holzeinbauten, Spiegel, zwei mit winzigen Spiegeln geflieste Säulen, an die man sich lehnen kann, wenn man die Kichererbsen sortiert. In einer in die Wand eingebauten Vitrine befindet sich das Glas, aus dem Staatsgründer Atatürk persönlich sein „Boza“ getrunken hat, im Jahr 1937, also vorgestern. Es hat keinen Sinn, nach Istanbul zu reisen und hier nicht mindestens eine Stunde zu verbringen. Die Adresse: Mollahüsrev, Vefa Cd. 66, 34134 Fatih.

Natürlich probierte ich auch andere Restaurants aus. An einem Abend leisteten wir uns ein Wassertaxi und fuhren den Bosporus bis nach Tarabya hinauf, fast bis zur Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer. Es war ein Abenteuer, zwischen wendigen Fähren und mächtigen Schleppern in den anbrechenden Abend hineinzuschippern. Allein die Möglichkeit, die unglaublichen Häuser am Bosporus vom Wasser aus zu betrachten, lohnte die Investition. Das Abendessen nahmen wir dann im Restaurant Kiyi ein, einem der berühmtesten Restaurants am Bosporus, einem Sakralort für Freunde puristischer Fischküche.
An einem anderen Abend suchte ich das mehrfach empfohlene Yeni Lokanta auf, das auch einen Ableger in London hat, und aß ein ganzes Menü. Es begann mit einem Salat von grünem Apfel, dann folgten köstliche Çig˘ Köfte mit Kreuzkümmel, Chili und einer Kartoffelkrokette, eine ­Artischocke mit Favabohnen und frischer Minze, eine gebackene Krabbe mit Aioli, Bottarga und Pistazien und als Hauptspeise ein schönes Stück vom Lamm mit Pilzen, Spinat und Estragon. Es war ein köstliches Essen, kunstfertig, ästhetisch und umfangreich. Gegen Mitternacht spazierte ich satt zurück zu meinem Hotel. Waren die Straßen leer? Nein. Nicht einmal die kleinen Kinder waren schon zu Hause. Istanbul lebt rund um die Uhr.
Tags darauf ging ich über die Galatabrücke, die den Istanbuler Stadtteil Karaköy mit jenem namens Eminönü verbindet. Vor mir befanden sich einige der größten Sehenswürdigkeiten Istanbuls, die Hagia Sofia, die Blaue Moschee, der Topkapı-Palast, der Gewürzbasar, aber ich konnte die Augen nicht abwenden von den unzähligen Flaggen, die quer über die Brücke gespannt waren, bedruckt mit den Gesichtern von Politikern, über die bald darauf abgestimmt wurde: Bürgermeisterwahl in Istanbul.

Der Guide, der mich führte, hieß Zafer. Er hatte in der österreichischen Schule Istanbuls Deutsch gelernt. Er lenkte meinen Blick auf das Goldene Horn, das wir gerade überquerten, jenes Meerstück, das vom Bosporus tief in die Stadt hinein vordringt, als natürlicher Hafen und gleißender Blickfang, wenn hinter den Hügeln Istanbuls die Sonne untergeht. Auf diesen Hügeln sitzen die großen Moscheen, mächtige Kuppeln, die Minarette in Stein gehauene Ausrufezeichen. Wir gingen zuerst durch den Gewürzbasar, der um diese frühe Stunde noch nicht übervölkert war, dann führte mich Zafer zur Rüstem-­Pascha-Moschee, die ein Stockwerk über dem geschäftigen Viertel liegt und eine überraschende, ergreifende Ruhe ausstrahlt. Wir zogen die Schuhe aus, betrachteten die virtuos ­bemalten Fliesen im Inneren der Moschee, und ich hatte den Eindruck, plötzlich auf einem anderen Kontinent zu sein. Die Ruhe war so tief und selbstverständlich, der Reichtum an Farben und Mustern überwältigend. Zafer lächelte. Genau das hatte er mir prophezeit. Wir gingen weiter durch ein Wohngebiet, das einmal ein Künstlerviertel gewesen sein soll, jetzt aber abgerockt und für den Abriss bestimmt war. Die Spuren früherer Schönheit konnte man noch erkennen, aber die Gegenwart sah elend aus. Über steile Straßen stiegen wir zur Süleymaniye-Moschee hinauf, einem riesigen Komplex aus Peripheriebauten, der die ­berühmte Moschee aus dem 16. Jahrhundert umgibt. Zafer führte mich – es war schon Mittag – in ein kleines Wirtshaus, das tatsächlich Ali Baba hieß. Niemals hätte ich aus eigenem Antrieb einen Fuß hineingesetzt. Aber dann passierte, was kaum irgendwo, aber in Istanbul permanent passiert. Das Essen war einfach, aber gut, vielleicht sogar sehr gut. Wir aßen köstliche Bohnen mit Reis und Ayran zu Mittag. Draußen begann es zu regnen, und wir begannen zu reden. Wir saßen, schauten hinaus ins graue Wetter, dann brachte uns der Chef türkischen Kaffee, bitter und heiß, und ein Stück Baklava, süß und knusprig, und wegen mir hätte es gar nicht mehr aufhören müssen zu regnen. —

Dönerci S¸ahin Usta
Mollafenari, Kılıçcılar Sk. No:5,
34120 Fatih/Istanbul
T +90 212 526 52 97

Çiya Sofrasi
ciya.com.tr

Vefa Bozacısı
vefa.com.tr

Yeni Lokanta
yenilokanta.com

Çiya-Betreiber Musa Dagdeviren (u.r.)verschrieb sich in den 1980er-Jahren der Rehabilitierung des Kebabs und hält seither in seinem Lokal diese alte kulinarische Tradition am Leben.

Im Café Vefa Bozacısı hat schon Staatsgründer Atatürk „Boza“ getrunken: ein Getränk aus fermentierter Hirse, die mit Wasser und Zucker versetzt wird, und mit Kichererbsen angereichert, zum Imbiss wird.

In der Yeni Lokanta verleiht Chef Civan Er traditionellen Gerichten einen modernen Spin –
köstliches Essen, kunstfertig und ästhetisch.