Linksverkehr

Eine Reise durch den Norden ­Englands, von North Yorkshire in den Lake District und zurück. Unter besonderer Berücksichtigung von Schlössern, Gärten und den besten Restaurants des Landes.

Text von Christian Seiler
(c) Markus Roost

Ich hatte mir eingebildet, meine Reise nach Nord­england mit dem eigenen Auto zu absolvieren, und das war, sagen wir es vorsichtig, eine gute Idee. Ich ging die Sache nämlich langsam an, fuhr von Wien zuerst an den Starnberger See, wo ich bei Sepp Bierbichlers Fischmeister eine bayerisch-­mediterrane Mahlzeit einnahm und anschließend so lang auf den See hinausstarrte, bis mich meine Sitznachbarn fragten, ob eh alles okay sei. „Mehr als okay“, antwortete ich, „ich kultiviere die Sitzmeditation.“ Das fanden die beiden interessant. Er war ein Spirituosenvertreter aus Nürnberg im besten Alter, sie seine neue Geliebte, und ich hatte schon, bevor ich mich in das Muster von Dünung und Wellen vertieft hatte, mehr über ihr Verhältnis erfahren, als mir lieb war, was vielleicht die partielle Bewusstlosigkeit zur Folge hatte, in die ich mich anschließend flüchtete. Ich verabschiedete mich, bevor mir die beiden vorschlagen konnten, mit ihnen gemeinsam eine spirituelle Sitzung abzuhalten, traf sie aber nach einem ausgedehnten Spaziergang wieder, weil der Spirituosenvertreter seinen Maserati nicht fand. Er lief gerade aufgeregt in die falsche Richtung, während ich auf dem Weg zu meinem Hotel, dem empfehlenswerten Schlossgut Oberambach, an einem verwaisten Parkplatz vorbeikam, auf dem nur noch ein einsamer Maserati mit Nürnberger Kennzeichen stand. Zu blöd. Ich schickte dem Mann Energie und ging schlafen.

Die nächste Station war Zürich, wo ich einmal mehr im fantastischen ­Signau House abstieg, einem der wenigen Hotels, das das Etikett „Home away from home“ tatsächlich verdient, für mich jedenfalls. Ich verköstigte mich in Zizi Hattabs veganem Sternelokal Kle, was eine überaus wohltuende Überraschung zur Folge hatte. Das Essen präsentierte auf eine so überzeugende Weise seine pflanzlichen Hauptdarsteller, dass ich keine Sekunde lang daran dachte, dass mir ein Stück Fleisch oder Fisch fehlen könnte. Zizi Hattab hat da einen Zugang zu multikulturell grundierter, von tiefen, unterhaltsamen Aromen grundierter Spitzenküche gefunden, dass es nur so rauscht. Bei Gelegenheit mehr davon, denn nein, ich habe nicht vergessen, dass ich nach Nordengland unterwegs bin. Zur Sicherheit machte ich noch Station in Reims, wo ich mir nicht nur die berühmte Kathedrale ansah, sondern auch zwei, drei der berühmtesten Champagnerhäuser, aber dann war ich auch schon auf der Fähre von Calais nach Dover, fassungslos über das schlechteste Sandwich der Welt, das ich mir am Fährterminal gekauft hatte, noch fassungsloser darüber, dass ich es tatsächlich aufgegessen hatte, sodass ich jetzt aufgebläht und übellaunig in der Quiet Zone saß und auf die Nebel hinausstarrte, die den Ärmelkanal mehr oder weniger unsichtbar machten – nein, das war keine Sitzmeditation, sondern purer Grant.

Weil ihr fragt: Eine gewisse Herausforderung war es schon, das eigene Fahrzeug unfallfrei in den britischen Linksverkehr einzuordnen, vor allem an den Kreisverkehren, von ­denen es auf der Strecke Richtung Norden mehr gibt als in Niederösterreich. Noch einmal machte ich ­Station in York – aufmerksame A la Carte-Leser erinnern sich daran, dass ich hier in einem Restaurant namens Cochon Aveugle schon einmal ganz herausragend gegessen hatte, was ich leider nicht wiederholen konnte, weil das Restaurant zugesperrt hat und aufs Land gezogen ist. Stattdessen verpflegte ich mich ganz hervorragend in einem munteren Laden mit Sharing-Konzept – nicht gähnen, auf keinen Fall gähnen! – namens Skosh, wo tagesaktuell je nach Marktlage gekocht wird, und zwar ziemlich atemberaubend. Eine gekochte Auster mit Kombu, Radieschen und Ponzu auf Eis, umwerfend, alte Karottensorten mit gepufftem Reis, Jalapeño und Passionsfrucht, kunterbunt und überzeugend, Tempura von Brokkolisprossen mit frischem Knoblauch, Radieschen und Furikake, klasse, schließlich eine im Salz gereifte Ente mit Szechuanpfeffer, Mango und Frühlingszwiebeln, die so gut war, dass ich die Konsistenzsensation – knusprige Haut, ­leberzartes Fleisch – bis heute nicht vergessen kann.

Am nächsten Tag kam ich zum ersten Mal an: in Hovingham. Hovingham ist ein kleines Dörfchen in den Howardian Hills, die – richtig – nach der Familie Howard benannt sind, der auch Castle Howard gehört, ein unglaublich selbst­bewusstes Pseudobarockgebäude mit Imponierkuppel, das tatsächlich ziemlich eindrucksvoll in den rollenden Hügeln steht, sagen wir: Dresdner Zwinger im Landhausformat. Eine Pointe an der Anreise war, dass die Straße nach Hovingham durch mehrere Engstellen führt, die durch historische Einfahrtstore und einen immensen Obelisken gebildet wurden, den ich umfahren musste. Dabei sah ich die Ankündigung, dass gerade zahlreiche Werke des Bildhauers Tony Cragg auf dem Howard-Areal ausgestellt wurden, und das musste ich mir natürlich ansehen: schon ­wieder ein halber Tag wegmeditiert. Zum Glück war es dann nur noch ein Katzensprung nach Hovingham. Dorthin hatten sich nämlich vor zwei Jahren Joshua und Victoria Overington, die ehemaligen Betreiber des Cochon Aveugle, verfügt, um in einem historischen Haus ihr neues Restaurant Mýse zu eröffnen, ein übersichtliches, elegantes, für maximal 24 Gäste ausgelegtes Lokal, das ich nicht unbesucht lassen wollte.

Mýse ist ein altes angelsächsisches Wort, das rein gar nichts mit der ­Bedeutung zu tun hat, die einem als deutschsprachiger Mensch einfallen könnte, wenn man das Wort laut vorliest. Es bedeutet: Am Tisch sitzen und essen. Overington beschreibt das Konzept seines Lokals als Spiegel der Umgebung und außergewöhnlichen Landschaft von North Yorkshire:
„Unser Menü wird mit nordischer Großzügigkeit serviert und greift auf die reiche Geschichte der Region ­zurück, um der traditionellen Küche von Yorkshire einen eleganten Dreh zu geben.“
Das nordische Motiv liegt den Overingtons tatsächlich ziemlich am Herzen, dachte ich mir, als ich das Restaurant betrat. Die beiden Gasträume – einer für Aperitif und Kaffee, einer fürs Essen – waren sparsam und schick mit supereleganten skandinavischen Möbeln in einem urenglischen Cottage – tiefe Decke, unregelmäßig gekalkte Wände – eingerichtet. Der Staff, vorschriftsmäßig tätowiert wie der Chef selbst, verströmte dieselbe Mischung aus grundsätzlicher Lässigkeit und projektbezogenem Ernst, wie wir das seit den ersten Tagen vom Noma kennen. Ich bekam ein sehr kleines, sehr gutes Bier, um mir einen Überblick über das Menü zu verschaffen, dann ­kamen aber auch schon die ersten Snacks, und ich entschied mich dafür, mich überraschen zu lassen.

Kurz zusammengefasst: Es war ein wirklich denkwürdiges Menü, das schnell und erstaunlich ernst serviert wurde. Ich fand die „Holzkohle­pastete, gefüllt mit rohem Wildbret und geräuchertem Kaviar“ grandios. Es handelte sich um ein von einem dünnen schwarzen Teig umringtes Tatar vom Reh, gekrönt mit Kaviar, der auf dem Weg aus der Küche unter der Glashaube etwas Rauch abbekam und dem Gericht eine köstlich rus­tikale Note gab. Nach ­einer auf einem Zweig aufgespießten „Geschmorten Ochsenbacke in Yorkshire-Pudding-Teig mit fermentierter Gurke“ – andernorts hätte das Gericht vielleicht Ochsenbackenpraline geheißen – und dem Sauerteigbrot, das mit Hühnerfett serviert wurde – nachahmenswerte Idee! –, kam der erste Gang, und der war ein Paukenschlag. Es handelte sich dabei um eine Jakobsmuschel von den Orkneyinseln, die in ihrer Schale gedämpft und mit Seeigelbutter verfeinert worden war. Falls es ein Paradies gibt und ich eine Reservierung bekomme, möchte ich nur noch Seeigelbutter essen, und das hier war ein Vorgeschmack: die straffe, innen noch glasige Muschel, süß und verführerisch, dazu der Jodgeschmack des Seeigels, diese Ahnung von Meer und Gischt und weitem Horizont, ein Moment vollkommenen kulinarischen Glücks.
Es folgte ein Spargelgericht mit Blüten der Kapuzinerkresse, Frischkäse und Molke, ein Wilder Heilbutt mit einer pochierten Lindisfarne-Auster und einer köstlichen Sauce von englischem Schaumwein. Dann begann bereits das Vorgeplänkel auf den Hauptgang, die gebratene Thirkleby-Ente. Mir blieb vor allem der Auftakt in Erinnerung, der leicht geräucherte Entenschinken, der in einer Art Yorkshire Pudding aufrecht stehend ­drapiert worden war und wirklich himmlisch schmeckte (da ist das Paradiesmotiv schon wieder, sorry). Die Leber in einem Knödel im Enten-Walnuss-Sud, die Brust mit knackiger Roter Rübe und Schwarzer Walnuss. Später kamen noch vier Desserts, allesamt auf höchstem Niveau, Zitrus-Dotterblüteneis, Leinsamen-Karamell, Kolostrum-Pudding-Törtchen, ein flambierter Mispelkuchen mit Malzeis: Ich genoss sie, hätte sie aber ohne zu zögern gegen eine zweite Portion der Jakobsmuschel mit Seeigelbutter getauscht (und erinnerte mich dabei daran, dass ich die Kombination von Jakobsmuschel mit Seeigel nicht zum ersten Mal gegessen hatte. Das erste Mal war im Cochon Aveugle in York gewesen. So ein Zufall).

Als ich heiter und satt zurück zu meinem Hotel ging, dem Worsley Arms Hotel, das vorschriftsmäßig an der einzigen Straßenkreuzung von Hovingham steht, war es noch nicht dunkel. Die Nächte im Norden sind kurz. Im Hotel sah ich noch Licht, das aus der Cricket Bar nach draußen strömte, was mich selbstverständlich dazu bewog, der Bar einen Besuch abzustatten. Mit einem Bier auf dem kleinen runden Tisch vor dem hübsch gemalten Mannschaftsbild des Cricketteams kam ich mit der Jägerrunde vom ­anderen Tisch ins Gespräch. Nicht, dass ich wahnsinnig viel verstanden hätte. Am Northern Accent war ja auch Jürgen Klopp in Liverpool zerschellt, aber die Herrschaften waren freundlich, und ich war auch freundlich, und so tranken wir noch ein, zwei Runden Bier miteinander, und ich fühlte mich so wohl wie selten: richtige Zeit, richtiger Ort; und schlafen konnte ich nach der letzten Runde auch ziemlich gut.

Tags darauf dislozierte ich in den Lake District. Auf dem Weg nach Nordwesten schaute ich mir ein paar wundervolle Gärten an, Helmsley Walled Garden, vor allem aber das fantastische Gelände von Newby Hall and Gardens. Aber mit den Details werde ich niemanden langweilen. Ich bezog Quartier in Ulverston, einem Ort, der an der Peripherie des Lake Districts liegt und den Vorteil hat, direkten Meerzugang zu besitzen und sich nicht auf der Karte des britischen Binnentourismus zu befinden. So konnte ich mich relativ frei in ­einem Ortszentrum bewegen, dessen Tränken Vergnügungen wie Pub Quiz oder Sportübertragungen zu bieten hatten, kaufte beim Fischhändler Tintenfisch und Muscheln ein, vertrieb mir die Zeit mit ausführlichen Wanderungen und anständiger ­Li­teratur und spürte bei der Sitzmeditation an der Theke des Hope & Anchor jeden Tag ein bisschen mehr vom Magnetismus des nahe gelegenen ­Restaurants L’Enclume. Ich könnte auch sagen, ich hörte die Sirenenrufe. Das lag einerseits an meiner natürlichen Verfressenheit, andererseits aber an der Biografie von L’Enclume-Inhaber Simon Rogan, der sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lebensmittel für sein inzwischen mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnetes Restaurant zum größten Teil auf der eigenen Farm mit dem hübschen Namen Our Farm herzustellen. Rogan gilt als Apologet der „Farm to Table“-Küche, verfolgt also den radikalen Ansatz, Gemüse, Kräuter und Obst, die in der Küche gebraucht werden, selbst anzubauen, um nicht auf Produzenten oder Zwischenhändler angewiesen zu sein.

Über ein paar Ecken gelang es mir, nicht nur ­einen Tisch für ein Mittagessen im L’Enclume zu organisieren, sondern vorher auch Our Farm besichtigen zu können. Sie liegt etwas außerhalb des Örtchens Cartmel, wo Simon Rogan sein gar nicht so kleines Imperium begründet hat. Neben dem Leitbetrieb L’Enclume betreibt er auch Restaurants in London, Hongkong und Phuket. Auf der Farmzufahrt musste ich einer selbstzufriedenen Kuh ausweichen, die auf der Zufahrt lag und tat, wofür ich mir den Abend reserviert hatte: Sie verdaute, und um ein Haar hätte ein Traktor mein Fahrzeug aus dem Morast ziehen müssen, in dem ich fast steckengeblieben wäre. Ich war in England. Es regnete jeden Tag, jeden Tag schien die Sonne, aber gerade war der Regen an der Reihe. Dann aber nahm mich ein lächelnder Mann in kurzen Hosen in Empfang, der Adam Frickel hieß und einer der acht Mitarbeiter war, die fix auf der Farm arbeiten, und natürlich zeigte sich sofort wieder die Sonne. Adam zerstörte zuerst einmal genüsslich das romantische Bild des altmodischen Landfarmers, indem er mir zum Auftakt stolz die Schredder namens „The Monster“ vorführte, in denen sämtliche organische Abfälle der Restaurants und der Gärtnerei zu Kompost verarbeitet werden. „Sieht nicht schön aus“, sagte Adam, „ist aber die wichtigste Grundlage unserer Arbeit: die Erde.“

Als das einleitend festgehalten war, führte er mich über das wirklich eindrucksvoll riesige Areal, wo alle möglichen Gemüsesorten, Kräuter und Beeren wuchsen, und erzählte fortwährend über die Kunst, den richtigen Boden zu mischen (er erzählte auch, welches die „Favoriten“ von Simon sind. Nur so viel: Simon hat viele Favoriten). Er öffnete die Folientunnel für mich, die bereits für die sommerliche Tomatenzucht vorbereitet waren, zeigte mir die langen Reihen mit Kohlrabi und diversen Kohlsorten und wies mich auf die unzähligen Erdbeeren in großen Töpfen hin, bei denen in langen Versuchsreihen das richtige Verhältnis von Erdmischung und Sorte geprüft wird. Ich durfte eine Malwina-Erdbeere kosten, die umwerfend schmeckte, weil sie weich und fruchtig war, eine jener Erdbeeren, die viel zu sensibel sind, um in einen Supermarkt transportiert und dort verkauft werden zu können (wie etwa auch die grandiose heimische Sorte Mieze Schindler). Allein für diese Erdbeeren lohnt es sich, wie jede Gärtnerin, jeder Gärtner weiß, ein Beet anzulegen oder ­einen Topf zu bepflanzen, weil man sonst einfach nicht an die göttlichen Früchte kommt. Ich hatte jedenfalls die Ahnung, dass ich zum Dessert noch einmal eine Malwina bekommen würde, und ich sollte mich nicht täuschen. Als mich Adam darauf hinwies, dass ich in ein paar Minuten im Restaurant zum Lunch erwartet würde, hatten wir das Gartenareal gerade erst einmal abgeschritten, eine ganze Stunde lang. Hier, dachte ich mir, meinen sie es ernst mit der Selbstversorgung. Ich bedankte mich, setzte mich ins Auto, fuhr ein zweites Mal durch den Dreck, weil sich das Rindvieh keinen Zentimeter bewegt hatte, und fast auf schnellstem Weg ins L’Enclume, weil schon ein bisschen verwirrend, dieser Linksverkehr.

Das Wort „l’enclume“ bedeutet übrigens Amboss. Begriffsstützig, wie ich bin, verstand ich den Namen erst, als ihn mir der Restaurantleiter nachsichtig erklärte: Hier habe sich früher eine Schmiede befunden. Ach so. Deshalb die gedengelten Platzteller, deshalb das von einem Kunstschmied hergestellte Besteck. Hatte ­alles eine innere Logik. Ich muss zugeben, dass ich mir nach der Tour durch den Garten vorgestellt hatte, mehr oder weniger ­vegetarisch ernährt zu werden, aber diese Vorstellung wurde schon von den Snacks weggefegt. Es gab frittierten Schweinebauch und Räucheraal, eine Forellentartelette mit Radieschen und Rosenblatt, einen hinreißenden Käsepudding von gereiftem Corra Linn, einem lokalen Schaf­käse, und spätestens bei der in Hefeöl gerösteten Sellerie, die mit Buttermilch und Zanderkaviar veredelt wurde, wusste ich, dass meine naiven ­Erwartungen, ein vegetarisches Feuerwerk zu erleben, zwar enttäuscht wurden, aber hallo, zum Glück: Dieses Selleriegericht brannte sich augenblicklich so tief in meine Wahrnehmung ein, dass ich es nie mehr vergessen werde.

Und dann kamen erst die in Hühnerfett gebratenen Pink-Fir-Apple-Kartoffeln, für die allein sich das Anlegen des Gartens schon gelohnt hat, gefolgt von einem Algenpudding mit Knochenmark und Rinderbrühe, Kaviar und Austern, der den Hochseilakt zwischen Deftigkeit und Eleganz mustergültig meisterte. Nach den Fischgängen – einer Forelle mit Buchweizen, dann einem Seeteufel mit Pilzen und roten Zwiebeln – und der Ente aus dem Dry Ager schloss sich für mich endlich der Kreis: Um die Malwina-Erdbeere aus dem Garten hatte die Küche ein brillantes Dessert mit Zi­tronenverbene, Wraysholme-Joghurt und süßen Kräutern gebaut, ein kleines, aber nicht minder überzeugendes kulinarisches Kunstwerk. Ich lehnte mich zurück, zufrieden, mehr als zufrieden. Der Sommelier hatte mich mit dem slowakischen Riesling des deutschen Ausnahmewinzers Egon Müller vertraut gemacht, mit dem ich sofort Freundschaft geschlossen hatte, dazu kamen ein paar ausgesuchte Akzente aus dem Burgund und von der Mosel. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich schon einmal in einem anderen Dreisternerestaurant mit ­dieser wohltuenden Mischung aus Präzision im Service und Lässigkeit im Umgang behandelt worden war. Mir fiel keines ein, jedenfalls im Augenblick nicht.

Als ich glücklich aufstand, zutiefst dankbar, der Verführung des L’Enclume erlegen zu sein, musste ich plötzlich an das „Monster“ denken, Adams Kompostschredder. Denn dort, das war meine Lehre für heute, hat aller Genuss seinen Ursprung. Aber noch war ich nicht fertig für heute. Paul Burgalières, der Executive Chef des L’Enclume, erwartete mich am Chef’s Table im benachbarten Aulis. Paul schupft den Laden für Simon Rogan, und er wollte mir auseinandersetzen, wie im L’Enclume gearbeitet wird Logischerweise sprachen wir zuerst über den Garten. Paul sagte, dass er und sein Team täglich das Farmangebot sondieren, um die Ernte zu dieser ganz speziellen Mischung aus Kraft und Eleganz zu verarbeiten, die das Markenzeichen des Restaurants sei. Ich fragte ihn nach dem Thema, das mich anfangs irritiert hatte. Ob er darüber nachdenke, mehr vegetarische oder sogar vegane Gerichte auf die Karte zu setzen, bei dem überragenden Angebot an Gemüse, das ihm zur Verfügung stehe?
„Ich denke darüber nach“, sagte Paul, „aber das Thema ist tricky.“ Er pausierte. „Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs. Mal sehen, wohin wir kommen.“

Ich sprach ihn auf seine Zeit im Geranium in Kopenhagen an, wo er fünf Jahre als Küchenchef gearbeitet hatte. Dort war der Umgang mit Gemüse offensichtlicher zelebriert worden, fand ich, aber Paul widersprach. „Wir haben hier eine viel größere Nähe zum Garten als im Geranium“, sagte er, „was uns ein eigenes Gefühl für Entwicklung und Geschmack von Gemüse gibt.“ Das erlaube exaktere Kompositionen und eine schnellere Um­setzung des saisonalen Angebots auf der Karte. „Wie schnell?“, fragte ich. Schließlich waren die Gerichte, die ich verzehrt hatte, extrem komplex und ausgeklügelt gewesen. Wie lassen sich Neu­kreationen da spontan umsetzen? Ein Mal pro Woche, sagte Paul, im Sommer jedenfalls. Im Winter dauere es ein bisschen länger, man sei aber auch nicht so unter Druck der Natur: „Die Farm diktiert uns, was wir tun. Wir experimentieren, um das Angebot richtig umzusetzen.“
Auf dem Herd brodelte gleichzeitig ein Fond aus Krustentieren, der äußerst verführerisch duftete. Paul erriet meine Gedanken. „Damit werden wir demnächst den Seeteufel, den du heute gehabt hast, ersetzen. So wird das Gericht“, er schnalzt mit der Zunge, „feiner.“
Hätte ich eine Testversion davon noch gegessen? Was für eine Frage. Leider stellte sie mir Paul nicht.

Er erzählte noch vom fast 30-köpfigen Team, das seit Jahren ziemlich unverändert arbeitet, und von den Schwierigkeiten, die der Brexit bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mache. Dann kam er noch einmal zurück auf die Einstiegsfrage: „Wir werden in Zukunft mit Sicherheit mehr plant based kochen“, sagte er versonnen, als wäre es ihm gerade erst klar geworden, „aber vegan werden wir nicht.“ Als wir schon im Plaudermodus waren, sprachen wir noch ein bisschen allgemeiner über die Herausforderungen und Angebote der Gastronomie, über Stilfragen, Atmosphäre und Stimmungen. Ich fragte ihn nach seinen eigenen kulinarischen Expeditionen, und Paul antwortete, er habe eine Sache von Rasmus und Søren, den Inhabern des Geranium, gelernt: Gehe nur in Lokale, wo du dich uneingeschränkt wohlfühlst. Egal ob Sterne oder keine Sterne. Für alles andere sei einfach zu wenig Zeit.
Das fiel mir irgendwann am Abend wieder ein, als ich darüber nachdachte, warum ich mich im L’Enclume so wohlgefühlt hatte. Da hatte jemand seine Lektion gelernt.

An dieser fortgeschrittenen Stelle dürfen Sie sich gern aus der Geschichte verabschieden, wenn Sie sich ausschließlich für Essen interessieren. Aber ich erlebte in den North York Moors noch eine so außergewöhn­liche Geschichte, dass meine Reise mit dem Auto nach England unvollständig wäre, würde ich sie nicht erzählen. Das Auto kam übrigens wenig später voll beladen mit Clotted Cream und zu toastenden Crumpets wieder zurück nach Österreich, und ich kann sagen, dass die Umstellung auf Rechtsverkehr eine ziemlich große Erleichterung darstellte. In den North York Moors hat der Landschaftskünstler Andy Goldsworthy sein Opus Magnum verwirklicht, eine künstlerische Installation, über zehn Steinhütten in einer unwahrscheinlich schönen Landschaft verteilt, die auf einer etwa zehn Kilometer langen Wanderung erschlossen werden kann. Ich musste mich dafür auf der Website hangingstones.org anmelden und ein Ticket buchen. Pro Tag gibt es vier Slots, in denen man losmarschieren kann, und zwar nicht im Pulk von Kunstinteressierten, wie in den meisten Museen, sondern ­allein oder in Begleitung jener Menschen, in deren Gesellschaft man dieses Wunder der Natur und Kunst erleben möchte.

In einer ein bisschen entrischen, aber wundervollen Frühstückspension namens Sevenford House holte ich mir einen Schlüssel ab, der die Schlösser besagter Hütten und Häuschen öffnet, um Goldsworthys Kunst betrachten zu können. Ich ging also von Rosedale Abbey ein tiefgrünes Tal bergauf, ausgestattet mit einer Wegbeschreibung, einer Landkarte, Regenschutz und festen Schuhen – und einer Spannung, die aus der Bewunderung dieser üppig grünen, von zahllosen Trockenmauern durch­zogenen Landschaft entsprang, wo sich Hunderte Schafe ziemlich zufrieden über ihr Gras hermachten. Dann die Kunst. Ein schwebender Fels in der ersten Hütte. Ein überlebensgroßer Kegel aus oberarmdicken Wurzeln, in den von oben das Licht des Tages fällt. Ein Baum, der quer durch einen Dachstuhl wächst. Der Anstieg ins Moor, wo die Kapelle steht, die eine Ellipse aus Licht verehrt. Ein Haus aus rotem Licht. Ein Haus, an dessen Mauer schwerste Felsbrocken federleicht tanzen. Ein Haus, durch das rotes Wasser fließt. Klingt ein bisschen kryptisch, ich weiß, war aber auf eine Weise beglückend wie etwa die Jakobsmuschel aus dem Mýse oder die Sellerie aus dem L’Enclume. Und anders als bei der Sitzmeditation am Starnberger See kann ich den Erfolg dieser Walking Meditation zu hundert Prozent garantieren. —

INFOS:
Mýse

restaurantmyse.co.uk
L’Enclume
lenclume.co.uk
The Worsley Arms Hotel
worsleyarms.co.uk

Hoher Spaßfaktor in Hovingham: ex­zellentes Essen im Mýse (oben) von Küchenchef Joshua Overington (li.) entspannte Pubkultur im Worsley Arms Hotel (unten)



Um die Ecke gedacht: Simon Rogans Restaurant L’Enclume ist in einer ­ehemaligen Schmiede untergebracht. Wüsste man, dass „l’enclume“ Amboss bedeutet, wäre man weniger überrascht.

Perfekter Ausdruck britischen Understatements abseits von Städten und Touristenrouten: das L’Enclume in Cartmel, Lake District
Jeden Umweg wert:
Simon Rogans L’Enclume. Alles Gemüse kommt von der eigenen Farm, die Gerichte (unten) sind von atemberau­bender Präzision.

Die wichtigste kulinarische Währung ist, ein Gericht nie mehr zu vergessen.
Simon ­Rogans Sellerieteller ist so ein Gericht.