Pizza-Mania

So viele Pizza-Fans wie noch nie pilgern derzeit nach Neapel und Umgebung, um die Geheimnisse der einzig wahren Teigflade zu entdecken. Zahlt sich die Reise tatsächlich aus?

Text von Georges Desrues

Man muss schon sehr verrückt nach Pizza sein, um sich in Neapel, jener Stadt, die als ihre Wiege und Hochburg gilt, in der sie Kult und Wahrzeichen ist und wo es wunderbare Pizzen an jeder Ecke gibt, in einen Pendelzug zu setzen, nur um zur Pizzeria zu tuckern, die eineinhalb Stunden entfernt liegt. Und dennoch tun tagtäglich Hunderte Teigfladen-Aficionados aus aller Welt genau das. Die Pizzeria heißt Pepe in Grani und liegt in dem kleinen Ort Caiazzo in der Provinz Caserta, hoch oben auf einem Hügel und mit sensationellem Blick über das malerische Volturno-Tal. Zu internationaler Berühmtheit gelangte sie spätestens nach einer Folge der Netflix-Serie Chef’s Table, die mit etwas viel Ernst und Pathos die Arbeitsmethoden ihres gleichermaßen berühmten Betreibers Franco Pepe in Szene setzt. Doch begonnen hat das mit dem Starruhm schon früher.

„Eines Tages, vor circa zehn Jahren, kam ein amerikanischer Journalist zu uns. Später erst erfuhr ich, dass es Jonathan Gold war“, erzählt Franco Pepe, ein schlanker Mann mit rasiertem Kopf, weißem Bärtchen und Brille, der eher wie ein Mittelschullehrer aussieht als ein süditalienischer Pizzaiolo. Jonathan Gold, 2018 verstorbener, geradezu mythischer Gastro-Kritiker und erster solcher, der mit dem prestigereichen Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, hatte nach seinem Besuch geschrieben, dass Pepes Pizza die beste sei, die er jemals gegessen habe. „Mehr hat es nicht gebraucht – und es reiste ganz Amerika an“, erinnert sich der Wirt. Bald darauf erschien auch noch im angesehenen Phaidon-Verlag das Buch Where to Eat Pizza, in dem das Pepe in Grani zur besten Pizzeria der Welt gewählt wurde und den Hype um das Lokal zusätzlich ankurbelte. Als dann auch noch besagte Chef’s Table-Folge ein Porträt des Pizzaiolo zeigte und wie er seine Margherita sbagliata („verkehrte Margherita“) macht, war der Triumph des heute 60-Jährigen perfekt.

„Die Margherita sbagliata entstand aus der Überlegung, dass unsere Tomaten hier aus der Gegend in Wahrheit viel zu gut sind, um im Ofen gebacken zu werden“, sagt Pepe, „also püriere ich sie und gebe das Coulis erst auf die fertige Pizza, wodurch sie ihren Geschmack und ihre Frische behalten.“ Dazu kommen noch ein paar grüne Tupfer Basilikum-Essenz, die zusammen mit dem Mozzarella und den Tomaten – genau wie bei der „richtigen“ Margherita – die Farben der italienischen Trikolore ergeben. Die Pizza ist in der Tat wunderbar: der Teig knusprig, ihr Rand luftig, das Tomaten-Coulis geschmacklich intensiv. Ob sie die Anreise nach Caiazzo tatsächlich wert ist, muss freilich jeder für sich entscheiden. Jene 500 Fans aus aller Welt, die allabendlich bei Pepe einkehren und unaufhörlich Fotos und Selfies schießen, haben da offenbar wenig Zweifel. Allerdings entscheiden sich die allermeisten von ihnen nicht für eine ganze Sbagliata um 11 Euro (die klassische Margherita gibt’s schon um die in Italien üblichen 7), sondern für eine der Pizza-Verkostungen um 35, 45 beziehungsweise 65 Euro, bei der man bis zu acht unterschiedliche Ecken serviert bekommt.

„In den zehn Jahren, die seit dem Artikel von Jonathan Gold vergangen sind, hat sich der Hype um die Pizza ganz allgemein unaufhörlich gesteigert“, sagt der Welt wohl berühmtester und gefragtester Pizzaiolo, der gleich drei Mobiltelefone und einen Assistenten mit zwei weiteren Telefonen zum Interview mitbringt. Im Zuge des Hypes sei auch eine inzwischen nahezu unüberschaubare Fülle an Lokalführern, Listen und sonstigen Pizza-Bewertungssystemen entstanden, von denen allerdings nur die wenigsten seriös und ernst zu nehmen seien, wie Pepe betont. Eine dieser Wertungen nennt sich 50 Top Pizza und verleiht gleich eine ganze Lawine an Preisen in verschiedensten Kategorien. So gibt es etwa den Titel „Beste Pizzeria Europas“, was allerdings nicht Italien miteinschließt, das in einer eigenen Liga spielt. Diese gilt naturgemäß als die Königsdisziplin und wurde von der Pizzeria I Masanielli von Francesco Martucci gleich vier Mal hintereinander gewonnen. Da war der Titel „Beste Pizzeria der Welt“, den sie auch einheimste, gewissermaßen nur eine Draufgabe.

Das I Masanielli liegt in Caserta, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, zu der auch Caiazzo gehört. Bekannt ist die Stadt für ihren imposanten Barockpalast der Bourbonen-Könige und ihre umwerfend präch­tigen Gartenanlagen. Deutlich weniger glamourös ist das Setting der nahe gelegenen Pizzeria in einem Einkaufszentrum an einer Ausfallstraße.
Dennoch hat sich hier kurz vor 12 Uhr mittags bereits eine lange Menschenschlange gebildet, die auf Einlass wartet. Kaum gehen die Türen auf, sind auch schon alle Tische besetzt. Da er auch mittags geöffnet hat, verkauft Martucci noch mehr Pizzen als Pepe. Nämlich im Schnitt 1.200 Stück am Tag. Der Dekor ist im Industriedesign gehalten, viel schwarzes Metall, viel Chrom und sichtbare Belüftungsrohre. Auch hier gibt es ein achtgängiges Degustationsmenü um 70 Euro, das jedoch deutlich kreativer ausfällt als im Pepe in Grani. So wird etwa eine sogenannte Pizza fiori di zucca al quadrato serviert, die mit Creme aus Zucchini, Zucchiniblüten, Algen sowie geräuchertem Provolone-Käse gebacken und mit Zucchiniblüten, Sardellen-Mayonnaise und Algen-Öl belegt wird.

Aushängeschild des I Masanielli sind jedoch die sogenannten „Pizzen mit drei Temperaturen“. In ihrem Fall wird der Teig zuerst bei 100 Grad gedämpft, danach bei 180 Grad frittiert und schließlich belegt und bei 400 Grad im Ofen gebacken. „Die unterschiedlichen Temperaturschocks sorgen für eine unvergleichliche Konsistenz und den typischen Crunch“, sagt Francesco Martucci. Der Wirt, ein Fels von einem Mann, entspricht optisch auch nicht gerade dem Klischee des Pizzaiolo. In schwarzer Kluft und mit bunt tätowierten Armen erinnert der 45-Jährige vielmehr an einen Rocker. Prompt erzählt der Maestro – wie er genannt wird –, dass er gestern erst aus Las Vegas zurückgekehrt sei, dort anlässlich einer Exhibition sein Können präsentierte und in seiner Freizeit mit einer Harley-Davidson durch Nevada gecruist sei. Seine Drei-Temperaturen-Marinara, genannt Futuro di Marinara, ist jedenfalls ziemlich spektakulär. Der für Neapel und sein Umland typische hohe Rand – der sogenannte „cornicione“ – gerät luftig-leicht und knusprig zugleich. Anspruchsvoll intensiv und beherzt salzig, wie es sich für eine Marinara gehört, indessen der käsefreie Belag aus gerösteten Tomaten und Oregano. Statt dem üblichen Knoblauch verwendet Martucci Bärlauchpesto und garniert seine Marinara auch noch mit Kapern und Sardellen, was ihr, alles zusammengenommen, im Jahr 2020 den Titel „Pizza des Jahres“ einbrachte.

„Die Futuro di Marinara ist einerseits innovativ, erinnert aber zugleich an eine Pizza, wie sie eine italienische Großmutter zu Hause machen würde, mit klassischen Zutaten, die sich in jeder Küche finden. Damit weckt sie Erinnerungen und Emotionen, genau was die Leute wollen“, sagt Martucci. Angesprochen auf seinen Erfolg, die vielen Titel und Preise, antwortet der Maestro: „Natürlich bereiten mir die ganzen Auszeichnungen viel Freude und Ehre. Gleichzeitig spornen sie auch an, sich niemals auszuruhen, weiterzuarbeiten, noch besser zu werden. Denn inzwischen ist der Hype um die Pizza so groß geworden, dass ein gewaltiger Wettlauf um Exzellenz entstanden ist, bei dem jeder der Beste sein will.“

Der geheime Pizza-Star in Wien
An dem Wettlauf beteiligt sich auch Francesco Calò, dessen Pizza Nero di Marinara (also gleichfalls eine Interpretation der Marinara) erst im vergangenen Mai zu „Europas Pizza des Jahres 2024“ gewählt wurde. „Es ist eine klassische Marinara, die ich zusätzlich zur Tomatensauce mit sautierten Dattel-Tomaten belege, wodurch die Tomaten in zwei verschiedenen Konsistenzen daherkommen. Außerdem verwende ich einen besonders aromatischen Gebirgsoregano und den fermentierten schwarzen Knoblauch aus Voghiera, dem die Pizza ihren Namen verdankt“, erklärt der gebürtige Apulier. Aufgewachsen sei er als Bäcker-Sohn zwischen Mehlsäcken, weswegen es nur logisch sei, dass er seinem Natursauerteig ganz besondere Aufmerksamkeit widme, auch Vollkornmehl hineinmische und ihn bis zu 48 Stunden gehen lasse. Calòs Pizzeria Via Toledo Enopizzeria belegt in der Europawertung der 50 Top Pizza den hervorragenden dritten Platz. Was umso erfreulicher ist, als sie sich in Wien Josefstadt befindet und somit heimischen Pizza-Aficionados die Reise bis nach Süditalien erspart. Mit Ausnahme natürlich der eingefleischtesten unter ihnen, die werden die Pilgerfahrt ins gelobte Land der Pizza wohl dennoch antreten. —

INFOS
Pepe in Grani
In Caiazzo in der Provinz Caserta ­produziert Franco Pepe sozusagen die ­ultimative Pizza-Benchmark. Berühmt ist er vor allem für seine Margherita ­sbagliata („verkehrte Margherita“).
pepeingrani.it
I Masanielli di Francesco Martucci
Berühmt für die sogenannten „Pizzen mit drei Temperaturen“. Der Teig wird ­zuerst bei 100 Grad gedämpft, danach bei 180 Grad frittiert, dann belegt und bei 400 Grad gebacken.
pizzeriaimasanielli.it
Via Toledo Enopizzeria
Der Platz 3 in der Europawertung der 50 Top Pizza macht das Lokal in Wien für Pizza-Fans besonders interessant. Ob die Pizza bei Pizza-Freaks tatsächlich mit jenen der Topstars in Neapel mithalten kann?
viatoledo.at
Noch mehr beste Pizzerien
Weil es ja mittlerweile für alles ein Ranking geben muss, haben auch die Pizzerien weltweit ihre Challenge. Kompetent und in der Branche anerkannt ist das jährliche 50 Top Pizza-Ranking, das neben Italien auch Wertungen für Lateinamerika, Asien sowie eine globale World-Chart
präsentiert.
50toppizza.it

Franco Pepe, ehemaliger Turnlehrer und Superstar der Pizza; oben Pepes weltberühmte Interpretation
der Margherita – die Margherita­ ­sbagliata mit Coulis aus frischen Tomaten.
O. re. Maestro Martucci, Rekordsieger in der Königsdisziplin der Pizzaioli. Bei Martucci wie bei Pepe entsteht der Teig in Handarbeit. Unten li.: In Neapel und Umgebung das Um und Auf einer gelungenen Pizza: der möglichst hohe und luftige Rand („cornicione“)
Drei unterschiedliche Pizzaioli mit drei unterschiedlichen Stilen, aber alle drei mit Vollglatze. Hier der in Wien ansässige Apulier Francesco Calò. Unten Calòs Starprodukt und Europas „Pizza des Jahres“, die Nero di Marinara