Unter den Sternen des Engadin

Abstecher nach St. Moritz: in die Welt der Grandhotels und Edeljausen.

Text von Christian Seiler
(c) Markus Roost

Als ich dem jungen Herrn in der betroddelten Uniform und dem Zylinder zusah, wie er in mein Auto stieg und es möglichst rasch aus dem Gesichtsfeld möglicher Gäste des Palace Hotel entfernte, empfand ich eine gewisse Dankbarkeit. Mein kleiner Volvo hatte zwischen den Range Rovers und Porsche Cayennes ein bisschen verloren ausgesehen, geschweige denn neben dem etwa 25 Meter langen Rolls-Royce, der einmal Königin Elisabeth gehört hatte und von dieser dem Palace zum Geschenk gemacht worden war. Mit diesem Fahrzeug werden jetzt die Gäste des Grandhotels abgeholt, die für die Anfahrt nach St. Moritz der Rhätischen Bahn vertrauen. Das macht schon was her, wenn auf dem Bahnhofsparkplatz ein Herr mit Zylinder auf dich wartet und dir den Wagenschlag einer Rolls-Royce-Limousine aufhält, die an Königinnen gewöhnt ist. Der Wermutstropfen an der Sache ist nur der, dass die Fahrt vom Bahnhof zum Hotel maximal zwei Minuten dauert, vielleicht drei, wenn ein Pferdewagen den Aufstieg verzögert. Man hat also nicht allzu viel Zeit, um sich wie ein gekröntes Haupt zu fühlen, aber immerhin.

St. Moritz ist ein hübscher Ort. Ha, ich weiß, dass man mit Nullaussagen wie dieser im Engadin keinen Blumentopf gewinnt, denn St. Moritz ist nicht nur ein hübscher Ort, sondern ein Knotenpunkt der Superlative. Hier kommt vieles zusammen. Die Ortschaft, 1.822 Meter hoch gelegen, liegt malerisch am St. Moritzersee, seinerseits auf 1.768 Metern und deshalb im Winter auch gerne zugefroren. Wenn man sich die Arbeit antut und den See zu Fuß umrundet, bekommt man eine schöne Totale von St. Moritz zu sehen: in der Mitte die Pfarr­kirche St. Mauritius, dann aber stechen schon die großen Kästen hervor, allesamt Grandhotels der obersten Kategorie, das Badrutt’s ­Palace mit seinem charakteristischen Turm, davon wird noch zu erzählen sein, das Grandhotel Kulm, das ­Suvretta House, das Des Bains Kempinski, das Carlton. Es ist ja nicht so, dass ich in Österreich noch keine Grandhotels zu sehen bekommen hätte – die entsprechende Tradition gibt es bei uns bekanntlich auch. Nur: Das berühmte Panhans auf dem Semmering ist auf Nimmerwiedersehen verpfuscht, das Südbahn Hotel eine ewige Baustelle, für die es zwar Zukunftspläne gibt, an deren Umsetzung ich aber nicht so recht glauben kann. Auch in den wundervollen Grandhotels von Bad Gastein ist einzig ihre große Vergangenheit für einen gewissen Zauber verantwortlich. Als gelernter Österreicher hatte ich mir längst eingestanden, dass die Zeit der Grandhotels einfach abgelaufen sei, dass es wohl nicht mehr das Publikum gebe, das die notwendigen Preise bezahlen kann, um solche Paläste am Leben zu halten. Nach einem halben Tag in St. Moritz muss ich allerdings sagen: Aber hallo! Es gibt die Paläste, und sie haben ihr Publikum. Das Publikum stammt aus der ganzen Welt, spricht Englisch, Indisch, Brasilianisch, Arabisch, manchmal auch Deutsch. Als ich in der imposanten Halle des Badrutt’s saß, hörte ich eindeutig deutsche Sätze, mit dem eine Frau, die Fiona Swarovski enorm ähnlich sah, ihrem riesigen weißen Hund anschaffte, er solle „jetzt aber wirklich Platz“ machen.

Ich ging durch den Ort und lief Gefahr, mich zu verkühlen, weil ich den Mund nicht zubrachte vor Staunen. Schräg gegenüber vom Badrutt’s befand sich ein Loro-Piana-Shop von solcher Dimension, wie ich ihn nicht einmal in Mailand gesehen hatte, und auch all die übrigen Brands, die wir aus den teuren Innenstädten und von den internationalen Flughäfen kennen, hatten sich in die Erdgeschoße trutziger Bündner Häuser eingemietet, sodass man das bekam, was die Schweizer „s’foifi und s’weggli“ nennen, also nicht das protestantische Entweder-Oder, sondern ein barockes Sowohl-als-Auch: auf die Spitze getriebener Großstadtschick bei klarster Berg­luft und Aussicht auf weiße Gipfel. Da ich einfach gestrickt bin, freundete ich mich mit all dem Luxus schnell an, vor allem, weil mein Hotel, das Badrutt’s, über Einrichtungen verfügt, deren Zauber ich gar nicht hoch genug schätzen kann. Mein Favorit unter den Sehnsuchtsorten ist ja seit jeher die Hotelhalle. Ein Blick auf die leeren Polsterstühle im gedämpften Licht genügt, und schon bin ich auf Reisen. Ich kann den Kokon der luxuriösen, handwarmen Stimmung spüren, der mich einhüllt, während ich mich in einen der gut gepolsterten Fauteuils sinken lasse, um – und hier fängt die Geschichte eigentlich an – nichts zu tun, außer hier zu sein. Sicher, ich könnte aufstehen und nach draußen gehen, und ich würde etwas sicherlich Wunderbares sehen, riechen oder wahrnehmen. Aber ich tue es nicht. Ich hole mir auch keine Zeitung und kein Buch, denn die Hotelhalle ist ein Kristallisationsort der qualifizierten Zeitlosigkeit, und von der Option, die Zeit auch einmal ausspannen zu lassen, mache ich genau hier Gebrauch.

In der „Grand Hall“ des Badrutt’s sind die Ablenkungsoptionen vielfältig. Ich könnte mich an das riesige Fenster setzen, das sich zum See und den dahinter aufsteigenden spektakulären Bergflanken öffnet. Gerhard Richter hat diese Farben und Formen in ewige Kunst überführt, aber ich mag mir diesen gestaltenden Blick gerade nicht zumuten. Stattdessen wähle ich einen Stuhl im vorschriftsmäßigen Halblicht, das die Halle sowohl tagsüber als auch nachts warm und selbstverständlich füllt, und wähle den Blick nach Innen. Damit meine ich einerseits die Facetten der Ausstattung, die in dieser Halle erstaunlich viele klerikale Akzente aufweist, die kunstvoll geschnitzten Kassettendecken in atemberaubender Höhe, die Figurinen auf kleinen Emporen, das Spiel des Lichts auf bordeauxroten Samtbezügen, die Reflexionen an den Wänden und die Emotionen, die das alles im Zusammenspiel in meinem Inneren auslöst. Also ungefähr das, was Peter Handke die „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ nannte.

Natürlich könnte ich mich auch dem Guest Watching, dem vielleicht beliebtesten Gesellschaftsspiel in Hotelhallen, widmen. Wer mag der Cowboy sein, der hier so breitbeinig die Lobby betritt? Wer die Frau mit den drei schneeweißen Hunden und der Zigarrenraucherstimme? In Hotels, die so „grand“ sind, dass sie dem Müßiggang eine ganze Halle widmen können, ist es ja eher die Regel als die Ausnahme, Menschen zu begegnen, deren Gesicht man aus der Zeitung kennt (und zwar egal, ob man hier Gast ist oder nur flüchtiger Besucher). Man muss verschiedene Wahrnehmungen in Übereinstimmung bringen: Sehe ich da Aura? Grandezza? Wettbewerbshärte? Oder verwechsle ich gerade Carlo Ancelotti mit dem Oberkellner der Kronenhalle? Aber ich sitze nicht nur tief in meinem Polstersessel, um mich zu amüsieren. Ich bin hier, um mir ein Stück aus dem Tag zu schneiden, in dem die Uhr zu ticken vergisst. Vielleicht bestelle ich mir einen Tee, und wenn mich ein kleiner Hunger plagt, bemühe ich mich um ein Club Sandwich, das kulinarische Esperanto, das in allen Hotelhallen der Welt gesprochen wird. Zuerst lasse ich den Blick schweifen, dann die Gedanken. Vielleicht fällt mir etwas ein, vielleicht nicht. Beides ist mir gleich lieb, wenn es nur an diesem Ort geschehen darf. Die Momente, wenn man in der Hotelhalle allein ist, sind selten. Man nutzt die Großzügigkeit der Halle mit anderen, die – um den Feuilletonisten Alfred Polgar zu paraphrasieren – zum Alleinsein Gesellschaft brauchen. Als geübter Kaffeehaussitzer würde ich nicht abstreiten, dass diese etwas heimtückische Charakterisierung auch auf mich selbst zutrifft, ich mag nämlich den verständnisvollen Moment, wenn jemand die Halle betritt, mich sieht, mir vielleicht unmerklich zunickt und dann den Platz aussucht, der am weitesten entfernt ist. Ich hätte es nicht anders gemacht. Die Hotelhalle ist der Konjunktiv des Reisens. Ich könnte jetzt aufstehen, an die Sonne gehen und den letzten Schnee des Jahres genießen, der gestern Nacht gefallen ist. Aber ich hebe mir das für später auf, weil ich mich gerade in dieser wundersamen Zwischenwelt so wohl fühle, an dem heiligen Ort, der zwischen Weg und Ziel, zwischen Aufbrechen und Ankommen liegt.

Ich habe mir ein bisschen Zeit gelassen, um zum Kern meines Aufenthalts in St. Moritz vorzustoßen, der selbstverständlich kulinarisch motiviert war. Die Person, die dabei im Mittelpunkt stand, war Zineb Hattab, eine junge Frau marokkanisch-spa­nischer Herkunft, die in Zürich ein ­veganes Fine-Dining-Restaurant namens Kle betreibt. Zizi, wie Zineb von Team und Freunden genannt wird, hatte mir den Wink gegeben, dass ihr Pop-up im Badrutt’s Palace interessant für mich sein könnte. Das stimmte, zumal ich gerade dabei war, einen größeren Porträttext über sie zu verfassen und die außerordentlichen Fähigkeiten Zizis gerne in neuem Kontext betrachten wollte. Ihre Biografie ist spektakulär genug. Zizi wuchs in Barcelona auf, wohin ihre Eltern aus Marokko eingewandert waren. Weil Zizis Vater nach guter alter Aufsteigermanier unbedingt wollte, dass seine Kinder es besser haben sollten als er selbst, besuchte sie die technische Universität und besorgte sich einen Abschluss in Software-Engineering. Erst nach absolvierter Graduierung wich sie vom Masterplan ihres Vaters ab, besann sich ihrer Liebe zum Kochen und meldete sich für Praktika in Spitzenküchen an, unter anderen bei Andreas Caminada. Der hatte sie gewarnt, dass es nicht einfach werden würde für eine junge Köchin ohne Gastroerfahrung. Er hatte recht, aber Zizi biss sich durch. Sie lernte, bis sie sich fit fühlte, den nächsten Schritt zu gehen: nach New York, ins Cosme und ins Blue Hill. Das war noch härter, und es stellte die junge Köchin vor größte Herausforderungen, bis sie wieder zurück nach Europa ging und nach ein paar Zwischenstationen erneut bei Caminada anheuerte, diesmal als Leiterin seiner Test-Kitchen. Als Zizi beschloss, endlich ihr eigenes Restaurant zu eröffnen, fand sie eine kleine, heimelige Beiz im Zürcher Kreis 3. Sie stellte ein Team zusammen, hatte einen konkreten Zeitplan fürs Aufsperren, nur eine Kleinigkeit änderte sich buchstäblich wenige Tag vor dem Start. Von heute auf morgen entschied Zizi, dass sie nicht mehr Fleisch, Fisch, Butter und Eier verkochen, sondern auf selbem Niveau rein pflanzliche Küche anbieten wollte. Ich hatte darüber mit einigen Mitarbeiterinnen von Zizi gesprochen, und das Erstaunen über diese radikale Entscheidung stand vielen noch Jahre später ins Gesicht geschrieben. Aber es war der Beginn einer außergewöhnlichen Reise. Das Kle stieg innerhalb kürzester Zeit zu einem umschwärmen Ort der Zürcher Gastronomie auf, vor allem deshalb, weil Zizis vegane Küche so klug, überwältigend und genussfreudig herauskam, dass sämt­liche Klischees vom lustfeindlichen Veganismus Lügen gestraft wurden. Zizis Ruf wurde auch in St. Moritz gehört, und das Badrutt’s bot ihr eines seiner Restaurants am, um dort die Kle-Küche seinem internationalen Publikum schmackhaft zu machen. Als besondere Fügung ergab es sich, dass Joan Roca, Küchenchef des El Celler de Can Roca aus Girona, der Einladung seiner früheren Schülerin gefolgt war und mit Zizi einen gemeinsamen Abend ausrichtete. So viel zum Glamourfaktor der kulinarischen Institutionen in St. Moritz – und ich rede dabei nur von einem einzigen Hotel. Anderenorts wirkten gleichzeitig Persönlichkeiten wie Mauro Colagreco oder Tim Raue, dem Luxus sind selbstverständlich keine Grenzen gesetzt. Der Abend mit Zizi und Joan Roca war übrigens ein großer Spaß. Joan, der sich ebenfalls auf vegane Gerichte beschränkte, gab bereitwillig Auskunft über die Qualitäten von Zizi, und Zizi selbst schoss mit ihrem Signature Dish, einem artistisch geschnittenen und gegrillten Kohlrabi mit Aguachile, Kartoffeln und Erdnüssen, den Vogel ab.

Die Allgegenwart von Luxus hat etwas Eindrucksvolles, aber auch Ablenkendes. Man könnte glauben, dass es sich dabei um die wirklich echte Realität handelt, in der man gerade lebt. Der Chef der Patisserie des Palace erzählte mir, dass zu seinen kulinarischen Überzeugungen vor allem die Bereitschaft gehöre, sie immer und überall zur Anwendung zu bringen. „Sollten Gäste um drei Uhr früh Lust auf einen Kaiserschmarren haben, dann werden wir ihnen diesen Kaiserschmarren zubereiten. Wir befinden uns hier in einer Welt, die Service über alles stellt.“ Ich überlegte mir also an einem Abend, an dem ich spät ins Bett gegangen war, ob ich vielleicht noch einen Kaiserschmarren aufs Zimmer bestellen sollte. Nein, Quatsch, natürlich überlegte ich mir das nicht, aber ich begriff, dass die Hemmung, die diesen Gedanken begleitete, in Häusern wie diesem schneller fallen könnte als anderswo. Große Hotels sind eine Welt für sich, aber es gibt schließlich mehr als eine Welt. Also schlich ich mich hinaus in den Ort, versuchte die schicken Boutiquen zu ignorieren und nach Plätzen zu suchen, wo sich Menschen aufhielten, die gerade keine Kaschmir-Ausstattung für 12.000 Franken kaufen wollten, sondern ein Sandwich oder eine Wurst. Ich fand so einen Ort, und es war ein super Ort. Es handelte sich um eine Filiale des Bündner Metzgers Hatecke, die fast versteckt in einem alten Steinhaus untergebracht ist. Nun ist Hatecke kein unbekannter Metzger. Er hat nicht nur hohe Qualitätsansprüche, sondern ein völlig neues Präsentationssystem für Fleischwaren entwickelt. Als ich zum ersten Mal in einer Hatecke-Metzgerei vorbeischaute, dachte ich, ich wäre im falschen Film. Die Fleischteile lagen, von Spots ausgeleuchtet, auf schwarzem Untergrund in einer Glasvitrine, so wie an anderen Orten Schmuckstücke oder Uhren ausgestellt werden. Bündnerfleisch oder Salsiz von Ha­tecke zählen zu Recht zu den Delikatessen des Engadin, und hier in der Stube kann man sie genießen, mit einem Bier oder einem Glas Wein. Weil ihr fragt: nicht irgendwelche Weine, ich sah Flaschen von Giacomo Conterno und andere Preziosen, sodass die informelle Situation durchaus Veredelungspotenzial besaß. Andererseits gibt es fast nichts Schöneres, als in aller Ruhe ein gutes, mit der Hand geschnittenes Carne cruda zu verzehren und dazu ein Glas Nebbiolo zu trinken. Dachte ich mir jedenfalls und beließ es nicht bei dem einen Glas.

Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber auch Fügung, dass Signora Monica ausgerechnet jetzt zur Tür hereinkam. Monica ist eine qualifizierte Weltreisende, mit der ich zuletzt in Kolumbien unterwegs gewesen war (A la Carte 3/2016). Sie erblickte mich, schenkte mir das freundliche, aber nicht unbedingt erstaunte Lächeln, das Weltreisenden eignet, die nie und nirgendwo davon überrascht sind, wenn sie andere ihres Schlages antreffen, vor allem nicht an Orten, die es wert sind, besucht zu werden. Sie besorgte sich also ein prickelndes Getränk, setzte sich zu mir und schmiedete augenblicklich Pläne. „Wo wohnst du, im Palace? Sehr schön. Dort bin ich als Kind jeden Tag in der Küche ein und aus gegangen.“ Monica nahm einen ernsthaften Schluck von ihrem Getränk und prüfte die Wirkung der Perlage am Gaumen. Ich erinnerte mich daran, dass sie mir einmal unter karibischer Sonne in aller Ausführlichkeit erklärt hatte, warum sie lieber Prosecco als Champagner trinkt, und es ging dabei nicht ums Geld. Den Rest habe ich leider vergessen. „Zuerst einmal machen wir eine Runde durch den Ort, damit du weißt, wo du überhaupt bist. Dann bestelle ich einen Tisch in der Chesa Veglia, und dort unterhalten wir uns weiter.“

So kam ich zu einer Runde durch St. Moritz, die ein bisschen ausgedehnter war, als das, was ich bis dahin gesehen hatte. Monica brachte mich zur weltberühmten Cresta-Bahn, zeigte mir das Olympiastadion von 1928, eine schiffsähnliche Anlage mit schlichtem Turm, das inzwischen vom Möbeldesigner Rolf Sachs als Privatunterkunft genutzt wird. Ach so, Sachs: Rolfs Vater Gunter Sachs, auch unter dem Namen Gunter Sachs von Opel bekannt, war ein deutsch-schweizerischer Indus­triellenerbe, dessen Abenteuerlust und Hang zum Glamour in den Sechziger- und Siebzigerjahren
einiges zum Glanz von St. Moritz beigetragen hat. Er war Bobfahrer, Fotograf, Dokumentarfilmer, Kunstsammler und Astrologe – und pflegte einen außergewöhnlich extrovertierten Lebensstil, unter anderem in seiner Ehe mit Brigitte Bardot. „Er hat in der Turmsuite des Palace gewohnt“, erklärte Monica sachlich, als wäre es keine große Sache, fünfstellige Beträge pro Nacht für eine Unterkunft auszugeben. Aber wie gesagt, St. Moritz und das Geld, da ist irgendwas durcheinander geraten.
Ich sah kleine und größere Villen oberhalb des St. Moritzersees – „das hier ist die von Hubert ­Burda“ –, machte einen Abstecher in die fantastische Halle des Suvretta House, wo wir, richtig, ein sprudelndes Getränk zu uns nahmen, um dann anschließend mit dem Lift in die Höhe zu fahren und dabei den Suvretta-Hang aus der Vogelperspektive zu betrachten, der die teuersten Grundstücke der Schweiz beherbergt: „Wenn du hier ein Haus kaufen willst, brauchst du unter hundert Millionen gar nicht erst anzufangen“, sagte mir Monica, bevor sie mich auf ein paar architektonische Entgleisungen aufmerksam machte und schließlich mit der interessanten Information herausrückte, dass mindestens die Hälfte der Wohnflächen am Hang unsichtbar, weil unter ihm eingegraben seien. Oben sei einfach nicht genug Platz für den Wohnbedarf des internationalen Jetsets.

Wir spazierten dann von der Bergstation des Suvrettalifts hinüber zum Paradiso, der rustikalen Skihütte, von deren Terrasse aus man einen weiten Blick in die außergewöhnliche Landschaft des Engadin hat. Monica ist ja eine Weltmeisterin im Besorgen schönster Tische, aber im Paradiso ist das glamouröse Unterdeck den Mitgliedern des „Clubs“ vorbehalten, jenen Menschen also, die einen Jahresbeitrag in der Größenordnung eines Kleinwagens für die Möglichkeit bezahlen, hier ohne zeitliche Beschränkung jausnen zu können. Wir jausneten dann am Oberdeck ein „Paradiso Plättli“, Trockenfleisch, Entenrillettes, verschiedene Käse und Maggia-Brot, natürlich begleitet von ein paar Bubbles und Geschichten über die Berühmtheiten, die hier schon die eine oder andere Mahlzeit eingenommen hatten, von gekrönten Häuptern bis zu den gegenwärtigen Masters of the Universe. Wir hätten auch Austern bestellen können oder Lobster oder Pizza mit schwarzer oder weißer Trüffel, blieben aber auf dem Boden. Ja, das geht.

Später zeigte mir Monica das fantastische Museum mit Werken von Giovanni Segantini, die ich gern bestaunte, und dann kehrten wir in die Ortschaft zurück, in dessen geografischem Mittelpunkt sich ein altes Bauernhaus befindet, das aus 1658 stammt und inzwischen die vielleicht schönsten Restaurants von St. Moritz beherbergt. Das Haus trägt den Namen Chesa Veglia, rätoromanisch für „altes Haus“. Hier ist die klandestine Bar zu Hause, in der sich die Polostars nach ihren Wettkämpfen auf dem zugefrorenen See treffen. Hier ist ein klassischer Grill der elegantesten Art untergebracht und im Stock darüber die Stuben für die höheren Stände, die nicht von ungefähr Patrizier Stuben heißen. Auf dem ehemaligen Heuboden des alten Hauses befindet sich schließlich die Pizzeria, auf deren Tischen in der Wintersaison der allergrößte Run besteht. Wer in St. Moritz einfach essen gehen will, versucht, hier einen Tisch zu reservieren, um dann im Getümmel des zweistöckigen Raums eine Pizza „Dama Bianca“ zu genießen, Mozzarella bufala, Parmesan und Trüffel, und aus der eindrucksvollen Weinkarte des Hauses die richtige Flasche zu pflücken. Monica führte mich durch das Haus und zeigte mir seine schönsten Ecken. Wo immer sie hinkommt, könnte man sie sofort für die Inhaberin halten. Die Polo Bar befand sich unter dem schwarzen Gewölbe einer ehemaligen Küche, und ich konnte keinen Anhaltspunkt dafür finden, ob ich gerade eine Zeitreise in die Fünfzigerjahre gemacht hatte, wenn nicht aus einem antiken CD-Playerturm ein Song von Billie Eilish geströmt wäre. Anderen Orten war die Zeitlosigkeit noch virtuoser eingeschrieben, etwa der Bar Carigiet, die der große Schweizer Künstler mit seinen charakteristischen Sgraffitos versehen hatte. Im Winter wird hier Fondue serviert. Später zwängten wir uns durch den Grill Chadafö, die frühere, gemauerte Küche des Hauses, wo heute nicht nur die großen, edlen Fleischstücke, Stroganoff, Lammkoteletts, Côte de veau, Chateaubriand, zubereitet werden, sondern auch ein Klavier steht, mit dem die Gäste abends bei ihren Tête-à-Têtes romantische Untermalung geliefert bekommen. Zu essen bekamen wir schließlich in den Patrizier Stuben, dem Engadiner Restaurant, in dem Monica mit ihrem unvergleichlichen Lächeln die Lücke im Reservierungsbuch gefunden hatte. Das Lokal besaß patinierte Holzvertäfelungen, Tisch­tücher aus Brokatstoffen, elegante, eigenwillig gedrechselte Stühle aus Vollholz und Geschirr mit bemalten Blumenrändern. Das Personal trug weiße und purpurrote Jacken, der Wein wurde im Eiskorb serviert – und natürlich schaffte es Monica, dass wir das Bressehuhn vom Grill Chadafö serviert bekamen, mit Rosmarin und Kartoffeln. Der Kellner, der das köstliche Teil für uns tranchiert hatte, hielt es sogar aus, dass Monica zum Huhn keinen Pinot noir trinken wollte, sondern Prosecco. Stammgäste dürfen so was.

Ich blieb ein paar Tage in St. Moritz. Wanderte um den See, besuchte Jausenstationen und stellte einen Rekord an Frühstückssitzungen auf, allein schon deshalb, weil das Frühstück im Palace von einer Harfenistin mit Livemusik begleitet wird. Ich schwang mich zum Experten für Club Sandwiches in Hotelhallen auf, durfte in der Patisserie einen Osterhasen aus Schokolade gießen (und verunstaltete ihn anschließend aufs Heftigste mit den zur Verfügung gestellten Lebensmittelfarben). Und ja, ein Mal kehrte ich in die Chesa Veglia zurück, um dort Pizza zu essen. Ich saß auf der Galerie, hatte mir eine Flasche Pinot noir aus der Bündner Herrschaft ausgesucht und bestellte, während ich ständig über die Brüstung lugte und versuchte, die Menschen, die hier durcheinanderschwirrten, zuzuordnen, die Tatort-Kommissarin, den Song-Contest-Gewinner und die Konzernlenker in ihren ungewohnten Freizeitklamotten. Die Pizza war gut, der Wein eine Freude. Und hier oben auf der Galerie war ich weit genug vom Who’s who entfernt, sodass ich lächelnd auf den Betrieb hinunterschauen konnte und genießen, dass ich nur ein Gast war, ein flüchtiger Gast. —

Der beneidenswerte Blick aus der „Grand Hall“ des Palace Hotel und livriertes Personal

Die Hotelhalle ist ein Kristallisationsort
der qualifizierten ­Zeitlosigkeit.

Nobelskihütte Paradiso mit Bündnerfleischattraktion und einer Szene aus dem Paradiso: Berge und Champagner passen hier besonders gut zusammen.

Die Allgegenwart von Luxus hat etwas Eindrucksvolles, aber auch Ablenkendes. Man könnte glauben, dass es sich dabei um die wirklich echte Realität handelt, in der man gerade lebt.

Das Suvretta House im herbst­lichen Wald
High Tea im ­Suvretta House: Die besten Traditionen aus aller Welt zusammengetragen, um sie konzen­triert zu ­zelebrieren
Blick in die Pizzeria Heuboden der Chesa Veglia. In dem alten Bauernhaus in der Mitte von St. Moritz gibt es mehrere interessante Lokale: die abgebildete Pizza mit schwarzer Trüffel trägt den Namen „Dama Bianca“.