Kräuter und Krabbler

Im Quintonil in Mexiko City spielen mexikanische Techniken und Zutaten eine Hauptrolle. Höhepunkt in Jorge Vallejos Menü ist ein Fest tierischen Proteins, das weder Fisch noch Fleisch ist.

„Entomophagy festival“ heißt das, was der Service Schälchen um Schälchen auf den Counter des mit mexikanischer Textilkunst geschmückten Restaurants stellt. Avocado-Tatar, gebratene Bohnen aus dem Bundesstaat Oaxaca, Polenta und Kaktus-Ceviche, gegrillte Austernpilze mit Salsa macha und Mole rojo, wie der süchtig machende Dip heißt. Als Basis dient eine im Körbchen warm gehaltene, von einem Tuch umhüllte Tortilla aus Criollo-Mais, flaumig und dezent säuerlich im Geschmack, für den Extra-Schärfekick steht eine pikante Chintextle bereit.

Erst im Nachhinein erfahren die Gäste, was sie noch zu sich nahmen, Ameisenlarven, Grashüpfer und Baumwanzen. Allein wegen des Ekelfaktors hat dieser Gang das Zeug zum Signature Dish, allerdings nur für Europäer, schließlich ist der Verzehr von Insekten aller Art – das meint der Begriff „entomophagy“ – in Mexiko gang und gäbe. „Für ausländische Gäste kann das eine Herausforderung sein“, gesteht Jorge Vallejo, Chefkoch des Quintonil. „Hier in Mexiko gelten Heuschrecken, Käfer und Co als Delikatesse, völlig zu Recht.“

Geboren 1981 in Mexico City, entdeckte er früh seine Liebe zur Kulinarik, oder, wie es salopp bei Instagram heißt: „I like to cook and ride my bike.“ Schuld war nicht zuletzt die obligatorische Großmutter mit ihren Avocado-Tacos, mit leicht verbrannten blauen Mais-Tortillas als Basis (übrigens tragen die vielen verschiedenen Maisfarben zum Geschmack nur wenig bei). Das Kochhandwerk lernte er am Instituto Culinario de México, später am New Yorker Culinary Institute of America und von Größen wie Thomas Keller und Grant Achatz. Auch hinter die für Köche seiner Generation Quasi-Pflichtstation Noma hat er ein Häkchen gesetzt. Zwischendrin sammelte er Erfahrung als Schiffskoch in der Karibik und der Antarktis. Zurück in seiner Heimatstadt, übernahm er seinen ersten Chefposten im Hotel St. Regis, später zog es den feingliedrigen Mann mit den dunklen Haaren an die Top-adresse Pujol. Dessen Gründer Enrique Olvera gilt als bester Koch Mexikos, sein in einem dschungelartigen Garten gelegenes Restaurant, übrigens ebenfalls dem Insektenverzehr nicht abgeneigt, als Pflicht für jeden Destination Diner. 2012 schließlich eröffnete Vallejo gemeinsam mit seiner Lebens- und Geschäftspartnerin, der Gastgeberin Alejandra Flores, sein „Lebensprojekt“, nur wenige Blocks vom Pujol entfernt, wo die beiden sich kennenlernten.

Der Name Quintonil spielt auf den aztekischen Namen eines Amaranthkrauts an. Überhaupt schlägt sein Herz für einheimische Kräuter, die an vielen Stellen des zehngängigen Menüs auftauchen, darunter Koriander, Epazote, zu Deutsch Mexikanischer Drüsengänsefuß, das rauchig schmeckende Hoja Santa, Heiliges Blatt, aus der Familie der Pfeffergewächse, Pitiona, eine in Oaxaca beheimatete Variante der Zitronenverbene, und Hierba de Conejo, Hasenkraut. „Lange Zeit standen wir im Schatten anderer Weltküchen. Erst in diesem Jahrhundert begannen meine Landsleute, stolz auf ihre Küche und deren Traditionen zu sein. Manche reisen nach Mexiko, nur um zu essen.“ Vallejo versteht sich als kulinarischer Botschafter der Küche seines Landes, von deren Geschmacksnuancen, Zutaten und Traditionen. Folglich gründete er 2014 gemeinsam mit Mirazur-Chef Mauro Colagreco und Virgilio Martínez vom Central die Initiative „Orígenes“, die sich zur Aufgabe macht, das kulinarische Lateinamerika zu bewahren. „Wie Sie bestimmt wissen, liegt hier der Ursprung von Chilis, Tomaten und Kartoffeln, Dinge, die viele Küchen weltweit bereichern. Dabei gibt es noch viel mehr zu entdecken, ein praktisch unerforschtes Universum von Bräuchen, Gerichten, Ökosystemen und Zutaten, einige vom Aussterben bedroht. Im Rahmen unserer Möglichkeiten wollen wir sie sichtbar machen und bewahren.“

Nicht nur deswegen ist der dreifache Vater an bis zu hundert Tagen im Jahr unterwegs, hinzu kommen Four-Hands-Dinner mit „50-Best-Restaurants“-Darlings wie Ana Roš und Gaggan Anand. Das Quintonil belegt auf besagter Liste übrigens den siebten Platz, als „grenzenverschiebende Speerspitze einer neuen mexikanischen Küchengeneration“, wie es in der Begründung heißt. Der Michelin vergab zwei Sterne. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass dessen Betreiber, wie das inzwischen zum guten Ton gehört, auf Nachhaltigkeit achtet, in Form energiesparender und müllvermeidender Maßnahmen sowie eines Dachgartens, wo viele der in der Küche verwendeten Kräuter und Gemüse wachsen. Als Signature Dish gilt nicht das eingangs erwähnte Insektenfest, sondern Salbut, eine mit Fleisch und Gemüse belegte, frittierte Tortilla, verfeinert mit Cuitlacoche, Maisbeulenbrand, auch bekannt als mexikanische Trüffel.

Auf die Frage nach seinem Lieblingsgericht nennt der passionierte Fotograf das leicht bittere Superfood-Kraut Huazontles, auch Reismelde oder aztekischer Brokkoli genannt, in Kräutertee gekocht, dazu Habanero-Chilis und den aus dem südmexikanischen Bundesstaat Chiapas stammenden Queso de Cuadro. Ebenfalls hoch im Kurs steht Grillhähnchen. „Immer wenn ich das esse, denke ich an den im Viertel meiner Kindheit gelegenen Imbiss Pollos Río zurück. Als Jüngstem fielen für mich üblicherweise die Schlegel und Flügel ab, dabei mochte ich Schenkel und Bruststück am liebsten. Folglich wünschte ich mir zu meinem achten Geburtstag ein ganzes Hähnchen nur für mich allein und zum Nachtisch Zitronenkuchen.“ Ganz und gar festlegen will er sich nicht. „Heute bin ich besessen vom Wildkraut Quelite, dem Geschmack eines Insekts oder einer Technik zur Herstellung einer Mole, morgen früh möchte ich in den Wald gehen, um meine Lieblingspilze zu sammeln.“ Schließlich scheint es auch die Avocado zu sein, die Vallejo, dessen Restaurant über sechzig Mitarbeitende zählt, durch die Jahre begleitet. Einerseits als Erinnerung an die großmütterlichen Tacos, andererseits in Form seiner ganz persönlichen Gua­ca­­mo­le-­Ver­sion. Im Quintonil wird die Frucht zunächst leicht verkohlt, dann mit in brauner Butter, Knoblauch und Chilis sautierten Ameisenlarven ver­mischt und schließlich mit Epazote verfeinert. Das schmeckt frisch, rauchig, wohlig-fett und lohnt sich auch für insekten-skeptische Europäer.

Eva Biringer

Mexikanische Kunst an den Wänden im Quintonil
„Entomophagy festival“ – in den Schälchen: Ameisenlarven, Grashüpfer und Baumwanzen…