Sperrstunde bitte

Schneller essen, früher kommen. Nur ein statt zwei Services am Abend. Die Sperrstunde hat eine lange Geschichte und seit den Covid-Beschränkungen plötzlich auch wieder Bedeutung für uns alle.

Foto von Dennis Stock/Magnum Photos/picturedesk.com
Text von Eva Biringer

Schon vor elf Jahren kam die Sperrstunde zu einem eigenen Soundtrack. „Ursula stressned“ hieß das Lied des anonymen Kollektivs Copy Paste, mit dem die damalige Vorsteherin des ersten Wiener Gemeindebezirks an die Unmenschlichkeit der nächtlichen Zwangspause erinnert wurde. Heute kennt nicht nur die Hauptstadt dieses Problem, sondern das ganze Land. Eine der vielen Corona-Maßnahmen war und ist nämlich das Vorziehen der Sperrstunde. Manch einer mag vergessen haben, dass es so etwas überhaupt gibt. Demjenigen sei gesagt: Ja, gibt es, und vieles deutet darauf hin, dass diese Regelung sogar einem österreichischen Geist entsprang. So erließ Herzog Siegmund IV. von Österreich-Tirol 1470 in Bozen als einer der Ersten das sogenannte Hausaus, das Verbot nächtlichen Weinausschanks. Das hatte Vorbildcharakter. In der frühen Neuzeit wurden nachts aus Sicherheitsgründen die Stadttore geschlossen, die Leute sollten dann bitteschön in ihren eigenen vier Wänden bleiben. Nachtwächter sorgten für Ruhe. Später ging es vor allem darum, den Branntwein-Exzessen der Arbeiterschaft Einhalt zu gebieten, die in den Wirtshäusern ihren Lohn ver­soffen, während ihre Frauen und Kinder zu Hause hungerten. Während Länder wie die USA, Belgien oder Skandinavien darauf mit generellen Alkoholverboten reagierten, entschieden sich andere für den vermeintlich menschenfreundlicheren Weg der Sperrstunde. England begründete diese in seiner nach dem Ersten Weltkrieg aufgesetzten Verfassung damit, dass die Soldaten im Falle eines spontanen Kriegsausbruchs am nächsten Morgen wieder fit sein sollten.

Speaking about: England hat eine ganz besondere Beziehung zur Sperrstunde. Das kurz vor Schluss quer durch den Pub schallende „Last order!“ kam früher für viele einem Befehl gleich: auf in die Schlacht des letzten Pints. Am 24. November 2005 wurde in England und Wales mit großem Pomp die Sperrstunde gekippt. Nicht wenige fürchteten, das Land würde dadurch im Chaos versinken. Laut BBC-Umfragen befürchteten zwei Drittel der Briten eine „gravierende Verschlechterung ihrer Lebensqualität“ und die Daily Mail prophezeite: „Diese Maßnahme wird unter der Bevölkerung einen hemmungslosen Hedonismus entfesseln.“ Tatsächlich beantragte in der Folgezeit nur eine Minderheit der Gaststätten eine Rund-um-die-Uhr-Ausschanklizenz. Ganze 23 Minuten pro Tag hat der durchschnittliche Pub heute länger auf als vor 2005. Davon abgesehen ist das Phänomen der sich um 23 Uhr auf die Straßen der Innenstädte ergießenden Betrunkenen, die aus Frust Schlägereien anzetteln oder sonst wie randalieren, sehr viel seltener geworden.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen einer deutschen Studie aus dem Jahr 2018, wonach vorgezogene Sperrstunden nicht zu weniger Gewalt führen, im Gegenteil. Dort, wo ohnehin mehr Straftaten ­begangen werden als im Durchschnitt, steigt die Zahl weiter an, wenn der Ausgelassenheit ein Riegel vorgeschoben wird.

Weltweit hat die Sperrstunde ihre ganz speziellen Phänomene hervorgebracht, zum Beispiel das den Ausruf „Last Order!“ begleitende Glocken-klingeln. Das hat Tradition: Im Mittelalter wurde auf diese Weise daran erinnert, das Herdfeuer zu löschen. Die berühmteste Glocke hängt noch heute in London, in der St. Stephen’s Tavern, unweit des britischen Parlaments. Wenn sie klingelt, wissen die Abgeordneten, dass es Zeit zum Austrinken ist, weil nämlich genau acht Minuten später eine Abstimmung beginnt. Dann wäre da noch der Six o’clock swill, zu Deutsch in etwa das Sechs-Uhr-Besäufnis. In Australien und Neuseeland bezeichnete dieser Begriff nach dem Ersten Weltkrieg die kurze Zeitspanne zwischen dem Feierabend um 17 Uhr und der letzten Runde um 18 Uhr. Man kann sich vorstellen, mit welcher Entschlossenheit die Arbeitnehmer der Nüchternheit den Kampf ansagten. 1967 verlängerte Neuseeland die Regelung auf 22 Uhr – obwohl einige Jahre zuvor die Bevölkerung mehrheitlich dagegen gestimmt hatte.

In den USA ist die Sperrstunde bis heute gang und gäbe, mit einer Ausnahme: Las Vegas. Einem Onlinereiseratgeber zufolge empfänden viele Urlauber die Regulierungen als „Frechheit“, nur um dann festzustellen: „Für einen Urlaub ist es aus gesundheitlichen Gründen sinnvoller, die Nächte im Bett und nicht in einer Bar zu verbringen.“

Ein Satz, wie ihn sich Stermann & Grissemann nicht besser hätten ausdenken können. Das Comedyduo widmet dem Phänomen einen gleichnamigenPodcast. Schauplatz ist das fiktive Wiener Café Bauchstich. „Die Sperrstunde ist immer meine liebste Zeit“, heißt es in einer Folge. „Da ist außer uns ­niemand da, da stört uns niemand, da können wir philosophieren.“ Recht haben die beiden. Die Sperr-, umgangssprachlich auch Putzstunde genannte Zeit hat ihre ganz eigene Magie. Knutschende, weltentrückte Paare landen wieder auf dem Boden der Realität, Stammgäste zwinkern dem Kellner verschwörerisch zu, denn ein Achtel geht sich bestimmt noch aus (bekannterweise hat die österreichische Sprache dafür einen eigenen Begriff, das Fluchtachterl). Manch ein Veltlinerveteran muss förmlich vom Schlachtplatz getragen oder wenigstens hinausgekehrt werden. Draußen leuchten die Sterne. Eine Illusion ist ­natürlich zu glauben, die Leute gingen dann zwangsläufig nach Hause. Solange irgendwo Alkohol fließt – und das tut er immer –, wird weitergetrunken, ob zu Hause oder im Park oder in der U-Bahn.

Jedenfalls vor Corona. Nach mehreren flächen­deckenden Lockdowns waren die anschließenden Sperrstundenverordnungen als nette Geste in Richtung Gastronomie gedacht. Manche streckten dieser den Mittelfinger entgegen. So ließ vergangenen November die italienische L’Osteria-Kette in München die entsprechende Verfassungsmäßigkeit prüfen, noch läuft das Verfahren. Nicht ganz zu Unrecht fragen sich Gastronomen, ob das Virus nach 22 Uhr ansteckender sei als vorher. Auch innerhalb der Politik gehen die Meinungen auseinander. Während Ex-Kanzler Kurz die Sperrstunde als „sehr, sehr weise“ empfand, entgegnete der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, es sei ihm lieber, die Menschen säßen im Wirtshaus als bei illegalen Zusammenkünften. Kompliziert war es übrigens immer schon. Während eine burgenländische Bar vor der Pandemie um 4 Uhr schließen musste, durfte man in Tirol theoretisch noch zwei Stunden länger bechern. Und wenn im Wiener Kaffeehaus um 2 Uhr der Ober abkassierte, hätte sein niederösterreichischer Kollege noch weitere drei Stunden arbeiten können.

Was hilft, ist, die Dinge heiter zu sehen wie Hans Moser. Auch der Wiener Volksschauspieler hat der Sperrstunde ein eigenes Lied gewidmet: „Sperrstund is, ja irgendeinmal macht jedes Lokal a bissal zu. Sperrstund is, man räumt langsam ab, ah, i freu mi, hab a bissal Ruh.“ Und Ruhe ist ja nicht unbedingt das Allerschlechteste. —