Kartenspiele

Wie hat eine gute Weinkarte auszusehen? Die Kriterien sind vielfältig, die Anforderungen höher denn je. Was zählt, ist nicht nur der Umfang, sondern vor allem die inneren Werte einer Karte.

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Text von Christina Fieber

Sie ist das Aushängeschild einer guten Gourmetadresse, die Visitkarte des Hauses und der Stolz jedes Sommeliers – die Weinkarte. Bravouröse Küchenleistung allein reicht heute als Konzept nicht mehr aus, gerade kulinarische Super­lativen erfordern eine Weinliste auf Augenhöhe. Das verlangen nicht nur anspruchsvolle Gäste, auch Restaurant-Guides vergeben keine Höchstnoten, wenn die Weinkarte nichts kann. Es gibt Gäste, die ein Lokal nur wegen seiner außergewöhnlichen Weinliste besuchen.

Selbst abseits der High-End-Gastronomie wird zunehmend auf eine ordentliche Weinauswahl Wert gelegt. Reichte es früher aus, willkürlich ein paar Weiße und Rote fragwürdiger Provenienz aufzulisten, bemüht man sich inzwischen auch hier um Weinkultur.

Doch was macht eine gute Weinkarte aus? „Sie muss spannend sein“, bringt es Josef Neulinger auf den Punkt. Er ist Chefsommelier im Almhof Schneider am Arlberg und Herr über einen hochkarätigen Weinkeller. „Eine gute Karte beinhaltet nicht nur die bekannten Gewächse und Winzer, die man eh überall findet, sie setzt auch neue Impulse“, glaubt er.

Spielwiese für Sommeliers
Von einem Spitzensommelier erwartet man den Spürsinn eines Trüffelhundes – eine Auswahl jenseits önologischer Allgemeinplätze, gespickt mit Raritäten, kuriosen Fundstücken und reifen Jahrgängen. Dafür braucht es Expertise und per­manente Beschäftigung mit der Materie. Genau daran hapert es oft: Können sich hochdekorierte Häuser noch einen ausgebildeten Weinfachmann oder eine Weinfachfrau leisten, wird in kleineren Unternehmen gerne der Oberkellner zum Sommelier erkoren. Mit viel Glück zeigt der Patron selbst ein Händchen für die Weinauswahl, önologisch unbeleckten Gastronomen hingegen bleibt nur, sich von Profis beraten zu lassen oder ihr Glück in die Hände eines Weinhändlers ihres Vertrauens zu legen. Der Rest hofft wohl auf anspruchslose Trinker.

Weine haben nicht mehr nur die Funktion schnöder Speisenbegleiter, die Weinkarte ist längst auch Messlatte für die Qualität eines Hauses. Das zeigen nicht zuletzt die unzähligen internationalen Prämierungen, Awards und Bestenlisten von Weinkarten, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen. Die vom schwedischen Journalisten Krister Bengtsson initiierte Star Wine List etwa kürt alljährlich die besten Weinkarten der teilnehmenden Länder in diversen Kategorien. Kriterien für das hochkarätige Jurorenteam sind neben der Anzahl an Positionen vor allem eine Bandbreite an verschiedenen Weinstilen und ein individuelles Konzept. Dabei zählt nicht nur der Umfang, sondern auch die Idee dahinter. So gibt es etwa auch eine Kategorie „Short List“, wo kleine, aber originelle Weinkarten prämiert werden. Short Lists mit Pfiff liegen derzeit im Trend, wohl auch, weil sie kaum Kapital binden und einfach zu betreuen sind. Expertise braucht es aber auch hier. Von erstklassigen Häusern hingegen darf eine entsprechend profunde Auswahl erwartet werden, die möglichst breit gefächerte Vorlieben abdeckt.

Eine gute Karte beinhaltet nicht nur die bekannten
Gewächse und Winzer, die man eh überall findet, sie setzt auch neue Impulse.

Josef Neulinger, Almhof Schneider
®Klaus Vyhnalek

Auch Christian Zach, Co-Betreiber und Sommelier der südsteirischen Weinbank, legt bei der Auswahl Wert auf Umfang und Tiefe. In seiner über 4.000 Positionen umfassenden Weinbibel liegt der Fokus auf der Region, südsteirische Weine mit Klasse finden sich in allen Varianten und Schattierungen. „Setzt man auf Spezialisierung, braucht es natürlich eine gewisse Jahrgangstiefe“, glaubt er, „einen Chardonnay Salamander des aktuellen Jahrgangs von Andreas Tscheppe bekommt man hier und da, eine Vertikale von 2007 bis 2019 in keinem anderen Restaurant der Welt!“

Eigenständigkeit und die Handschrift des Sommeliers sind für ihn wesentliche Qualitätskriterien einer Weinkarte und: „Bitte keinen Auszug der bekanntesten Namen!“ Seine Duftmarke hinterlässt er schon bei der Selektion: Bordeaux rot oder renommierte Namen aus der Toskana etwa finden in seiner Karte keinen Einlass. Liebhaber filigraner Jura-Gewächse hingegen fühlen sich bei ihm pudelwohl. Ein Schwerpunkt mit Tiefgang zeugt von Expertise, aber auch Leidenschaft. Eine gute Weinkarte erweckt Emotionen und macht Lust, auch mal etwas Neues, Unbekanntes zu probieren.

Wälzer oder Slim Fit
Der Ehrgeiz mancher Sommeliers, das gesamte Spektrum der Weinwelt abzudecken, mündet gerne in einer austauschbaren Aneinanderreihung ohne Konzept. „Es gibt Weinkarten, die sind vom Umfang her riesig, aber unendlich langweilig“, glaubt Josef Neulinger. Ein klarer Fokus etwa auf die eigene Region, aber auch thematische Schwerpunkte wie Bio- oder Natural-Weine oder eine bestimmte Rebsorte in all ihren Facetten ist auch für Kenner reizvoller als Enzyklopädien der Weinkunde.

„Man muss und kann nicht alles bieten“, glaubt auch Zach, „aus jedem Dorf einen Hund zu haben, wirkt eher hilflos.“ Ausufernde Weinlisten erfordern nicht nur räumliche und monetäre Ressourcen, sondern auch Zeit – nicht zuletzt die Zeit des Gastes. Sich halbe Abende durch Weinwälzer zu wühlen, mag einigen Freaks Freude bereiten, die meisten Restaurantbesucher bevorzugen einen unbeschwerten Abend in netter Gesellschaft.

Auch die Manier, jeden gelisteten Wein mit detailreichen Beschreibungen zu versehen oder endlose Abhandlungen über Rebsorten und Anbaugebiete in die Karte zu packen, ermüden mehr, als sie zum Trinken animieren.

„Das findet man eher in Betrieben, die schlecht geschultes Personal haben“, mutmaßt Christian Zach.

Der Keller der Weinbank mit exakt 4.170 Positionen ist die liebste Spielwiese von Christian Zach (li. im Bild) und ­Philipp Marko.
Meine Weinkarte spiegelt mich als Person wider.
Christian Zach, Die Weinbank

Ob man sich bei der Auswahl an den vermeintlichen Wünschen der Gäste orientiert oder hemmungslos eigene Vorlieben auslebt, ist Ansichtssache. Die meisten Sommeliers versuchen eine Balance zu finden zwischen persönlicher Präferenz und kleinstem gemeinsamen Nenner aus oft divergierenden Vorlieben des Zielpublikums.

Es geht aber auch ganz anders: Vor allem im urbanen Raum pfeifen immer mehr Gastronomen auf gängige Regeln. Sie listen, was ihnen schmeckt. Das Weinbistro Mast oder Konstantin Filippou in Wien etwa sind bekannt für launige Natural-Wine-Listen, die quasi in Echtzeit zeigen, was sich in der Weinwelt abspielt. Genau aus diesem Grund werden sie von Gästen mit ähnlichem Gusto frequentiert.

Der klassische Markentrinker hingegen wird derlei Etablissements meiden. Auf der anderen Seite findet ein Fan wilder Weine wohl keine rechte Freude an einer ausufernden Bordeaux-Sammlung wie der eines Adi Werner in der Arlberger Hospiz Alm. Explizite Weinauswahl kann also anlocken oder abstoßen. Wichtig ist, dass sie zum Betrieb und zur jeweiligen Küchenstilistik passt.

Hegen und pflegen
Ob wild oder zahm, üppig oder schlank, eine Weinkarte muss betreut, also auch regelmäßig entrümpelt werden. In so manchem Weinkeller liegen Leichen, die beim besten Willen nicht mehr wiederzubeleben sind. Nicht nur leichte Weißweine, auch schwere Rote haben ein Ablaufdatum. Eine Herausforderung, die auch das Sommelierteam des Wiener Restaurants Silvio Nickol nur zu gut kennt. Gewächse am Höhepunkt ihrer Reife müssen rechtzeitig verkauft werden, rät Chefsommelier Wolfgang Kneidinger. Fehlt die nötige Erfahrung, kann nur regelmäßiges Kosten älterer Semester Abhilfe schaffen. „Werden überlagerte Weine auch noch als Raritäten angeboten, zeugt das von mangelndem Respekt gegenüber dem Gast“, urteilt Romana Echensperger, renommierte Weinexpertin und Master of Wine. Hinter solchen Offerten mag aber auch bloß schlicht Unwissenheit stecken.

Ein guter Weinkeller will wachsam umsorgt sein. Dazu gehört auch, „Kellerleichen“ rechtzeitig zu verkaufen oder zu entrümpeln.
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Stiefkind heimischer Sprudel
Auch das Angebot an glasweise ausgeschenkten Weinen ist in vielen Häusern dürftig. Nicht so im Heunisch & Erben – Sieger der Star Wine List in der Kategorie „By The Glass“ im letzten Jahr. Ihre Auswahl ist so breit wie bunt: „Bei uns gibt es keine Scheuklappen“, erklärt Benjamin Edthofer das Konzept, „vom klassischen Wachauer Veltliner bis zum filigranen Mersault oder einem schrägen maischevergorenen deutschen Riesling findet fast alles seinen Weg ins Glas.“

Luft nach oben herrscht vielerorts auch bei der Auswahl an heimischen Schaumweinen. Dabei ist das Qualitätsniveau von Winzersekten aus Österreich so hoch wie nie. Eine Entwicklung, die offensichtlich nur von einigen wenigen Gastronomen wahrgenommen wird. Im Gegenzug finden sich zuweilen drastisch überhöhte Preise für Champagner bekannter Häuser. Nach leistbarem Winzerchampagner sucht man hingegen oft vergeblich. Von einem fixen Kalkulationsschlüssel, den man allen angebotenen Weinen überstülpt – egal ob es sich im Einkauf um günstigen Welschriesling oder teuer ersteigerten Burgunder handelt –, raten Experten ohnehin ab:

„Es braucht eine faire Mischkalkulation“, ist auch Josef Neulinger überzeugt, „warum soll jemand auch noch bestraft werden, wenn er erstklassige Weine bestellt!“ —