Aus der Tonne auf den Teller

Über 400.000 Tonnen Lebensmittel werden in Österreich jährlich weggeworfen. Eine Handvoll Konsumrebellen übt den Aufstand gegen die Verschwendung und hat mit ihrem kulinarischen Protest eine Kettenreaktion ausgelöst.

Text von Claudia Schemerl-Streben­ Foto Zero Waste Jam

David Groß ist Filmemacher, Koch und fanatischer Taucher. Auf Neoprenanzug, Atemregler und Schwimmflossen verzichtet der Salzburger bei seinen Tauchgängen. Die von ihm gewählte Spezialmontur besteht lediglich aus einer Stirnlampe und Gummihandschuhen. Erst bei Dunkelheit macht er sich auf den Weg zum nächstgelegenen Tauchgebiet. Angepeilt werden nicht die Seen im Salzkammergut, sondern der Parkplatz eines Supermarkts. Mehr als Unterwasserlandschaften reizen Groß die Untiefen der Müllcontainer, in denen er auf Unmengen an genießbaren ­Lebensmitteln stößt, die trotz ihrer Frische keine Berechtigung mehr im Regal haben.

„Wir nennen es Midnight-Shopping“, sagt Groß ironisch, der seit 2012 ungebremst und öffentlichkeitswirksam auf den Konsumwahn hinweist. Eine Fernsehdokumentation über Mülltaucher in New York brachte ihn damals auf die Idee, selbst in den Tonnen der Supermärkte nachzusehen. Die ernüchternde Erfahrung, die er dabei machte: „Da waren originalverpackte Baguettes, Bananen, Joghurts, Paradeiser und, und, und – alles einwandfrei und frisch. Mich hat der Schlag getroffen, weil ich mit derartigen Dimensionen nicht gerechnet habe. Es war so viel, dass ich einen richtigen Stress bekommen habe, wie ich alles nach Hause bringe und was ich damit machen kann. Wenn man bedenkt, dass ich mit dem Fund aus nur einer Supermarktfiliale überfordert war und was das hochgerechnet auf ganz Österreich bedeutet, wird einem ganz anders.“ Noch in derselben Nacht setzte sich der Salzburger in den Kopf, eine konsumkritische Kochshow mit dem Namen „Wastecooking“ ins Leben zu rufen, bei der im öffentlichen Raum live mit erbeuteten Lebensmitteln Suppen, Currys, Aufläufe und Süßspeisen wie Apfelspalten und Bananen-Pancakes entstehen, die im Anschluss unentgeltlich in Fußgängerzonen an die Passanten ausgeteilt werden.

Schon die erste Aktion wurde von der Kamera begleitet, ins Netz gestellt und verbreitete sich dort mit rasanter Geschwindigkeit. Es folgten Mülltauchtouren („so wie andere eine Stadtführung organisieren“), Beteiligungen an Filmfestivals und ein von Arte und ORF produziertes Roadmovie, für das Groß mit seinem Wastemobil – ein Landrover Defender, der mit altem Speisefett betankt wird – und einem zur Kochstation umgebauten Müllcontainer im Gepäck durch fünf europäische Länder rollte, um das Thema Lebensmittelverschwendung von Landwirtschaft über Handel bis zum Konsumenten genauer zu beleuchten und nach Lösungsansätzen zu suchen: In der Bretagne verbrachte er einen Tag auf einem Fischkutter und fabrizierte aus dem sogenannten Beifang – zu kleine oder zu große Fische und Krustentiere landen wieder im Meer, obwohl sie in den Fangnetzen meist tödlich verletzt werden – eine Bouillabaisse. In Österreich klapperte der Aktivist eine Wohnsiedlung in Salzburg ab, fragte nach Lebensmitteln im Kühlschrank, die normalerweise entsorgt werden würden und kochte aus der Ausbeute von vier Kühlschränken für vierzig Personen auf. „Die verwendeten Lebensmittel waren alle minimal abgelaufen oder angebrochen und genießbar. Es besteht noch viel Aufklärungsbedarf in Bezug auf das angegebene Mindesthaltbarkeitsdatum, das nicht unbedingt etwas über die Frische aussagt. Anstatt Lebensmittel leichtfertig wegzuwerfen, sollte man wieder mehr auf seine Sinne vertrauen – wenn man kostet und riecht, weiß man ohnehin sofort, ob etwas verdorben ist oder nicht. Da gibt es wahnsinnig viel Einsparungspotenzial – bei jedem von uns.“ Halt machte der 36-Jährige auch in Brüssel, wo sich das Wastecooking-Mastermind in die ­Kantine des Europäischen Parlaments stellte, das unverkaufte Mittagessen vom Vortag kulinarisch recycelte und den Ab­geordneten in neuer Form vorsetzte.

Beim Forum Alpbach diskutierte er heuer mit Experten die Problematik, der die Organisatoren mit Lesungen, Filmvorträgen und Talks einen Schwerpunkt widmeten. Ein stillgelegtes Hallenbad diente als Veranstaltungsort. Dort sorgte nicht nur eine Wald-Installation unter dem Motto „Luft als Nahrungsmittel“ von Lisa Maria Enzenhofer, Bernhard ­König und Markus Jeschaunig für Aufsehen – sie transformierten auch den Österreich-Pavillon bei der Expo 2015 in Mailand zu einem temporären Atemraum und ernteten dafür internationalen Beifall –, sondern auch das Pop-up-Restaurant von Tobias Judmaier. Das Mitglied des Wastecooking-Think-Tanks reiste mit Öfen, Induktionsplatten, Kühlung und Töpfen an und bekochte die Konferenzteilnehmer des Forums drei Wochen lang mit vegetarischer Kost. Das verwendete Gemüse, es wäre Opfer des Aussortierens geworden, holte sich Judmaier bei einem Tiroler Landwirtschaftsbetrieb ab.
Hauptberuflich ist Judmaier in Wien stationiert und betreibt dort seit vergangenem Jahr mit dem Bio-Catering- und Lieferservice „Iss mich“ ein Vorzeigeunternehmen. Er greift zu Ernteausschüssen der Marchfelder Gemüsebauern – etwa Karotten, Zwiebeln, Pastinaken, Sellerie und Erdäpfel, die aufgrund zu kleiner oder zu großer Dimension nicht der Handelsnorm entsprechen sowie Exemplare mit Makeln wie Schrammen oder sonderbaren Verformungen – und verwandelt sie zu Zero-Waste-Gerichten wie Erdäpfelgulasch, Kicherbsen-Curry oder Linseneintopf, die er in 300- und 500-Gramm-Gläser abfüllt, per Fahrradboten ausliefert und über Vertriebspartner wie „Lunzers Maß-Greißlerei“ anbietet. Mit ihrem Laden in Wien Leopoldstadt hat sich Andrea Lunzer 2013 als Erste in Österreich auf den Verkauf von Lebensmitteln spezialisiert, die ohne Verpackung auskommen, wodurch unnötiger Abfall erst gar nicht entstehen kann – mit den eben erst eröffneten Zero-Waste-Supermärkten „holis market“ in Linz und „Liebe & Lose“ in Innsbruck ziehen bereits die nächsten Weltverbesserer nach.

Müslimischungen in Doppelschicht-Verpackung, vier Stück Paprika in Plastiktassen gepfercht und ein Kilogramm Zitronen im Netz findet man in „Lunzers Greißlerei“ nicht. Stattdessen kauft man von Obst und Gemüse über Teigwaren und Getreidesorten bis hin zu Gewürzen, Essig und Öl alles einzeln beziehungsweise lose, füllt die Ware („der Kunde nimmt nur, so viel er gerade braucht“) in mitgebrachte Gefäße und wiegt sie selbst ab. Wer ohne Behältnis in den mit Liebe zum Detail eingerichteten Laden kommt, kann wiederverwendbare Rexgläser, Email-Vorrats­dosen oder recycelte Papiertüten erstehen. Angeboten werden ausgewählte Produkte von Kleinsterzeugern, wie etwa auch Eingemachtes von „Zero Waste Jam“. Die Einkocher haben sich zur Aufgabe gemacht, ungenütztes Obst und Gemüse in Wien und Umgebung aufzuspüren und in Gläser abzufüllen. Dazu zählen Obstbäume in Privatgärten, die so viele Früchte tragen, „dass die Besitzer nicht mehr wissen, was sie damit machen sollen.“ In Verhandlungen steht die idealistische Einrexertruppe mit dem Wiener Großgrünmarkt, um unverkaufte, aber tadellose Lebensmittel verwerten zu können. Längst vernetzt sind sie mit dem Verein Arche Noah im niederösterreichischen Schiltern, wo sich das Team regelmäßig an Kräuterstöcken, Sträuchern und Bäumen bedienen darf und damit Zugriff zu seltenen Sortenraritäten hat. „Uns rufen aber auch Leute an, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ernten können, sodass die Früchte auf den Boden fallen und verfaulen würden“, so Cornelia Diesenreiter. Zur geretteten Ausbeute dieses Sommers gehörten unter anderem Weichseln, Quitten, Ringlotten, Ribiseln und Rosmarin, aus dem gemeinsam mit Limetten ein Sirup und ein Gelee entstanden ist. Eingekocht wird zweimal wöchentlich an den Ruhetagen des Klosterneuburger Wirtshauses Trat. Wobei schon frühmorgens losgelegt wird: „Wir bekommen oft vollreife Früchte, die nicht nur beim Pflücken, sondern auch in der Küche noch einmal genau kontrolliert werden müssen, bevor sie verarbeitet werden.“ Abfüllmengen für Marmeladen und Gelees wurden mit 26- und 160-Gramm-Gläsern bewusst klein gewählt: „Lieber kein Riesenglas, sodass das Produkt garantiert verzehrt werden kann, bevor es verdirbt.“

Die Bewegung bzw. der Kampf gegen die Wegwerfgesellschaft wächst ständig. Die Zahlen, die dem entgegenstehen, sind trotzdem weiterhin erschreckend hoch: 200.000 Tonnen verschwendete Lebensmittel kann die heimische Gastronomie pro Jahr für sich verbuchen, der Konsument wirft 175.000 Tonnen und der Handel 75.000 Tonnen in den Mist. Weltweit sind es 1,3 Milliarden Tonnen, die statt am Teller im Müll landen. Handlungsbedarf besteht somit auf unterschiedlichsten Ebenen. Frankreichs Regierung ist mit gutem Beispiel vorangegangen, hat heuer ein Antiwegwerfgesetz für den Großhandel beschlossen – unverkaufte Produkte müssen an karitative Einrichtungen gespendet werden. Selbst in den Schullehrplan soll die Thematik verpflichtend aufgenommen werden. Ob ein ähnlicher Gesetzesentwurf in Österreich umgesetzt wird, bleibt abzuwarten – für Herbst wurde ein runder Tisch zu dem Thema angekündigt, an dem Länder, Bund, NGOs und Supermarktketten teilnehmen sollen. Dass der Konsumwahn gestoppt werden muss, machen nicht nur Wastecooking-Mastermind David Groß und seine kulinarischen Mitstreiter deutlich. Der deutsche ­Regisseur Valentin Thurn rüttelte die Kinobesucher schon 2011 mit seinem Dokumentarfilm „Taste the Waste“ auf: „Die Lebensmittel, die wir in Europa und Nordamerika wegwerfen, würden ausreichen, um die Hungernden der Welt dreimal zu ernähren.“ Das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen.

www.wastecooking.com

www.zerowastejam.com

www.tastethewaste.at

Iss mich-Lieferservice und Catering
Erlafstraße 7, 1020 Wien
www.issmich.at

Initiative
www.foodsharing.at

Verpackungsfrei einkaufen
Lunzers Maß-Greißlerei
Heinestraße 35, 1020 Wien
Tel.: 01/212 13 87
www.mass-greisslerei.at

holis market
Johann-Konrad-Vogel-Straße 7–9, 4020 Linz
www.holis-market.at

Liebe & Lose Precycling Supermarkt
Herzog-Siegmund-Ufer 1–3, 6020 Innsbruck
www.liebeundlose.at