Das wird jetzt alle interessieren!

Eine Erforschung des Bregenzerwaldes in Theorie und Praxis

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Ich betrachtete den Bregenzerwald aus der Vertikalen. Das geht gut, seit „Das Schiff“ in Hittisau neue Zimmer hat, in denen die Betten so aufgestellt sind, dass du im Liegen hinaus auf die Hügel siehst, auf den Schwung der Landschaftssilhouette, die mild miteinander korrespondierenden Farben, die Harmonie dieser besonderen Gegend am Ende Österreichs – oder, wie die Bregenzerwälder meinen, ganz am Anfang.

Der Wald war schwarz. Die Hügel waren schwarz. Der Schwung der Landschaftssilhouette: schwarz.

Irgendwas stimmte da nicht.

Ich schaute auf die Uhr. Es war Nacht, zehn vor drei. Das erklärte einiges. Ich hätte jetzt auch schlafen können, wenn ich nicht wach gewesen wäre. Aber wäre ich nicht wach gewesen, hätte ich auch nicht die Muße gefunden zu kontrollieren, wie exakt die Möbeltischler hier gearbeitet hatten. Beeindruckend. Die Oberfläche des Holzes seidig und glatt, die Fugen parallel, wie aus dem Katalog für gelungene Maßarbeit. Andererseits: Wenn im Bregenzerwald etwas klar ist, dann, dass die Möbeltischler so exakt arbeiten wie die Steuereintreiber in Schweden.

Ich gähnte, um mir selbst irgendwie plausibel zu machen, dass es mitten in der Nacht war, also Zeit, müde zu sein. Aber dann musste ich auch schon wieder lachen, was Gift für meine Müdigkeit war, denn mir war gerade der Dicke eingefallen, der gestern Abend eine ganze Menge über den Zusammenhang zwischen Halbleitern und Kohlehydraten erzählt hatte – nicht, dass ich das Geringste davon behalten hätte – und seine Ansprachen an den ganzen Tisch stets so begann: Es sollten jetzt alle zuhören, denn er wisse etwas, das werde jetzt alle interessieren.

Ich machte mir eine Notiz in mein Traumbuch: „Selbstbewusstsein steigt proportional zum Körpergewicht.“ Dabei fiel mir auf, dass ich vermutlich doch nicht so wach war, wie ich eben geglaubt hatte, denn ich hielt die Sache tatsächlich für eine revolutionäre Eingebung, die das Ende der „Weight Watchers“ besiegeln würde, mindestens.

Draußen im Schwarz des Waldes zeichnete sich jetzt ein Quadrat hellen, warmen Lichts ab, in dessen Mitte ein wie von Giacometti modellierter Schatten zu sehen war. Das war ich, der am Fenster stand und in die Nacht hinaus starrte. Das Giacometti-Element war der raffinierten Beleuchtung geschuldet, die in den neuen Zimmern des „Schiff“ installiert worden war, denn ansonsten – das wird jetzt alle interessieren – haben die Bregenzerwälder Vorzüge ja einen Schlag ins Botero-Fach, sprich: Es gibt reichlich und sehr gut zu essen.

Gestern Abend zum Beispiel, das fiel mir jetzt am offenen Fenster ein, war nach dem ohnehin schon üppigen Abendessen in der umwerfend schönen alten Wirtsstube des „Schiff“ noch eine Expedition in den Käsekeller auf dem Programm gestanden. Das traf sich zufällig mit der Tatsache, dass ein paar weltbekannte Winzer aus der Bündner Herrschaft anwesend waren und große Flaschen ihrer Hervorbringungen im Fach Pinot noir aus dem Kofferraum holten. So ergab sich im Käsekeller ein kleines, spontanes Symposium, dessen Zweck die intensive Erörterung grenzüberschreitender Geschmacksprivilegien war. Passt jetzt der Pinot noir aus Fläsch perfekt zum 18 Monate alten Alpkäse von der Vorderen Niedere? Oder doch umgekehrt?

Jetzt erinnerte ich mich auch wieder, wie mir der Dicke zu erklären begonnen hatte, wie so ein Alpkäse gemacht wird – theoretisch. Ich hatte dann Hans-Peter Metzler zu Hilfe geholt, den spannkräftigen Patron des „Schiff“.

„Weißt du praktisch, wie man Alpkäse macht?“, fragte ich Hans-Peter. Damit meinte ich das Gegenteil von theoretisch, konnte mich aber wegen zu vielen Impressionen aus Fläsch nicht so exakt ausdrücken, wie ich mir das gewünscht hätte.

Hans-Peter schaute mich an, als hätte ich gerade wissen wollen, wie die merkwürdige weiße Flüssigkeit heißt, die aus dem Euter einer Kuh herausgepresst wird.

Er verstand mich doch nicht.

„Kann ich mir anschauen, wie der Käse gemacht wird?“, fragte ich und fuchtelte mit den Händen, und Hans-Peter ging zuerst in Deckung und zückte dann sein Mobiltelefon. Immer, wenn ihm etwas zu langsam geht, ruft er irgendwo an, und dann geht es plötzlich sehr schnell.

Als er ein kurzes Gespräch beendet hatte, nickte mir Hans-Peter fröhlich ins Gesicht.

„Geht klar“, sagte er. „Du kannst morgen auf die Alp zum Käsen.“

„Perfekt“, sagte ich. „Wann?“

„Du wirst früh aufstehen müssen.“

Der Bregenzerwald ist ein Landstrich etwa zwanzig Kilometer östlich von Bregenz im Vorarlberger Zwickel zwischen Bodensee, Allgäu und Arlberg. Der Unterschied zu allen anderen Landstrichen Österreichs springt sofort ins Auge. Hier sieht die Welt aus, wie sie aussehen soll. Das hat zuerst einmal mit der Architektur zu tun. Die alten Bauernhäuser des Bregenzerwalds, die oft mehrere hundert Jahre alt sind, wurden vorbildlich in Schuss gehalten und restauriert. Die zweiundzwanzig Ortschaften, in denen etwa 30.000 Menschen leben, wuchern nicht über ­ihre klassischen Grundrisse hinaus, sondern stehen kompakt und geordnet. Die Raumordnung ist aber keineswegs historistisch geprägt, sondern nach qualitativen Kriterien offen gehalten.

So konnte neben der Pflege der Altsubstanz auch dezidiert moderne Architektur entstehen, sofern sie sich den klassischen, handwerklichen Disziplinen verpflichtet sieht: einem außerordentlich hoch stehenden holzverarbeitenden Gewerbe, grandiosen Zimmerleuten und Tischlern. Wenn man durch den Achraintunnel in den Bregenzerwald einfährt, wird man deshalb von einem merkwürdigen Gefühl erfasst. Während normalerweise auf zehn fragwürdige bis abstoßende Gebäude eines kommt, das mit seiner Struktur und Wahl des Materials überzeugt, ist es im Bregenzerwald genau umgekehrt. Hier kommt auf zehn gelungene Häuser vielleicht ein schlechtes, und selbst die schlechten Häuser fallen hier nicht ins Gewicht, weil ihre mangelnde Qualität nicht das kleinbürgerliche Selbstbewusstsein hat wie die in Leuchtfarben bemalten Einfamilienhäuser im Weinviertel oder dem Mittelburgenland – gibt es dort eigentlich jeweils einen Ausverkauf von Slimegrün und Atomkraftwerkgelb im Lagerhaus?

Hier jedoch Bauernhäuser, deren Formen aufgenommen und mit klaren Linien neu interpretiert wurden. Zubauten, die als Würfel oder Quader aus Holz gehalten sind und Eleganz und Harmonie verströmen. Gedankliche Sauberkeit und technische Perfektion ergeben auf diese Weise ein kulturell einzigartig gepflegtes Landschaftsbild.

Dieser lange Prolog führte mich direkt nach Hittisau im hinteren Bregenzerwald. Dort steht das Wirtshaus, dessen profunde Qualität nicht vom übergeordneten Qualitätsbegriff der gesamten Region zu trennen ist: Es heißt „Das Schiff“, und der Artikel „das“ im Namen ist mit Sicherheit der einzige Manierismus, den man dem Wirtshaus mit angeschlossenem Hotel vorwerfen kann.

Das Zentrum des Hauses ist die alte Stube, holzgetäfelt und niedrig. Hier gibt es Essen, das eine rare Mischung aus durchdacht und selbstverständlich ist: regional verwurzelt, aber von einem Qualitätsbegriff, der weit über den eines normalen Dorfwirtshauses hinausgeht (und von denen stehen eine Menge im Bregenzerwald. Allein in Hittisau, 1.849 Einwohner, gibt es fast zwanzig Gasthäuser, und das lässt sich nicht nur mit dem durchaus funktionierenden Tourismus erklären. Die soziale Infrastruktur ist erstaunlich unbeschädigt).

Also bedeutet „regional“ nicht nur, was es traditionell hier gibt, sondern auch, was man sich angeeignet hat – und anzueignen vorhat. Hans-Peter Metzler, der Patron, ist ein entschlossener, genauso begeisterter wie begeisterungsfähiger Unternehmer. Er führte einige Jahre lang die „Käsestraße“, eine Vermarktungsgemeinschaft für Vorarlberger Bergkäse, den Exportschlager des Bregenzerwalds, und es kann deshalb auch nicht überraschen, dass auf der Karte des „Schiff“ ein Käsemenü steht, in welchem das Thema allerdings ziemlich frei interpretiert wird, Fisch und Fleisch inklusive.

Schon auf der ersten Seite der Speisekarte werden die Produzenten vorgestellt, bei denen die Küche des „Schiff“ einkauft. Diese, vom A la carte-Guide mit 78 Punkten und drei Sternen ausgezeichnet, wird übrigens von keinem Starkoch, sondern von Metzlers Mutter Erna geleitet. Als ich vor dem Essen eine Runde ums Haus drehte, stolperte ich über die Einfassung des ausgedehnten Gemüsegartens, in dem das meiste an Salaten und Frischgemüsen, was die Küche verwendet, angebaut wird.

Interessant ist freilich der Regionalitätsbegriff der Metzlers. Der Patron definiert Regionalität nicht nur als das, was er in unmittelbarer Nähe seines Hauses vorfindet, sondern als das, was er vorfinden könnte. Zum Beispiel ermunterte er einen Gemüsebauern, für die nächste Saison Spargel anzubauen, ein Gemüse, das im Bregenzerwald keine Tradition hat, aber auf einer Höhe von 800 Metern möglicherweise interessante Ergebnisse erzielt.

„Regionalität ist“, sagte mir Metzler, als der Dicke an unserem Tisch für einen Moment die Luft anhielt, „was wir vor Ort gemeinsam entwickeln.“ Selten einen so klugen Satz gehört, der im Licht der Entwicklungen, die auf dem Architektur- und Handwerkssektor des Bregenzerwaldes bereits stattgefunden haben, nicht nach Utopie, sondern nach Programm klingt.

Wir aßen zum Abendessen ein „Grünes Menü“ mit Spargeln und Forellen, mit Eierschwammerln in klarer Suppe und einem grandiosen Rhabarbertörtchen, dazu trank ich Riesling von Fred Loimer, dann nahm mich Hans-Peter Metzler an der Hand und zeigte mir das Haus, an dessen Ausbaustufen man die Entschlossenheit des Patrons direkt ablesen konnte.

Das historische Gebäude aus dem Jahr 1840 gab, blutrot geschindelt, den Takt vor. Dazu kam in den 1970er Jahren ein Zubau des Hotels, der, streng genommen, wie eines der zehn weniger gelungenen Häuser aussieht, aber innen mit großer Liebe und formaler Strenge ausgebaut, begradigt und atmosphärisch umerzogen wurde. Ein schräg gestellter Zubau ans Hotel fügte dem Ensemble zuletzt sechs neue Zimmer hinzu. Jedes einzelne wurde einem Tischler der Region zur Ausgestaltung überlassen, und in einem davon stand jetzt ich und schaute ins Dunkel. Vielleicht lag ich auch im Bett und träumte, dass ich ins Dunkel hinausschaute.

Jedenfalls klopfte es vorsichtig an der Tür.

Tock. Tock, tock. Tock.

Wer immer dort draußen stand, er meinte es gut mit mir. Das Klopfen flüsterte: Könnte es sein, dass Sie mich nicht hören, weil Sie erst sehr spät schlafen gegangen sind? In dem Fall können Sie ruhig weiterschlafen, auch wenn wir gestern Abend ausgemacht haben, dass wir Sie wecken.

Ich war fast ein bisschen gerührt über so viel Einfühlungsvermögen in eine nachtschwere Seele.

Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass jetzt jemand mit den Fäusten an die Tür hämmerte und mir so kryptisch wie grobschlächtig mitteilte: „Aufstehen, Käsetoast.“

Wer das war?

Das wird jetzt alle interessieren: der Dicke natürlich.

Jetzt wusste ich, was ich die ganze Nacht nicht vermisst hatte.

Im Gegensatz zu mir war der Dicke nämlich nicht schlafen gegangen. Er hatte mitgehört, wie mir Hans-Peter Metzler einen Ausflug auf die Alp organisierte und sich entschlossen, sein theoretisches Universalwissen, das selbstverständlich auch die Alpkäserei inkludierte, bei einer ­Exkursion an Ort und Stelle auch den dort beschäftigten Praktikern zur Verfügung zu stellen.

Das Glück war, dass mir der unvergleichliche Hans-Peter neben dem offenen Kamin im Hotelfoyer ein kleines Frühstück vorbereitet hatte, das den Dicken ablenkte. Nur so viel: Der Dicke ist nicht zufällig dick, er isst auch sehr viel. Er aß meine Semmeln, meinen Schinken, er trank meinen Kaffee und meinen Orangensaft, und dann schlief er in dem Stuhl, in dem ich mein Frühstück zu mir nehmen sollte, ein. Ich weckte ihn nicht, obwohl ich versucht war, so freundschaftlich auf seinen Wanst zu klopfen, wie er an meine Tür geklopft hatte. Aber ich musste los, denn auf dem Plan, den mir Hans-Peter hinterlassen hatte, stand, dass ich mich beeilen musste, wenn ich Robert Troy rechtzeitig in Oberdorf antreffen wollte.

Ich kam also auf das Angebot des Dicken zurück, sein Auto zu nehmen, das er mir sicher gemacht hätte, wenn er nicht vorher eingeschlafen wäre. Er hatte ­sogar den Schlüssel schon für mich bereit gelegt, ich konnte ihn problemlos aus seiner Hosentasche fischen, ohne den Dicken aufzuwecken.

Das erste Stück Käse an diesem makellosen Tag kostete ich auf dem Rehenbergvorsäß etwas oberhalb von Egg. Die Holzhäuser und -ställe des Alpdorfs sind über den ganzen Hügel verstreut. Oben am Weg stand eine holzgeschindelte Kapelle, wo sich die vierzehn Familien, die hier leben, am Sonntag zum Rosenkranzbeten treffen. Anschließend gehen sie zum Frühschoppen, aber heute war leider nicht Sonntag. Der Blick über die Alm war sowas von idyllisch, dass sich der Anflug schlechten Gewissens darüber, dass ich dem Dicken das Auto gestohlen hatte, sofort in der klaren Bergluft auflöste. Außerdem war der Käse der Hammer.

Der Alpkäse vom vergangenen Sommer war elf Monate alt, von zartem Gelb und cremigem, vielschichtigem Geschmack. Robert und sein Kumpel Nilsson, der Senn, schauten ein wenig befremdet zu, wie ich den Käse verkostete, was heißt verkostete, wie ich ihn verputzte, hinunterschlang, auffraß. Ich hatte ja kein Frühstück bekommen.

Nilsson sagte etwas, was ich nicht verstand. Es musste lustig gewesen sein, denn Robert und Nilsson kriegten sich gar nicht ein vor Lachen. Nilssons Sprache war eine lustige Mischung aus südlichem Portugiesisch und dem gutturalen Alemannisch der Bregenzerwälder. Er stammte aus Brasilien, hatte in Vorarlberg zuerst als Knecht gearbeitet, bis er sich zum Senn hinaufgearbeitet hat, zehn Stunden Arbeit pro Tag, sieben Tage pro Woche. Kein Fernsehen, kein Internet, weil das Vorsäß nämlich zu allem Überdruss in einem Funkloch liegt. Senn ist kein moderner Beruf, sondern ein Handwerk, das von der Gewerkschaft verbotenes Durchhaltevermögen und esoterisches Fingerspitzengefühl verlangt. Die Milch hat nämlich Launen, und Nilsson musste auf die Milch aufpassen.

Stellt euch das folgende Gespräch minus einer Lautverschiebung und plus dem sympathischen Sch-Sch-S-Fehler eines indigenen Brasilianers vor. Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, der Käse sei mit verbotenen Substanzen angereichert, aber es war bloß die intrinsische Konzentration, mit der ich zuhören musste und die meine Augen so hervortreten ließ wie jene von Mesut Özil.

Die Milch von den knapp dreißig Kühen, die auf dem Vorsäß weiden, ist jeden Tag anders als am Tag zuvor. Vielleicht, weil das Wetter wechselt, vielleicht, weil die Kühe an unterschiedlichen Orten geweidet haben, reagiert sie im Kessel geringfügig, aber doch spürbar unterschiedlich. Nilsson stand jedenfalls im Muskelshirt vor dem Kupferkessel, die Arme tief in der Milch, und prüfte, wie sich der frische Käse gerade anfühlte. Was er da spürte? Die Sch-Sch-Sch-Truktur. Mit geschlossenen Augen entschied Nilsson, wie lange er den sich verfestigenden Stoffen in der Milch noch Zeit geben sollte.

„Jedes Stück Bergkäse ist ein Einzelstück“, erklärte mir Robert druckreif, das könne ich mir merken. Ein Stück Butter kann zum Beispiel intensiv nach Bärlauch schmecken, wenn die Kühe am Tag davor im Bärlauch geweidet haben, und auch jeder Laib Bergkäse ist nichts anderes als eine Momentaufnahme: was die Kühe gefressen haben; wie die Reifung angesprungen ist; welche Aromen sich dabei durchgesetzt haben. Winzer würden das „Terroir“ nennen, das Gegenteil von, Verzeihung, Indu-sch-sch-trialisierung, deren Kernaufgabe darin besteht, stets das messbar gleiche Produkt herzustellen. Das geht hier nicht. Soll ich mir merken.

Ich sah Nilsson dabei zu, wie er fünf Käselaibe aus dem Kessel wuchtete. Ich kostete das frische Zeug, das mild und gummiartig schmeckte, und begriff, dass „Reifeprozess“ kein leeres Wort ist. Ich zog mit Robert eine Runde über das Vorsäß, betrachtete die Holzhäuser, in denen sich Menschen und Tiere die Räume unter einem Dach teilen und bewunderte die Aussicht auf so viele Grüntöne, wie die Eskimos Worte für „Schnee“ haben. Dann machte ich mich auf den Weg hinauf zu Theresia Schneider und der Alpe Oberfalz, die sie bewirtschaftet, eine gute halbe Stunde Fußmarsch und die ideale Vorbereitung auf ein kleines Mittagessen.

Bei Theresia gab es „Seagen“. Die Schüssel stand auf dem großen, grau gescheuerten Tisch in der mächtigen Sennstube. Draußen bimmelten die Kuhglocken. Drinnen glänzte der Kupferkessel, in dem Theresia mit der Milch von heute morgen zwei Laibe Alpbergkäse zu je dreißig Kilo hergestellt hatte. Georg, Theresias Mann, und einer der Buben saßen schon am Tisch.

Wir sprachen über Toni Innauer. Toni ist der berühmteste Bregenzerwälder ever, wenn man vom dichtenden Bauern Franz Michael Felder absieht, für den nicht nur Peter Handke eine Schwäche hat. Theresia erzählte, dass sie mit dem Toni Skirennen gefahren sei, damals in den siebziger Jahren, und ich dachte mir, wenn der Toni damals auch schon so ein Hänfling war wie heute, dann hatte er auf den Gleitabschnitten mit Sicherheit keine Chance gegen die Theresia.

„Seagen“ ist übrigens das Schlussprodukt eines langen Sennenvormittags. Zuerst wurde die Butter und dann der Alpkäse gemacht. Dann schüttete Theresia etwas „saure Molke“ in die frische Molke, von der sich noch reichlich im Kessel befand, worauf das darin enthaltene Eiweiß ausflockte. Es verklumpte, bildete merkwürdige Strukturen, die wie Windungen eines riesigen, blütenweißen Gehirns aussahen, gebildete Menschen entdecken darin zuweilen die Rückansicht des großen Philosophen Franz Schuh.

Das war die Sennsuppe. Sie kam in warmer Molke auf den Tisch – und schmeckte gar nicht schlecht, sanft, süß, delikat, sie füllte den ganzen Mund mit ihrem Geschmack aus und erwies sich als erstaunlich nahrhaft. Ich löffelte mit den anderen um die Wette, es blieb nichts übrig. Theresia fütterte mich anschließend gleichwohl mit Brot und Butter und ihrem Alpkäse, der eine Offenbarung war in seiner Balance aus Milde, Cremigkeit und Kraft.

Theresia Schneiders Käse reift ohne unterstützende Kulturen. Wenn er gepresst ist, liegt er drei Tage in Salzlake, dann kommt er in den dunklen, kühlen Reifekeller hinter der Sennstube und bekommt die Zeit, die er braucht, um seinen typischen Geschmack auszuprägen. Ein Glück, dass Stephan Gruber, der kaes.at-Marktfahrer, Theresia regelmäßig genug Käse abkaufen kann, dass es jeweils samstags auch am Nasch- und Karmelitermarkt etwas davon zu kaufen gibt.

Satt stieg ich von der Alm Oberfalz ab und fuhr mit dem Auto des Dicken weiter nach Andelsbuch. Vielleicht sollte ich ihm kurz Bescheid sagen, dachte ich mir und schaltete mein Mobiltelefon ein. Sechzehn Anrufe in Abwesenheit, merkwürdig. Wer konnte so dringend etwas von mir wollen?

Ich rief den Dicken an, um ihm zu sagen, dass seine Karre in Sicherheit war und er sich einen Preiselbeersaft auf meine Rechnung bestellen sollte. Aber er hob nicht ab. Dabei fiel mir ein merkwürdiges Brummen auf, das ich unter dem Beifahrersitz verortete. Ach, das Mobiltelefon des Dicken. Kein Wunder, dass er nicht abhob. Gleich neben seiner Geldtasche. Hatte er nicht irgendwas davon erzählt, dass er in Oberösterreich zu einem Vortrag erwartet werde? Komisch, was einem alles einfällt, sobald man ein bisschen an der frischen Luft gewesen ist.

Konfuzius sagt bekanntlich, dass, wer es eilig hat, einen Umweg machen soll. Er kennt den Sessellift von Andelsbuch auf die Vordere Niedere nicht. Als ich die Bergstation erreicht hatte, war ich alt und erleuchtet.

Ich traf Leo Feuerstein, der den merkwürdigen Spagat zusammenbringt, einerseits ein Gipfelgasthaus mit dem ganzen Germknödel-Bernerwürstel-Programm zu betreiben und andererseits einen Bergkäse zu produzieren, der so sanft, rahmig und einschmeichelnd ist, dass ich dahinschmolz wie eine Fonduefüllung – ja, man sieht von hier hinüber auf den Appenzeller Alpstock, deshalb ist der Vergleich berechtigt.

Im Gasthaus vernichteten Kohorten von Ausflüglern Unmengen von Radlern. Viele von ihnen kombinierten ihre Lederhosen zu T-Shirts, auf denen „Woodstock der Blasmusik“ stand. Gleich neben der kleinen Sennerei befand sich die Abflugswiese für die Paragleiter der „Flugschule Andelsbuch“. Der Luftraum war voller merkwürdiger, bunter Vögel mit langen Nasen, während die Kuhglocken läuteten und die dunkel gefleckten Kühe nervös muhten, weil sie nicht wussten, ob sie nicht gleich vom Andenkondor geholt würden. Mein Blick schweifte weit über den Bodensee, über den Schweizer Alpstock und den Dunst des Allgäus.

Leo Feuerstein erzählte mir von den Kräutern, die das Aroma seines Käses prägen, von der speziellen Flora der Niedere: Huflattich, Frauenmantel, Alpen-Kuhschellen, Sumpfdotterblumen, Trollblumen. Die Butter war gerade goldgelb, weil die Kühe so viel Löwenzahn gefressen hatten. 35.000 Liter Milch ergeben 3.500 Kilo Bergkäse, sagte mir Leo, und ich nahm mir vor, das Verhältnis auf der Talfahrt auszurechnen. Zeit genug für so eine komplizierte Rechnung würde ich haben.

Der Dicke war mir nicht böse. Er war, bis ich zurückkehrte, im „Schiff“ aufopfernd gepflegt worden, nachdem ihn Hans-Peter schlafend im Foyer entdeckt hatte. Er hatte sogar einen ­Ausflug unternommen und war zu Fuß in die „Krone“ gegangen, ein weiteres Prunkstück von Hittisau, und hatte dort ein, zwei Seidel Mohrenbräu gezwitschert und unter dem Namen Seiler, Käse­toast Seiler, anschreiben lassen. Er hatte ja kein Geld. Von diesem Streich befeuert, hatte er sogar den Rückweg ins „Schiff“ ohne Sammeltaxi geschafft.

Der Vortrag in Oberösterreich? Wegen Gallenkolik abgesagt. Kein Mensch würde die Plausibilität dieser Ausrede anzweifeln. Jetzt saß der Dicke an dem besten Tisch in der historischen Stube, ein weißes Handtuch über die gewaltige Wampe gebreitet, und teilte mir mit, dass demnächst die grandiosen Kässpätzle aufgetragen würden, zu deren Zubereitung er der Küche ein paar konstruktive Anregungen gegeben habe.

Das wird jetzt alle interessieren.

Adressen

Das Schiff
Heideggen 311
6952 Hittisau
Tel.: 05513/62 20-0
www.schiff-hittisau.com

Gasthof Krone
Platz 185, 6952 Hittisau
Tel.: 05513/62 01
www.krone-hittisau.at

Sennalpe Obere Pfalz
Georg und Theresia Schneider
Vögin 123, 6863 Egg
Mobil: 0664/374 47 94

Alpe Vordere Niedere
Leo Feuerstein
Ruhmanen 509
6866 Andelsbuch
Tel.: 05512/46 35

Kaes.at
Käse-Onlineversand