Der Hund im Suppentopf
Was auf den Tisch kommt – und was nicht.Über (religiöse) Nahrungstabus
Der Hund im Suppentopf
Text von Sonja Stummerer & Martin Hablesreiter
Fotos von Luzia Ellert
Essen zählt zu den intimsten menschlichen Tätigkeiten. Wenn wir einen Bissen in den Mund stecken, zerkauen und hinunterschlucken, ist das nicht nur eine zutiefst sinnliche Körpererfahrung, sondern auch eine geistige Grundsatzentscheidung. Denn was als Nahrungsmittel gilt, und was nicht, ist kulturell definiert. Warum läuft uns angesichts von Gänseleber, Austern oder Kaviar das Wasser im Mund zusammen, während uns der bloße Gedanke an Maden oder Meerschweinchen auf dem Teller erschauern lässt?
Das Essen ist moralisch, ob es uns schmeckt oder nicht, stellt der deutsche Philosoph Harald Lemke fest. Mit wenigen Ausnahmen – etwa Giftigem oder Ungenießbarem – sind es keineswegs rationale Überlegungen, die uns dazu motivieren, lustvoll zuzubeißen oder dankend abzulehnen. Rein Ernährungsphysiologisch könnten wir nämlich viel mehr Dinge ohne Schaden zu uns nehmen, als uns der gesellschaftlich verordnete Speisezettel tatsächlich erlaubt. Jede Familie, jede Region, jeder Kontinent erklärt gewisse Zutaten als verzehrtauglich, während andere Pflanzen- und Tierarten – aus religiösen, sozialen oder historischen Gründen heraus – tabuisiert werden.
Wussten Sie beispielsweise, dass Pythagoras seinen Anhängern den Verzehr von Bohnen verbat? Und Kaiser Leo IV untersagte bei Strafe das Verspeisen von Blut und Blutwurst. So konnte der Genuss eines Blunzengröstls für byzantinische Gourmets mit einigem Pech sogar auf dem Scheiterhaufen enden! Viele Ethnien nutzen Auswahl und Zubereitung von Speisen zum Aufbau ihrer kulturellen Identität und befolgen – freiwillig – teils uralte religiöse Nahrungsvorschriften.
Zu den bekanntesten und aufwendigsten derartigen Regelungen zählen vermutlich jene der Juden. „Koscher“, also für den Verzehr unbedenklich, sind demnach Tiere, die zweigespaltene Hufe haben und wiederkäuen, sowie Fische mit Flossen und Schuppen. Gläubige Juden verzichten daher auf den Verzehr von Schweinen, Kamelen und Pferden, aber auch Gerichte mit Aal, Wels, Hummer, Langusten, Muscheln, Tintenfisch oder Schnecken haben nach jüdischer Tradition nichts in der Küche verloren.
Allerdings dürfen auch die erlaubten Zutaten nur in bestimmten Kombinationen verzehrt werden. Denn sämtliche Lebensmittel werden nicht nur in koscher und „treife“ (jiddisch für nicht koscher) unterteilt, sondern auch in „fleischig“, „milchig“ und „neutral“, wobei die ersten beiden nicht gemeinsam genossen werden sollten. Zwischen einem „fleischigen“ und einem „milchigen“ Gericht ist eine bestimmte Wartezeit einzuhalten und vice versa. Diese Trennung geht soweit, dass orthodoxe Haushalte nicht nur über zwei Garnituren Besteck und Geschirr – eines für milchige und eines für fleischige Speisen – verfügen, sondern auch über zweierlei Kochgeschirr, zwei Kühlschränke, zwei Gefriertruhen, ja im Extremfall sogar über zwei getrennte Küchen.
Der äquivalente Begriff für „koscher“ lautet im Islam „halal“, also Dinge und Taten, die nach islamischem Recht erlaubt sind. Beim Essen sollte der gläubige Muslim auf den Verzehr von Schweinefleisch, von Blut und berauschenden Getränken verzichten. Und ähnlich wie im Judentum entscheidet das Schlachtritual über die rituelle Qualität des Fleisches: Die Tiere müssen unbetäubt von einem Mitglied der Glaubensgemeinschaft erlegt werden, wobei der Name Allahs genannt werden soll.
Bei Industriewaren wachen ganze Scharen von Gütesiegeln unter der Mitwirkung von Rabbinern und Imamen über die Einhaltung der religiösen Nahrungsvorschriften. Spirituelle Speisegebote stellen mittlerweile auch einen nicht unwesentlichen Wirtschaftsfaktor dar, weswegen Lebensmittelhersteller tunlichst darauf achten, die Ansprüche möglichst vieler Ethnien zu befriedigen. Sogenannte „cross border“ Produkte, die quer durch alle sozialen Schichten und Religionsgemeinschaften gegessen werden, behaupten sich am Markt nämlich schneller und besser als ihre nicht koscheren und nicht halal-geprüften Kollegen. In den USA zählen zum Beispiel die berühmten „Oreos“, dunkle, runde Doppeldeckerkekse mit einer weißen Cremefüllung, zu dieser Gruppe von Esswaren. Sie wurden 1912 von der Firma Nabisco in New York erfunden, und sind heute vor allem deshalb ein kulinarischer Archetyp, weil sie sowohl den jüdischen als auch den islamischen Nahrungsvorschriften entsprechen und daher von allen Amerikanern verzehrt werden können.
Aber auch das Christentum kannte ursprünglich – abgesehen von den unzähligen Fasttagen – zahlreiche Speisege- und verbote. Bis ins 16. Jahrhundert hinein galt etwa der Verzehr von Pferdefleisch als Hexerei und Teufelsbündlertum und war vom Papst offiziell untersagt. Dieses Tabu spukte anscheinend noch lange in den Köpfen der Gläubigen herum, denn auf seinem Russlandfeldzug musste Kaiser Napoleon die Soldaten ausdrücklich dazu auffordern, die am Schlachtfeld getöteten Pferde zu essen, um nicht zu verhungern.
Welchen Zweck aber verfolgen Nahrungstabus und Speisevorschriften? Und wie werden sie exekutiert? Die Soziologie sieht die Auswahl von Esswaren als Element einer kulinarischen Moral, eine Art Grundgesetz vor allen anderen Gesetzen. Demnach dient die Nahrungsauswahl dazu, die soziale Ordnung innerhalb einer Gesellschaft zu verankern –und sich von anderen abzugrenzen.
Essen wird zu einem symbolischen Akt, wenn Gruppen klar definieren, was sie sich inkorporieren – und was eben nicht. Wenn Christen Schweinefleisch essen, Moslems jedoch nicht und streng gläubige Hindus überhaupt kein Fleisch zu sich nehmen, so tragen diese religiös motivierten Ernährungstabus ebenso zur Sinnstiftung und zum kulturellen Selbstverständnis bei, wie heute beispielsweise die unterschiedlichen Regionalküchen oder der Vegetarismus. Lebensmittel sind ein Teil unserer Identität, ihre Auswahl eine Frage des Lifestyles. Kritik am Nahrungsverhalten wird als Angriff auf die eigene Persönlichkeit und damit als schwere Beleidigung gewertet.
Die Essgewohnheiten anderer Gemeinschaften dagegen werden bestenfalls belächelt, meist jedoch verurteilt. Wir können Fremde nicht „riechen“ und meinen damit die Ausdünstungen infolge ihrer Ernährung. In Asien etwa bezeichnet man Europäer als Butterfresser, weil sie vermeintlicher Weise nach Butter „stinken“. Der „kulturelle“ Ekel offenbart das rassistische Potential unseres Nahrungsverhaltens, denn Gruppen benutzen gesellschaftlich erlernte Tabus auch, um Fremde zu brandmarken und den sozialen Kontakt mit ihnen zu unterbinden. Beim Essen sind wir eben nicht nur Gewohnheitstiere, sondern oft kompromisslos gegenüber Andersartigem. Schon ein altes Sprichwort weiß ja, dass der Bauer nicht frisst, was er nicht kennt.
Im modernen Rechtsstaat werden kulturfremde Nahrungsmittel nicht mehr tabuisiert, sondern gesetzlich untersagt. Was wir zu uns nehmen dürfen – und was nicht –, ist zwar nicht mehr religiös verankert, sehr wohl aber im Codex Alimentarius Austriacus, dem Österreichischen Lebensmittelbuch. So dürfen hierzulande zum Beispiel weder Kamelfleisch noch frische Insekten zum Verkauf angeboten werden, auch wenn diese Esswaren anderswo als Spezialität gelten. Neuartige Zutaten, auch exotische Früchte müssen vom EU-Parlament erst als Nahrungsmittel zugelassen werden, ehe sie in ein europäisches Supermarktregal geschlichtet werden dürfen. Und so ist die Erweiterung unseres Speisezettels oft ein recht zäher Prozess, wie der jahrelange Streit um die Zulassung des Süßungsmittels Stevia recht deutlich vor Augen führt.
Aber auch innerhalb der gesetzlichen Normen wählt jeder für sich nach seinem eigenen Gutdünken gewisse Esswaren aus, während er andere unangetastet stehen lässt. Neben dem Lebensmittelkodex geben uns heute nicht nur das familiäre Umfeld und der gesellschaftliche Status vor, was wir lustvoll in den Mund stecken können und was nicht, sondern vor allem auch soziale Motivationen. Bewusst oder unbewusst erlegen wir uns unzählige Tabus auf, die beispielsweise die Gesundheit erhalten, das Leben verlängern oder verbessern sollen. Wenn sich heute in den Kühlregalen Joghurts mit 0,1% Fettgehalt finden, so deshalb, weil Fett in modernen Industrienationen ganz klar tabuisiert wird.
Andere selbstauferlegte Verbote verfolgen gesellschaftspolitische Ziele, etwa der Verzicht auf Fleisch, der in einer an tierischer Nahrung orientierten Gesellschaft naturgemäß provozieren muss. Um 1870 wollten die Gründerväter der vegetarischen Bewegung mit ihrer fleischlosen Lebensweise die feudal-patriarchalische Kultur des willhelminischen Regimes unterminieren und eine neuartige, demokratische und sozialistische Gesellschaft begründen.
Auch heute noch verzichten Vegetarier, Veganer, Slow Food- oder Fair Trade-Aktivisten bewusst auf den Verzehr verschiedener Zutaten, um ihre Ideale von einer gerechteren Welt durchzusetzen. Lebensstile wie jener der LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainibility) belegen industrielle Herstellungsweisen mit einem Esstabu – sei es um die Umwelt zu schützen oder um nachhaltiges Wirtschaften und traditionelle Produktionsmethoden zu unterstützen. Derart nutzen sie ihr Essverhalten als gewaltfreies Mittel, um gesellschaftliche Gepflogenheiten zu hinterfragen und Otto Normalesser vor den Kopf zu stoßen.