Der Rattenschwanz des Radius

Hörer auf, Gummistiefel an, Gewohnheiten über Bord: Wenn ein Spitzenkoch sich für Regionalität entscheidet, ändert das mehr, als man glaubt. Der Südtiroler Norbert Niederkofler über Lammgewicht, „Ja, aber“-Mentalität und das „Ü“-Wort.

Text von Anna Burghardt Foto: beigestellt

Du handelst dir ja mit so einem Schritt einen ganzen Haufen Ärger ein.“ Wie meinen Sie das, Herr Niederkofler, wer hat Ärger? „Na, ich selbst. Im Prinzip war’s früher ja relativ einfach, du hast das Telefon in die Hand genommen, hast gesagt, ich brauch morgen zehn Kilo Steinbutt, fünf Kilo Gänsestopfleber, sechs Kilo Lammrücken von da, und am Tag danach hast alles da gehabt. Jetzt schaust einmal, wo du das Zeug herkriegst. Da stehst ab und zu ganz schön auf dem Schlauch.“

Norbert Niederkofler, den vielen Auszeichnungen nach der beste Koch Südtirols, hat mit diesem Sommer seine Karte radikal umgestellt. Bei Rungis Express ruft er seither selten an. Denn die Zutaten seiner Küche kommen nur mehr aus der Umgebung. Damit ist er zwar nicht der einzige – Regionalismus ist schließlich zurzeit das große Kulinarikthema –, an seinem Arbeitsplatz mutet dieser Schritt aber doch ein wenig gewagt an: Im Rosa Alpina in Alta Badia steigt nämlich das typische Gänseleberpublikum ab. Ein teures Relais&Chateaux-Hotel, viele internationale Gäste, Niederkofler kocht dort im kleinen Restaurant St. Hubertus. Das mit der Gänseleber ist übrigens kein plattes Klischee: „Wenn wir vierzig Reservierungen gehabt haben, haben wir dreißig Mal Gänsestopfleber verkauft. Und jetzt haben wir sie einfach von der Karte genommen! Da musst dir schon was einfallen lassen, wie du das den Leuten erklärst.“

Hat Niederkofler einen halbwegs ähnlichen Ersatz? „Wir haben Leber auf der Karte, also einfach frische Geflügelleber, Entenleber, aber keine Stopfleber. Aber natürlich muss man das komplett anders verarbeiten. Wie gesagt, du stellst das ganze Ding auf den Kopf.“

Der Südtiroler hatte immer schon sehr viele regionale Elemente in seiner Küche, allerdings längst nicht ausschließlich. Meeresfisch etwa war immer auf der Karte, schließlich verbindet man die Südtiroler Spitzenküche mit einer manchmal durchaus schrägen Mischung aus Berg und Meer, aus deftig und mediterran – Buchweizen und Büffelmozzarella, Gams und Amalfizitronen. Im Winter 2011/12 war Niederkofler klar, dass er mit dem darauffolgenden Sommer die Zutatenliste komplett regionalisiert haben wollte. Heute gibt es keinen Steinbutt mehr, sondern ausschließlich Äsche, Renke, Zander und Co. „Mit diesem Schritt haben wir gesagt, egal, wir machen jetzt, was wir wollen. Du bist nicht mehr vergleichbar, um das geht’s auch. Heute mit dem Internet ist es ja relativ einfach, dass du kurz schaust, was in Amerika gekocht wird, was in Asien gekocht wird, was in Australien. Und auf siebzig, achtzig Prozent der Speisekarten findet man noch immer das Gleiche. Mit diesem Schritt bin ich halt jetzt komplett weg. Was nicht heißt, dass da jetzt schon eine neue Linie da wäre, die steht in den Sternen. Ich war mir ja nicht einmal bewusst, was ich da tu.“ Norbert Niederkofler muss an dieser Stelle laut über seinen unfreiwilligen Mut lachen.

Welchen Radius hat er für seine neue Küche definiert, aus welchem Umkreis kommen die Lebensmittel? „Ich geh’ im Moment sicher noch in die Gegend von Trient, ich geh’ nach Österreich… Ich würd’s gern immer mehr einschränken, die Idee ist schon, dass man’s immer enger zieht. Aber momentan muss ich noch hinausfahren.“

Was ändert es für den Arbeitsalltag eines Spitzenkochs, der seine Küche auf eng regionale Lebensmittel umstellt, außer dass er nur mehr selten bei Rungis Express anruft? Zum Beispiel, dass Norbert Niederkofler jetzt sehr viel Zeit bei den Produzenten verbringt. Bei Lammzüchtern, bei Gemüsebauern. Zeit, die ein Küchenchef in einem solchen Betrieb (Niederkofler ist für die gesamte Gastronomie verantwortlich, nicht nur für die des kleinen Restaurants St. Hubertus) eigentlich gar nicht hat. „Mit Telefonieren allein geht es nicht mehr, du musst die Leute besuchen. Ich weiß nicht, wie oft ich schon bei den Lammleuten war, bei den Bauern mit der Butter… Das ist Überzeugungsarbeit und Überzeugungsarbeit und Überzeugungsarbeit. Die großen Lieferanten fallen fast weg, Rungis Express, Selecta… Man muss echt bei Null anfangen. Das Lamm, das ich verwende, ist aus dem Wipptal, da arbeite ich jetzt schon circa ein Jahr dran. Als ich schon fast aufgegeben hab’, weil’s mich einfach nicht kapieren wollten, hab’ ich sie einmal eingeladen. Kommt’s her und ich zeig euch, was die Unterschiede sind. Warum ich nicht Lämmer mit achtzehn Kilo haben will, sondern warum ich Lämmer mit fünfzehn, mit dreizehn Kilo haben will. Die haben’s probiert und gesagt, ja, jetzt kapieren wir’s. Na, guten Morgen! Danke! Ich hab’ denen das ein dreiviertel Jahr versucht zu erklären, aber o.k., jetzt wissen sie’s halt.“

Norbert Niederkofler liegt viel daran, den Bauern (manchmal sagt er Bauern, manchmal Produzenten) zu zeigen, wie wichtig ihre Arbeit ist. Ohne die ließe sich sein Projekt auch gar nicht realisieren: Hatte er etwa bisher Mandeln aus südlicheren Gegenden Italiens auf der Karte, möchte er sie nun durch Erdmandeln ersetzen – nur braucht es da einen Kompagnon, der sie in der Umgebung für ihn anbaut. Die Bauern mit Namen auf die Speisekarte zu schreiben – heute in vielen Lokalen schon selbstverständlich – ist nur ein Schritt, sie als wichtige Partner zu etablieren und zu präsentieren. Niederkofler setzt auch auf wissenschaftliche Unterstützung, etwa auf die des Versuchszentrums Laimburg. „Die helfen den Bauern, sagen, der Boden ist nicht gut für Karotten, mach du lieber Kartoffeln. So können die Bauern ihre Produkte wertvoller machen. Man muss auch so viel Geld für die Lebensmittel zahlen, dass die Bauern wissen, warum sie es tun.“ Ohne das Wort Nachhaltigkeit geht es in dieser Sache ohnehin nicht. Niederkofler hat eine langfristige Veränderung der Versorgung im Sinn. Vielleicht jetzt besonders, weil er einen zweijährigen Sohn hat, meint er. „Auf lange Sicht: Zehn Milliarden Leute – und das sind wir in ein paar Jahren – zu ernähren, das geht einzig und allein über kleine Produzenten. Es gibt Forschungen, Statistiken, Studien zu dem Thema, aber kein Mensch will die wissen. Vor allem nicht die großen Firmen. Aber wenn wir unseren Kindern etwas da lassen wollen, müssen wir anfangen, wieder das wertzuschätzen, was früher einmal war.“

Auch wenn es in gewissen Bereichen dauern wird, bis die Bemühungen von Bauern, Wissenschaftlern und Köchen Ergebnisse bringen. „In Südtirol gibt’s keinen g’scheiten Geflügelproduzenten. Einer der wenigen ist zufällig noch ein Cousin von mir, im Vinschgau. Aber dem muss ich jetzt endlich mal in den Schädel reinhämmern, dass er die Qualität jetzt anders machen muss.“ Auch Schweinefleisch ist in Südtirol ein Problem, das Land ist fast ausschließlich auf Speckproduktion (mit überwiegend holländischem Fleisch) eingestellt. Um alte Rassen kümmert man sich hier deutlich weniger als etwa in Österreich oder Deutschland. Norbert Niederkofler hat freilich Glück, auch wenn er gewisse Probleme mit der Mentalität mancher Züchter hat. „Wir kriegen ein Schwäbisch-Hällisches, das in Südtirol gezüchtet wird. Man muss halt auch hier anfangen, mit den Bauern mehr zu reden, schau, ich brauch ein Schwein so und so und so und so. Die erste Antwort, die du kriegst, ist ,Aber‘. Sag ich: ,Was Aber‘. Genau dasselbe eben beim Lammfleisch: Du, ich brauch das Lamm mit genau so und so viel Kilo. Ja, aber das kostet. Sag ich, ich hab ja keinen Preis gesagt, du musst den Preis sagen. Ich muss ja nur schauen, dass ich das Ganze dann aufbrauche.“

Einer der Produzenten, mit denen gemeinsam Norbert Niederkofler und andere Südtiroler Spitzenköche und -köchinnen wie Alois Haller oder Anna Matscher das Regionalthema bearbeiten, ist Harald Gasser, der alte Gemüsesorten nach alten Bauernregeln anbaut. „Es gibt ja Gemüse, die zusammenpassen, und Gemüse, die nicht zusammenpassen. Es gibt Blumen, die Insekten anziehen, es gibt Blumen, die Insekten weghalten. Eine ganz natürliche Geschichte.“

Es liegt im Interesse jedes Kochs, der einen regionalen Schwerpunkt setzt, eine langfristige Beziehung zu den heimischen Produzenten aufzubauen. Die Erzeugnisse wie alte Karottensorten sind mittlerweile sehr gefragt, die Konkurrenz schläft nicht. Jüngster Minihype war in Südtirols Gourmetszene etwa die Bergartischocke, eine peruanische Sorte, die auch in höheren Lagen gedeiht. Um die erste Ernte im Sommer herrschte naturgemäß ein G’riss – Artischocken aus Südtirol, das liest sich eben auf jeder Speisekarte gut. „Wenn du deine Lieferanten das ganze Jahr über einigermaßen vernünftig behandelst, sind sie dir auch treu. Und ich sag’ den Leuten zum Beispiel, ich garantier’ euch, dass ich jede Woche sechs bis acht Lämmer abnehme. Das ist natürlich Sicherheit für die Bauern.“

Was es für die Arbeitsweisen, die Handgriffe in der Küche bedeutet, rein mit regionalen Produkten zu arbeiten, werden Niederkofler und sein junges Team vermutlich erst in einiger Zeit berichten können. Als Beispiel der Süßwasserfisch: Ein Hecht ist aufgrund seiner sperrigen Grätenanordnung deutlich aufwendiger zu bearbeiten als der Anfängerfisch Seezunge. „Klar, dass sich da was ändert. Wenn du einen Karpfen nimmst – da drehst ja einen Film, bis du die ganzen Gräten hast!“

Eines der Wörter, die Niederkofler im Rahmen seiner Küchenumstellung am häufigsten in den Mund nimmt, ist „überzeugen“. „Du musst selber überzeugt sein, dann musst du bei deinen Leuten in der Küche Überzeugungsarbeit leisten, dann bei den Leuten im Service und dann bei den Produzenten.“ Und bei den Gästen vermutlich. „Bei den Gästen ist es noch relativ einfach. Wenn du denen erklärst, warum du was wie tust, verstehen sie’s auch.“ Erklären muss man dann etwa aufmerksamen Stammgästen, warum das Rind seit Neuestem anders schmeckt als gewohnt. „Früher haben wir Nebraska-Rind verkocht, das ist halt ganz anders gefüttert, ist ganz weich. Da musst du jetzt den Leuten erklären, warum das hiesige anders schmeckt. Es ist vielleicht etwas härter, etwas bissiger als das andere, dafür ist der Geschmack interessanter. Wir arbeiten jetzt an neuen Rezepten, Rind im Heu zum Beispiel.“

Wie plant der Südtiroler eigentlich, über den Winter zu kommen? „Ooo­hoooo. Das Fleisch ist natürlich nicht das Problem, das Problem sind Obst und Gemüse. Wir legen sehr viel ein, Marillen, Pilze, Zwetschken. Ich hab’ bei Harald Gasser jetzt schon eine sehr große Bestellung aufgegeben, da kriegen wir Kartoffeln. Die ganzen Rübensorten lagert er in Sand, so wie man es früher gemacht hat, manche Rüben lässt er sogar in der Erde und gräbt sie im Winter aus. Mit Kraut kann man auch verschiedene Sachen machen. Schauen wir einmal, reden wir im Frühjahr wieder darüber!“ Niederkofler lacht. Es wird schon irgendwie gehen.

Flexibilität wird wichtig sein. Konnte sich der Spitzenkoch früher auf die Lieferungen der großen Gastronomieversorger verlassen, die sowohl pünktlich waren als auch beständig in der Qualität, muss er sich heute darauf einstellen, improvisieren zu müssen. Zumindest so lange, bis seine Lieferanten ebenso verlässlich arbeiten. „Man muss halt vielleicht die Abendkarte spontan umschreiben. Ich muss ehrlich sagen, ich hab’ da null Problem damit, du musst dir halt einfach neue Sachen einfallen lassen. Ich kann sowieso eigentlich das, was ich die letzten fünfzehn Jahre gemacht hab’, über den Jordan schmeißen. Ich hab’ um vorige Weihnachten herum ein Kochbuch herausgebracht, das ist im Prinzip wieder alt. Das Buch ist eben jetzt ein Rückblick auf die letzten Jahre.“

Leicht scheint so eine Umstellung trotz aller Motivation und Überzeugung (da ist es, wieder, das „Ü“-Wort) nicht zu sein. Wie oft hat sich Norbert Niederkofler schon gedacht, ach, hätte ich das doch nur gelassen? „Nein, nein, das nicht. Wenn ich mich für etwas entscheide, dann mach’ ich’s. Nur manchmal, wenn ich ein Menü, eine Speisekarte entwickle, schreib’ ich noch etwas rein, wo ich mir dann denk’, ach Scheiße, das darfst ja gar nicht nehmen!“