Der Stör-Faktor

Im norditalienischen Dörfchen Calvisano befindet sich eine der größten europäischen Zuchtanlagen für Störe. Mit den Fischen wird in jedem Detail aufwendig und nachhaltig umgegangen.

Text von Christian Grünwald Foto Agroittica/Calvisius

Die zwölf Jahre alten Störe im 70 Meter langen Becken sind ein kleines Vermögen wert. Goldfische im angewandten Wortsinn, jedoch um einiges größer als jene possierlichen Tierchen, die man im Wohnzimmer im Glas hält. Um einen der fast 25 Kilo wiegenden Fische aus dem Becken zu bekommen, braucht man keine Angel, sondern eine ziemlich raffinierte Konstruktion aus Holzgestellen und Netzen. Die Arbeiter in der Agroittica-Fischzucht in Calvisano, einem kleinen norditalienischen Ort nahe Brescia und dem Gardasee, haben damit reichlich Erfahrung. Schon am Vorabend haben sie Netze am Beckengrund ausgelegt und darauf gehofft, dass sich darauf auch tatsächlich der gewünschte Stör zur Nachtruhe niederlässt. Am nächsten Tag, zeitig am Morgen, wenn auch die Fische noch schlafen, wird dann mit einer Art Kran das Netz samt Fisch aus dem Becken gehievt. Diese Aktion erfordert rasches, beherztes Handeln, nur so kann Stress im Becken vermieden werden. „Stress“, weiß Roman Schätti, Verkaufsleiter bei Calvisius Caviar, „bewirkt die Bildung von Hormonen, die wir nicht wollen. Das macht die Fische schlecht, das schmeckt man sowohl im Fleisch als auch im Kaviar.“

Der Schweizer Kaviarexperte arbeitet seit etwa drei Jahrzehnten im Luxusgeschäft mit den kleinen schwarzen Fischeiern. Er war schon zur Jahrtausendwende bei einem der maßgeblichsten Kaviarhändler für den Verkauf von 30 Tonnen Kaviar jährlich verantwortlich. 40 Prozent davon wurden damals in die Schweiz geliefert, womit die Eidgenossen weltweit den größten Kaviarkonsum pro Kopf aufwiesen. Damals wurde noch mit Kaviar von wild gefangenen Stören, vorzugsweise aus dem Iran, gehandelt. Die Bestände im Kaspischen Meer waren schon damals wegen Überfischung stark bedroht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die beabsichtigten Abkommen zum Erhalt und zur Wiederaufzucht des Störs zwischen den Sowjetstaaten und dem Iran nur noch Makulatur. Dazu florierte in den Neunzigerjahren der Schmuggel aus den Sowjet-Nachfolgestaaten nach Europa und schädigte dazu durch teils zweifelhafte Qualitäten das Kaviar-Image. Wildfang-Kaviar ist längst Geschichte, am Weltmarkt wird nur noch Zuchtware gehandelt.

In Calvisano beschäftigt man sich mit der Störzucht schon seit Ende der Siebzigerjahre. Damals überlegte Giovanni Tolettini, Teilhaber des hier ansässigen Stahlwerks, wie er das erwärmte Kühlwasser, das bei der Stahlproduktion anfällt, nutzen könnte. Eine Fischfarm entstand. Einige Jahre später startete man mit der Zucht Weißer Störe. Der Fokus lag damals eigentlich auf dem in Italien immer schon sehr begehrten Störfleisch. Eher nebenbei kam auch der Calvisius Caviar auf den Markt. Als der „wilde“ Markt aufhörte zu existieren, boomte das globale Zuchtkaviarbusiness, und in Calvisano hatte man dafür das Allerwichtigste: in bester Aqua­kultur aufgezogene Störe mit einem Alter von zehn bis zwölf, zum Teil sogar zwanzig und mehr Jahren.

Gesamt schwimmen in der italienischen Tiefebene in unzähligen künstlich angelegten Teichen etwa 250.000 Störe. Aktuell erwirtschaftet man stolze 25 Mio. Euro pro Jahr, liefert in 43 Länder, vor allem aber an namhafte Airlines, die Kaviar in der First Class standardmäßig servieren. Und nicht wenig von der 30-Tonnen-Jahresproduktion geht auch nach Russland. Wobei dafür auf den schwarzen Etiketten der sonst übliche Vermerk „Calvisius Caviar Tradition Made in Italy“ nur sehr klein aufgedruckt ist. Auch am russischen Markt setzt man eben auf eine gewisse Regionale-Produkte-Illusion.

Die Zucht erfolgt hier mit allen erdenklichen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten. Und vor allem braucht man viel Zeit. Für guten Kaviar braucht man den Rogen von zwölf bis 15 Jahre alten Störweibchen. Für den begehrten Beluga sind die Eier von zwanzig Jahre alten Tieren gerade recht. Jeder Fisch ist gechipt. „So haben wir auf Anhieb alle Daten wie Alter, Zuchtlinie, Wassertemperatur und Besatzdichte im Becken und noch vieles mehr.“ Das Wasser kommt aus eigenen Quellen in den Bergen. Paddels in den Teichen sorgen für ein dem Stör angenehm bewegtes Wasser, heftige Jacuzzi-Düsen würden Unbehagen verursachen.

Mit Ausnahme des Beluga sind Störe Vegetarier, Plankton ist das maximal fleischliche in ihrer natürlichen Nahrung. Das Futter wird in Form von Eiweiß-Pellets verabreicht. In einem Muster-Fischteich mit großer Seitenscheibe kann man beobachten, wie sich die mächtigen Störe ihr Futter holen. Zur Essenszeit kreuzen sie gelassen und aufgeregt zugleich, ähnlich wie Haie, durchs Wasser. Sobald die Futter­körner auf den mit Steinen, Moos und Wasserpflanzen ausgelegten Grund sinken, pflügen die Störe durch den Boden, drehen auf der Futtersuche jeden Stein einzeln mit dem Maul um. Das Knirschen der Steine macht selbst durch die dicke Glasscheibe ordentlich Krach.

Weil der Stör ein „Grundler“ ist, wird er vor der Schlachtung nicht nur auf Diät gesetzt, sondern auch in Becken mit besonders sauberem Wasser übersiedelt. „Das ist einer der ganz großen Unterschiede zur Wildware von früher“, erinnert sich Schätti, „da hatte man manchmal diese modrigen Töne, die nicht nur aus dem Fleisch, sondern auch aus dem Kaviar nicht mehr rauszubekommen waren.“

Sechs verschiedene Störarten wurden in Calvisano im Laufe der letzten Jahrzehnte gezüchtet: Weißer Stör (Acipenser transmontanus), Oscietra-Stör (Acipenser gueldenstaedtii), Sevruga-Stör (Acipenser stellatus), Beluga-Stör (Huso huso), Sibirischer Stör (Acipenser baerii) und Adriatischer Stör (Acipenser naccarii). Die lateinischen Namen sind für die exakte Unterscheidung wichtig, denn neben Alter und Aufzuchtbedingungen ist vor allem die Störart das entscheidende Kriterium für die Kaviarqualität. Wer beispielsweise einmal mit den kleinen Eiern vom recht schnell wachsenden und laichenden Sterlet-Stör nicht ganz so glücklich war, sollte also nicht gleich alle Zucht­kaviarsorten als enttäuschend ansehen.
Die Zucht erfolgt in Becken und Teichen unter freiem Himmel. ­Intensive Aquakultur in geschlossenen Bassins mit Licht- und Temperatursteuerung ist bei Calvisius verpönt. Man ist stolz auf diese Naturnähe, die sogar das Friends of Sea-Siegel einbrachte. Mit dieser Methode braucht es noch mehr Zeit, bis die weiblichen Störe laichreif sind. Sechs bis neun Jahre kann es dauern, bis es das erste Mal so weit ist. Und selbst dann ist nicht gewiss, dass man sofort den Rogen entnehmen kann. Mitunter ergibt erst die zwei Jahre später fol­gende Laichperiode den idealen Kaviar.

So wie auch im Kaspischen Meer sind die Fische in den kühleren Monaten, also in Italien etwa von Novem­ber bis März, bereit zum Ablaichen. Die erfahrenen Fischfarmer erkennen den Zustand der Störe an ihren veränderten Bewegungen, zudem lassen die Einzeldaten der gechipten Tiere Rückschlüsse zu. Genau weiß man es dann, wenn man eine Biopsie vornimmt, bei der mit einer Nadel der exakte Zustand des Rogens gecheckt wird. Reif, aber nicht zu reif, weil sonst eventuell matschig, sollen die Fischeier sein. Der Vorteil der akribischen Buchführung über jeden einzelnen Fisch: Gleichaltrige Störe, die sich genetisch gleichen, muss man nicht zwingend untersuchen, da kann man von einem ähnlichen Zustand ausgehen.

„Was die Zucht angeht“, sagt Schätti, „müssen wir stets rund zehn Jahre im Voraus denken.“ Zwölf bis 15 Jahre alte Fische, beim Beluga-Stör sind es sogar bis zu 20 Jahre, braucht es für wirklich gute Kaviarqualität mit einer anständigen Korngröße von circa drei Millimetern und mehr.

10 bis 12 % des Störgewichts macht der Kaviar aus. Um an die begehrten Fischeier zu gelangen, muss man den Fisch schlachten. Alle Versuche, die Fische mit einer Art Kaiserschnitt zu öffnen und danach wieder zu vernähen, scheiterten an einhergehenden Infektionen. Auch das sogenannte Melken der Fische funktioniert bei Stören aus vielerlei Gründen nicht.

In Calvisano hat man über die Jahre eine Art Nose-to-tail-Konzept zur Störzucht entwickelt. Das Fleisch der geschlachteten Tiere wird roh, geräuchert und als Konserve vermarktet. Sogar die Haut wird einer Verwertung, etwa als Material für Taschen und Gürtel, zugeführt.

Das Schlachten des Fisches erfolgt möglichst rasch und unaufgeregt. Betäuben, Halsschlagader aufschneiden und ausbluten lassen. Das ist wichtig, weil Blut im Rogen optisch wie geschmacklich einflussreich und unerwünscht ist. Das dauert etwa zwanzig Minuten, da ist der Fischkörper noch warm. In dem Moment, in dem der Fisch geöffnet wird, wird sofort der Rogen entnommen; also zuerst einmal herausgelöst und durch ein relativ engmaschiges Sieb gestrichen, um die Rogenhaut vom ­Kaviar zu trennen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kaviar so fest, dass ihm dieser mechanische Druck nichts ausmacht. Dann werden die Fischeier mit Salz vermischt. 3 bis 4 % Salz verwendet man in Calvisano. Abgepackt wird vorzugsweise in die klassische 1,8-kg-Dose. Je nach Fisch und der entstandenen Kaviarmenge entstehen so mehrere Dosen dieser Größe. Mitunter werden auch Dosen mit 500 g oder 1 kg frischem Kaviar gepackt. Grundsätzlich wird niemals der Kaviar von zwei verschiedenen Fischen in einer Dose gemischt. Das Salz konserviert, gibt Geschmack, entzieht Feuchtigkeit und sorgt auch für eine gewisse Festigkeit des Korns.

Abgefüllt in der beschichteten Weißblechdose und mit Stülpdeckel und dickem Gummiband verschlossen, entsteht ein Teilvakuum, in dem der eingesalzene ­Kaviar in der 1,8-kg-Packung zehn bis zwölf ­Monate haltbar bleibt. „Guter Osietra und Beluga sollten in der großen Dose fünf bis sechs Monate im Kühlhaus reifen“, sagt Schätti. „In dieser Zeit vermählt sich das Protein optimal mit dem Salz. Wenn dabei ein wenig Öl aus der Dose austritt, ist das durchaus ein gutes Zeichen. Zudem dichtet dieser Ölfilm die Dose zusätzlich ab.“

Im Idealfall ist dann in der Dose ein buttrig-nussiger Kaviar entstanden, der als Reinsalz-Kaviar die allerhöchste Freude bereitet. Nochmals ist der Datenchip in jedem Zuchttier von unschätzbarem Vorteil. „Wenn uns etwas am Kaviar oder am Fleisch besonders positiv oder negativ auffällt, entscheiden wir, welche Linie wir in der Zucht künftig weiterverfolgen“, skizziert Schätti eine Besonderheit des ausgeklügelten Zuchtkonzepts. „Und wenn wir wissen, dass ein Kunde eine spezielle Charge ganz besonders gemocht hat, dann können wir ihm Kaviar von Fischen mit der gleichen oder nur sehr geringfügig veränderten Genetik anbieten.“

Nach dem Öffnen der großen Dose muss die Ware entweder recht rasch konsumiert oder in kleinere ­Packungseinheiten umgefüllt werden. Um die ab nun unweigerlich ablaufende Oxidation zumindest einzubremsen, wird dem Kaviar eine verschwindend kleine Menge Borsäure beigemischt. Maximal vier Promille davon und eine abermals sorgfältige hygienische ­Verpackungsweise sorgen dann für eine längere Haltbarkeit, gute Kühlung natürlich vorausgesetzt.

Ein großer Teil des ge­handelten Kaviars wird laut Schätti rund um Weihnachten und Neujahr konsumiert. Dies, obwohl der beste Kaviar, bedingt durch die Ablaich­termine der Störe, eigentlich im Frühsommer erhältlich wäre. „Mit unseren Hauptkunden arbeiten wir mittlerweile ,on demand‘ und öffnen die großen Lagerungsdosen erst punktgenau für den ­gewünschten Weitergabetermin. So ist der Kaviar dann wirklich optimal auf den Punkt gereift.“

Altonaer Kaviar Importhaus (AKI)
Einer der ältesten europäischen Kaviarhändler mit komplettem Sortiment von Keta bis Beluga.
Schmarjestraße 44, 22767 Hamburg
Tel.: +49/40/38 17 80
www.aki-caviar.de

Schenkel Delikatessen
Der Traditionshändler für Delikatessen aus aller Welt ist fixer ­Österreich-Partner des Altonaer Kaviar Importhauses (AKI).
Siberian, Mandarin Imperial und Oscietra sind fix im Sortiment, andere AKI-Spezialitäten auf
Anfrage.
Inkustraße 1–7, Objekt 4, Top 5, 3400 Klosterneuburg
Tel.: 01/367 11 11
www.schenkel.at

Calvisius Caviar
bei Eishken Estate
Einer der größten europäischen Kaviarzüchter mit jahrzehntelanger Erfahrung und gigantischen Fischbeständen. Interessant auch Nebenbei-Spezialitäten wie der geräucherte Weiße Stör. In Österreich exklusiv bei Eishken Estate erhältlich.
calvisius.com
Eishken Estate
Großgrünmarkt Inzersdorf Laxenburger Straße 365 Halle A2, Stand 1–3, 1230 Wien
Tel.: 01/889 37 33
www.eishken.at