Die Ästhetik der Verschwendung

Der Luxus der ständigen Verfügbarkeit einer unendlichen Vielfalt an Lebensmitteln führt dazu, dass ein Drittel mehr produziert wird, als wir benötigen und – im Müll landet. Ein Appell für einen bewussteren Umgang mit wertvollen Ressourcen.

Text von Nina Kaltenbrunner Fotos von Klaus Pichler

Very artificial: eine Ananashälfte, Erdbeeren, Brokkoli, Kuchen, Fleisch … alles verdorben, von Schimmel befallen, verwest. – Der Moment des Verfalls zum elaborierten Stillleben erhoben, jedes Stück für sich luxuriös vor schwarzem Hintergrund mit edlen Dekorteilen gehobener Tischkultur inszeniert und fotografisch festgehalten. Präsentiert im Kunstkontext einer Galerie. Wirft man einen Blick auf die Labels, findet man aber nicht, wie üblich, Auskünfte über Technik, Auflage und Preis, sondern Angaben über die Herkunft des Produkts, Anbaumethode, den Wasserverbrauch, Transportweg, den CO2-Fußabdruck sowie den Endverbraucherpreis in Wien.

Im Fall der Ananas sind das konkret 10.666 km Transportweg mittels Flugzeug und Truck von Equador nach Wien, 11,94 kg CO2- Ausstoß und 360 Liter Wasserverbrauch für 2,10,– pro Kilo.

Die Fotografien sind Arbeiten aus der Serie „One Third – A project on food waste“ von Klaus Pichler, die nach der Veröffentlichung des FAO (Food and Agriculture Organization of the UN)-Berichts über die globale Nahrungsmittelverschwendung* entstanden ist. Aus dem Bericht geht hervor, dass ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel weggeworfen wird, während zeitgleich 870 Millionen Menschen an Hunger leiden. Die persönliche Betroffenheit über das gigantische Ausmaß der Verschwendung hat den davor bereits konsumkritischen österreichischen Fotografen veranlasst, sich intensiver mit der Thematik zu befassen und zu recherchieren, bis, nach seinen eigenen Angaben, „das Grausen so groß war“, dass er schließlich nicht mehr umhin konnte, etwas darüber zu machen.

Am Beginn des Projekts stand der Einkauf einwandfreier Ware mit dem bewussten Vorsatz, sie kaputt werden zu lassen. Das Spektrum umfasst die gesamte, uns zur Verfügung stehende Palette, etwa 50 Produkte. Von Grundnahrungsmitteln über Fertigprodukte bis hin zu exotischen Früchten wollte Pichler den Speiseplan der westlichen Welt abbilden sowie die lückenlose Nachverfolgbarkeit der einzelnen Produkte eruieren – was sich oftmals als gar nicht so einfach erwies.

In selbstgebauten „Schimmelstationen“ ließ Klaus Pichler die Lebensmittel danach über mehrere Wochen und Monate in der eigenen Wohnung zum Fotomotiv „reifen“. Er wollte den Verlauf des Verfalls unmittelbar miterleben, Teil des Prozesses sein. Um sie schließlich am Höhepunkt ihrer Verwesung, Luxusgegenständen gleich, fotografisch festzuhalten. „Es war fürchterlich“, beschreibt er die Erfahrung, „nicht nur der Geruch.“

„Lebensmittel sind kostbar. Wir haben die Achtung davor verloren, den Bezug zu den Produkten. Wir realisieren nicht mehr, dass es ein Luxus ist, aussuchen zu können, was wir essen“, erläutert Pichler seine Art der Darstellung. Die Gradwanderung zwischen schön und ekelig war ihm sehr wichtig, um den für ihn „unfassbaren Wahnsinn der Verschwendung“ abzubilden, ein Oszillieren zwischen „wow“ und „wäh“.

Im Rahmen der Ausstellung „One Third – a project on food waste“ findet an diesem Abend auch ein Dinner in der Galerie statt. Eine überschaubare Menge geladener Gäste aus Medien, Kunst und Kulinarik sitzt gemeinsam an einer stilvoll gedeckten langen Tafel, unterhält sich über die Arbeiten und genießt ein mehrgängiges Menü. Zubereitet aus „Müll“. Aus Lebensmitteln, die, obzwar völlig in Ordnung, ansonsten weggeworfen worden wären. Der Kontrast zu Pichlers Fotografien könnte krasser nicht sein und macht das gesamte Ausmaß der Absurdität noch deutlicher bewusst: „Der Abfall zur Kunst stilisiert an den Wänden, der Müll des Systems auf den Tellern.“ Es schmeckt hervorragend.

Die Ursachen für die Verschwendung von Lebensmitteln sind mannigfaltig und beginnen bereits am Feld. Hier findet die erste Auswahl statt: Rein ästhetische Kriterien wie Größe und Form entscheiden über die weitere Bestimmung – Handel oder Abfall. Die nächste Auswahl wird bei der sogenannten „Hygienisierung“, beim Reinigen der Ware getroffen, wo weitere kleine Schönheitsfehler sichtbar und die Lebensmittel aussortiert werden. Weit über die Hälfte der gesamten weltweiten Ernten wandert auf diese Weise direkt vom Feld in den Müll. Das liegt nicht zuletzt an den gesetzlichen Richtlinien und Normen, darüber was „handelstauglich“ sein darf und was nicht.

Auf Transporten werden häufig Verpackungen beschädigt – Grund genug, ganze Paletten einwandfreier Lebensmittel zu entsorgen. Denn: Wer greift im Supermarktregal schon nach eingedrückten oder zerkratzten Packungen? Eine faulige Orange führt dazu, die ganze Steige zu entsorgen, ebenso wie ein angeschlagenes Ei dazu führt, zumindestens die ganze Packung wegzuwerfen. Überhaupt wird aufgrund des Anspruchs, bis Ladenschluss alle Waren verfügbar zu haben – nach dem Motto: Ausgehen darf nichts – ständig ein riesiger Überschuss produziert, der täglich kurz nach 19 Uhr wieder entsorgt wird. Häufigster Grund dafür ist, dass bereits neue Lieferungen den Platz in den Regalen für sich beanspruchen. Lagerung mit entsprechender Kühlung kostet, daher ist es bequemer, die „alten“ Waren wegzuwerfen. So wird beispielsweise in Wien täglich so viel Brot weggeworfen, wie pro Tag in Graz verzehrt wird.

Ein weiteres Problem in der Verschwendungsspirale stellt das sogenannte „Ablaufdatum“ dar, eine empfohlene Aufbrauchfrist, die nichts weiter besagt, als dass die Produkte zu diesem Zeitpunkt ohne jegliche Bedenken zu konsumieren sind. Sprich: völlig in Ordnung sind. Bei uns wird es leider zumeist mit „abgelaufen“ gleichgesetzt und die Lebensmittel entsprechend sofort entsorgt. In Supermärkten häufig bereits schon vor dem angesetzten Datum. Obwohl gerade bei vermeintlich heiklen Milchprodukten wie Joghurt noch Wochen nach der angegebenen Verbrauchsempfehlung keinerlei Qualitäts- und Geschmackeinbußen festzustellen sind. „Wir haben uns derart von unserer Nahrung entfremdet, dass wir lieber Verpackungsangaben glauben, anstatt auf unsere Nase oder den Geschmack zu vertrauen“, definiert Pichler ein weiteres Phänomen der Verschwendung.

Der Salzburger Filmemacher David Gross beschäftigt sich ebenfalls seit geraumer Zeit intensiv mit der Wegwerfmentalität unserer Gesellschaft. Allerdings etwas aktionistischer beziehungsweise „angewandter“. Gemeinsam mit Koch Tobias Judmaier und Fotograf Daniel Samer hat er das Performance-Kollektiv „wastecooking“ gegründet, das wieder aus den Tonnen holt, was andere weggeworfen haben, schmackhaft und gut ist. – Nahrung für Leib und Seele. Kochen als demokratischer Akt, Essen als politische Handlung und jede Menge Nervenkitzel packen die drei in ihre konsumkritischen Kochshows und Performances. Die Zutaten dafür liefern unter anderem die Mülltonnen von Supermärkten. „Als Mülltaucher findet man so ziemlich alles, was man braucht“, erzählt David Gross. Und zwar in 1A-Qualität. Aus reiner Neugierde ist Gross vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal nachts in eine Mülltonne gestiegen, mit Stirnlampe und Gummihandschuhen ausgerüstet. Über die unglaublichen Mengen einwandfreier Lebensmittel, die er dort vorfand, war er schockiert. „Ich war sprachlos“, erzählt er, „frische Ware, die es eine Stunde zuvor noch im Laden zu kaufen gab, die aus Platzgründen nach Ladenschluss im Müll landet.“ „Wir wollen aufzeigen, was es für Folgen hat, dass ein Drittel der Lebensmittel weggeschmissen wird!“, beschreibt er den Aufklärungsauftrag. Seither lädt das Trio zu geführten Tauchgängen in Mülltonnen mit anschließendem Verkochen der „Fundstücke“ zu einem großen gemeinsamen Galadinner. Dokumentiert wird alles filmisch, der Tauchgang während der Gala großflächig abgespielt. „Das ist ein unglaublich sinnliches Erlebnis, besonders der Kontrast“, schildert David Gross den Event. „Es ist ganz etwas anderes, einen Bericht darüber zu sehen oder zu lesen, als selbst im Dunkeln auf einem Parkplatz, halblegal, im Müll nach Lebensmitteln zu tauchen“, wissen die drei. Wobei sie als größte Überraschung den Moment schildern, wenn das, was noch am Vorabend Abfall war, zu einem herrlichen Gericht wird. In einem hellen, sauberen Umfeld zubereitet. „Diese Erfahrung wollen wir den Menschen mitgeben.“ Das Motto von Wastecooking: „Food is culture … don’t waste it – cook it“ sollte sich im Bewusstsein verankern und gelebter Alltag sein.

Ein bewusster Umgang mit Essen ist also von jedem Einzelnen gefordert. Denn laut einer weiteren EU-weiten Studie gehen in unseren Breiten über 40 % aller weggeworfenen Lebensmittel auf das Konto privater Haushalte. Zum einen geht es also darum, so zu kochen, zu planen und einzukaufen, dass nichts übrig bleibt. Auch die oft propagierten Begriffe wie „Regionalität“ und „Saisonalität“ erhalten unter diesem Aspekt eine weitere Bedeutung. Regionale Wirtschaftskreisläufe vermeiden Verschwendung, da die Lebensmittel durch kurze Transportwege und kürzere Lagerzeiten schneller und frischer zum Endverbraucher kommen. Direktvermarktung, wie sie von vielen Produzenten auf den Wochenmärkten betrieben wird, fördert zudem das vehement von Slow Food geforderte stärkere Miteinander von Produzenten und Verbrauchern, stärkt die sozialen Netzwerke und das Bewusstsein um die Herkunft und den wahren Wert der Lebensmittel.

Ein weiteres Stichwort in diesem Zusammenhang ist „Ernährungssouveränität“, die unter anderem in bei uns relativ jungen, aber durchaus erfolgreichen Projekten wie Urban Gardening, Gemeinschaftsgärten oder CSA (Community Supported Agriculture)-Beteiligungen Ausdruck findet und wohl die unmittelbarsten Formen der Lebensmittelbeschaffung darstellen. Man baut selbst an, was man braucht, erntet, was reif ist und teilt, was zu viel ist – beziehungsweise bezieht man seine Ernteanteile regelmäßig direkt vom Produzenten. Verschwendet wird hier kaum etwas, ganz im Gegenteil, der Ertrag ist exakt auf die Anzahl der Mitglieder abgestimmt.

Auch in der verantwortungsvollen Gastronomie heißt es, genau zu kalkulieren. Für Paul Ivic, Küchenchef des vegetarischen Sterne-Restaurants Tian, eine Selbstverständlichkeit. „Ein guter Koch wird niemals verschwenderisch sein“, weiß er aus seiner eigenen täglichen Praxis sowie der Lehrzeit bei zahlreichen namhaften Spitzenköchen. Mit Rohstoffen sensibel umzugehen, ist für ihn oberste Prämisse, gezielter Einkauf und langfristige Planung mit der hauseigenen Bio-Gärtnerei stehen daher auf der Tagesordnung. Alles, was genießbar ist, wird im Tian auch verwendet – vom Blatt bis zur Wurzel, sozusagen –, das sind mindestens 90 %, alles, was beim Schneiden abfällt, wird zu Suppen oder Pürees verarbeitet, „Verschwendung von Lebensmitteln ist mir ein Gräuel“, betont Ivic. Lieber ist dem Tüftler, dass etwas ausgeht, als dass etwas übrig bleibt – die Frische seiner empfindlichen Produkte ist ihm wichtiger als deren ständige Verfügbarkeit. Wenn etwas aus ist, setzt er einfach etwas Neues auf die Karte.

Es reicht! Für alle! Aber auch wenn tatsächlich etwas überbleiben sollte, man verreist und der Kühlschrank voll ist – es gibt Alternativen zum Mistkübel: Umverteilung. Was Organisationen wie die „Wiener Tafel“ im großen Stil betreiben – Lebensmittelspenden von Handel und Gastronomie an soziale Einrichtungen zu verteilen – funktioniert auch im Kleinen. Die Autoren von „Die Essensvernichter“, der deutsche Filmemacher Valentin Thurn und Journalist Stefan Kreuzberger, haben, ausgehend von Thurns Film „Taste the Waste“, die Internetplattform foodsharing.de gegründet, die es seit kurzem auch in Österreich gibt – für Essensretter. Die Idee: Privatpersonen, Händlern und Produzenten die Möglichkeit zu geben, überschüssige Lebensmittel kostenlos anzubieten oder abzuholen.
Ein Eintrag etwa lautet gerade eben: „Wien, 5., eine Ananas, essreif“ (…)

Die Fakten

• Das weltweite Gesamtvolumen an verschwendeten Lebensmitteln wird auf 1,6 Milliarden Tonnen an „Primärprodukt­äquivalenten“ geschätzt. Das Volumen an verschwendeten essbaren Teilen entspricht hierbei 1,3 Milliarden Tonnen.
• Die geschätzte Klimabilanz der Lebensmittelverschwendung zeigt einen jährlichen Ausstoß an Treibhausgasen in die Atmosphäre entsprechend 3,3 Milliarden Tonnen CO2.
• Die jährliche zur Herstellung der verschwendeten Lebensmittel genutzte Wassermenge (250 km3) entspricht dem dreifachen Volumen des Genfer Sees.
• Ebenso werden 1,4 Milliarden Hektar Land – 28 % der weltweiten Agrarflächen – jährlich für die Erzeugung von Lebensmitteln genutzt, die dann verschwendet werden.
• Die landwirtschaftliche Produktion trägt den Großteil der Verantwortung für die Gefährdung bedrohter Pflanzensorten
und Tierarten auf der Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN).
• Nur ein kleiner Prozentsatz aller verschwendeter Lebensmittel wird kompostiert: Das meiste endet auf Mülldeponien. Methanemissionen von Deponien sind eine der größten Quellen von Treibhausgasen im Abfallsektor.
• Heimkompostierung könnte die kommunale Abfallentsorgung mit bis zu 150 kg an Lebensmittelabfällen pro Haushalt pro Jahr entlasten.
• Lebensmittelverluste fallen im globalen Süden zu einem größeren Teil in der landwirtschaftlichen Produktion an, während in Ländern mit hohem oder mittlerem Einkommensniveau ein Großteil des Verlustes in Handel und Haushalten zustande kommt. Die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen von Lebensmittelverschwendung (mit der Ausnahme von Fisch und Meeresfrüchten) werden auf 750 Milliarden Dollar im Jahr geschätzt.

Adressen

Waste Cooking
www.wastecooking.com

Foodsharing
http://at.myfoodsharing.org

Die Wiener Tafel
www.wienertafel.at