Die Diätküche des Michel Guérard

Oder: Wie ein Patissier das Gemüsepüree erfand.

Die Diätküche des Michel Guérard

Text: Alexander Rabl

In Frankreich gilt Michel Guérard als der eigentliche Erfinder der Nouvelle Cuisine. Ein Besuch in seinem Restaurant in Eugénie-les-Bains ist eine Reise in eine Vergangenheit mit Zukunft.

„Natürlich schäle ich keine Karotten mehr.“ Der blütenweiße Kochanzug des kleinen Herren mit den gütigen blauen Augen sitzt perfekt. Michel Guérard ist immer noch im Hauptberuf Cuisinier. Ein anstrengender Beruf, von dem die meisten behaupten, dass man ihn nur eine bestimmte Zeit ausüben kann. „Wenn ich im Haus bin, stehe ich abends für ein paar Stunden in der Küche. Aber ich tue mir keine anstrengenden Arbeiten an. Ich gebe meinen Köchen Tipps und denke mir mit ihnen gemeinsam neue Dinge aus.“ Guérards Küchenchefs kommen aus den besten Küchen Frankreichs, sie bringen neue Verfahrensweisen und Ideen ins Haus. Dass sie es mit dem Erfinden nicht übertreiben, dafür sorgt der Mann mit dem gütigen Blick. „Jeder soll nach Lust kreieren. Gefährlich wird es nur, wenn man um der Kreation willen kreiert.“ Und oft lächerlich.

In den Kinos liefen Filme mit Louis de Funès, Jean-Paul Belmondo oder Emmanuelle. Es waren leichte Jahre nach den Studentenrevolutionen in Paris. Nur die Saucen der französischen Küche waren so schwer wie die letzten Jahre unter de Gaulle. Michel Guérard lernte in den 60er Jahren erst Konditor, dann den Rest, schließlich wurde er Küchenchef. Erfreuliche Bestätigung seines Talents: zwei Michelin-Sterne im ersten Restaurant. Von der neuen, leichten Küche war einstweilen noch keine Rede. Gemüse ohne Mehl? Undenkbar! Olivenöl? Wir haben Butter! Als Guérard ins Kurhotel nach Eugénie-les-Bains, das seiner Frau gehörte, zog, muss er mit den Tränen gekämpft haben.

Eine Stunde Fahrt durch Felder und öde, nie enden wollende Alleen. Ein Nest im Niemandsland. Nach Eugénie-les-Bains kam man niemals zufällig, die wenigsten auch freiwillig. Es war eines der ersten so genannten Kurzentren Europas – mit Krankenkassenanteil. Dem jungen Michel Guérard taten die Kurgäste leid, sobald er auf ihre Teller blickte. Gemüsepüree. Das musste man doch besser machen können. „Es war augenscheinlich. Diese Küche konnte man niemandem zumuten. Die Dinge, die die Kurgäste zu essen bekamen, waren einfach nicht sehr appetitanregend.“ So dachte Michel Guérard nach und erfand die Cuisine Minceur – kalorienreduzierte Speisen nach den Vorstellungen eines Spitzenkochs: Streichen der Kohlenhydrate, Gewürze statt Kalorien und schonende Garung. Es waren die Siebziger in Frankreich und Michel Guérards Cuisine Minceur war die Küche, die vorwegnahm, wovon jetzt alle Welt redet: wenig vom Fett, vom Brot, vom Erdäpfel und der Nudel, dafür mehr vom Fisch und vom Meer, vom Gemüse, von messerspitzenpräzise eingesetzten Gewürzen, vom Fond aus gartenfrisch zubereitetem Naturzeugs. Weitgehender Verzicht aufs Dessert. Jeder, der schon einmal eine Pfanne in der Hand gehalten hat, weiß: Mit Butter und Speck zu kochen ist leicht, wenn man beides weglässt, damit den Gästen leichter wird, wird es gleichzeitig schwieriger.

Wir sind nicht zum Kuren hier. Nach dem Gespräch mit dem Erfinder der modernen Schlankheitsküche gibt es zum Champagner erst einmal getoastetes Landbrot mit einer Terrine von der Entenleber und etwas grobes Meersalz. Den Gästen des Restaurants soll es an nichts fehlen, also feiert die Speisekarte die Region mit ihrem berühmten Geflügel, listet Kaviareier „wie am russischen Hof“ auf oder, man möchte fast sagen natürlich, Hummer und eben Tauben und Enten. Beim Studium der Karte wird mir noch nicht ganz klar, warum dieses Restaurant seit über dreißig Jahren drei Sterne hat und weshalb ihn der Gault Millau in seiner neuesten Ausgabe mit fünf Hauben adelt, dem Ritterschlag in der französischen Gastronomie, der sonst nur Pierre Gagnaire, Alain Passard oder Alain Ducasse zuteil wurde. Wir werden später noch essen und dabei ein wenig staunen.

Über Alain Ducasse gibt es eine nette Geschichte. Er war blutjung und wollte bei Guérard, der als wichtigste Adresse Frankreichs galt, kochen. Der Koch mit den gütigen Augen sah sich Ducassens Lebenslauf an und zweifelte an der Eignung des jungen Kochs. Der blieb stur und blieb – ohne Sold zu verlangen. Der Rest der Erfolgsgeschichte ist bekannt. Was Guérard von den Köchen halte, die von Event zu Event reisen und ob das gut fürs Metier sei? „Jeder sucht sich seine Art zu leben aus.“ Guérard hat sich dafür entschieden, dass die Leute zu ihm reisen müssen und nicht er zu ihnen. Eines ließe sich ohnehin nicht verpflanzen, das Haus, in dem das alles stattfindet und ohne dessen Rahmen die Guérardsche Kochkunst vielleicht eine andere wäre – weniger von der Saison und vom Land geprägt und vielleicht nicht ganz so bunt.

Das Kurhaus teilt sich in mehrere Gebäude, die fest miteinander verbunden sind. Der vorherrschende Farbton: Weiß wie Selleriepüree. Vollkommene Verweigerung kontemporärer Architektur oder Spuren von Design, das alle Hotelbesitzer im Frühjahr aus den einschlägigen Messen in Paris in ihre Häuser zwischen Sylt und St. Moritz schleppen und das ebendiesen Häusern die erschreckende Konformität der modernen Relais & Châteaux-Hotellerie verleiht. Nichts gegen diese ehrenwerte Verbindung von selbstbewussten und individuell arbeitenden Hoteliers und Gastronomen. Doch das Interieur von Les Prés d’Eugénie – wie wohltuend und erfrischend unterscheidet sich das traditionelle Haus von der Kollegenschaft in Frankreich und Europa. Das Sellerieweiß findet man in den Gästezimmern und auf deren Balkonen mit Blick in den schier unglaublich herrschaftlichen Park mit seinen gefühlten tausend Jahre alten Bäumen. Nur die Bar mit ihrem reichlich exzentrisch wirkenden Interieur zwischen afrikanischer Großwildjagd und Polo-Club in Hongkong fällt ein wenig aus dem Rahmen. Das 3-Sterne-Restaurant selbst, in dem Kurgäste neben Hausgästen speisen, ist der Familie Guérard so klassisch geraten wie ein Hochrestaurant eben sein kann am Land. Steinfußböden, großzügig dimensionierte Tische, viel Silber auf den Tischen und in Glasvitrinen, dazu geflochtene Holzstühle.

Was macht den Witz eines 3-Sterne-Restaurants aus, darf man Michel Guérard fragen. „Es ist das Abenteuer.“ Und er fügt hinzu: „Die Küche muss mindestens 51% ausmachen. Ambiente oder Service dürfen nicht wichtiger sein als die Küche.“ Manche Guides, zum Beispiel der von San Pellegrino, sehen es so, dass in der französischen Sterne-Küche das Abenteuer längst Pause hat. Das einzige relevant gereihte Restaurant in der Top-25-Liste ist das Chateaubriand in Paris. Den kulinarischen Stolz der Franzosen sucht man vergebens. In den Augen des Küchenchefs zuckt es nicht einmal. „Ich kenne den Bewertungscode dieses Führers nicht.“ Aber ganz egal kann ihm das nicht sein. „Es kommt einem so vor, als würde jemand den Ruf der französischen Küche zerstören wollen.“ Aber wozu? Den Erfolg der Skandinavier über die Jahre erklärt sich Michel Guérard so: „Sie arbeiten zusammen. Sie experimentieren gemeinsam.“

Über die nicht nur daraus entstehende Ähnlichkeit vieler Speisekarten der modernen Köche sagt er: „Wenn ich heute esse, was ich gestern oder vorgestern woanders gegessen habe, war es die Mühe ja nicht wert.“ So viel dazu.

Es wird serviert und es schmeckt wunderbar. Wie das Kaviarei, das in einem Eierbecher auf einem Hühnerbein steht. Eine Unglaublichkeit aus Ravioli mit Mousserons gefüllt, die in einer legeren Creme aus Morcheln anreisen, die man nur noch verbessern konnte durch die Zugabe von knackig gekochtem Spargel, was auch genau passiert ist. Unser Tisch legt erstmals eine Gedenkminute ein, und man schmeckt, dass sich Guérard mit diesem Essen in der „Liste der besten zehn Mahlzeiten der Welt“ einquartieren wird, eine ganz persönliche Liste, ohne Relevanz für die Menschheit oder die Kunst des Kochens. Herr Guérard meinte gerade noch, dass ihm die leicht panierten Froschschenkel unter den neueren Gerichten so gut gefielen. Froschschenkel paniert als neue Kreation? Genau das.

Hat dann die französische Küche noch eine Zukunft, ist eine Frage, die sich viele Chefs zwischen Paris und Menton in letzter Zeit stellen lassen müssen. Guérard weiß, warum sie eine hat: „Die französische Küche hat es über die Jahrhunderte immer vermocht, viele Einflüsse zu integrieren und sich daraus zu erneuern.“ Darüber hinaus: „Es gibt nur zwei Küchen, die sozusagen ein kulinarischer Ausdruck eines Landes sind – die chinesische und die französische Küche. Unsere Küche ist eine Küche, die aus dem höfischen Ritual kommt wie auch aus dem Bauch, gleichzeitig ist sie eine sehr intellektuelle Küche.“ So überzeugt wie Michel Guérard redet, so kocht er auch.

Denn auf keinem Teller gibt es Unsicherheiten oder gar Fehler zu bemerken. Vielmehr bewundert man die Details. Ein gedämpfter Endiviensalat als Sidedish zum Hummer, der in der Schale serviert wird. Die unpackbar gute Entenleber zur rosa gebratenen Ente, die von drei perfekt zubereiteten Gemüsepürees begleitet wird. Oder dieses Püree aus Zwiebeln und Birnen, das zur Taube gereicht wird. Die wurde vorher gemeinsam mit Zwiebeln gegart, die Haxen nachher noch einmal am Holzkohlegrill zubereitet, und all das schmeckt einfach traumhaft gut. Ein Essen wie auf einer Zeitreise, bei der der Zug irgendwo stehen geblieben ist, in der Zukunft oder im Gestern, nur ist alles so, dass man hofft, er würde niemals weiterfahren.

Als Dessert Pfirsich Melba, und was für ein Pfirsich. Er ist so zart, frisch und pfirsichsüß, dass er von einem anderen Planeten kommen muss. Tut er bloß nicht, sie haben in Frankreich wirklich Obst wie dieses. Eine Himbeersauce von vollendeter Güte. Ein Vanilleeis, wie wir es schon lange nicht mehr hatten, doch ja: vor vier Jahren auf der Terrasse von Ducasse in Monaco. Muss man, um solche Klassiker in ihrer endgültigen Präsentation zu speisen, in den höchsten Häusern essen? Die Empirie bestätigt, dass es in vielen Fällen so ist. Ein altes Rezept wird durch ein paar neue Kunstgriffe und durch die Qualitätsbesessenheit von Köchen wie Guérard wieder auf den Thron gesetzt. Königin Melba in ihrem himbeerroten Cape mit ihrer Vanilleeiskrone.

Natürlich gebe es einen Unterschied zwischen der französichen Küche der Städte und des Landes. Einer davon sei auch der Gast selbst. „Die Köche am Land haben es besser“, so Guerard, „denn die Gäste kommen oft von weither, haben Hunger und sind entspannt, wenn sie abends zum Tisch gehen. Es gibt keine Geschäftsessen, man isst zum Vergnügen. Außerdem erwartet man, die Region am Teller zu haben, was die Sache für die Küche ebenfalls berechenbarer und leichter macht.“ Entspannte Gesichter unter den Gästen des Restaurants, als die letzten Teller abserviert werden. Mitleid mit denen, die auf Diät gesetzt sind, ist nicht mehr angebracht. Wenn das Gemüse so gut ist wie bei Guérard, kann man für ein paar Wochen auf die fette Ente dazu auch verzichten. Mit dem Wein fällt das schon viel schwerer, auch angesichts einer Karte, deren Preise ebenfalls aus den Siebzigern stammen.