Die Distel des Dogen

Die Artischocke gilt als das spektakulärste Gemüse von allen. Auf einer verschlafenen Insel in der Lagune von Venedig gedeiht eine ganz besondere Sorte der essbaren Distel, um die sich in der Saison alles reißt.

Text von Georges Desrues/Fotos von Georges Desrues

Sehenswürdigkeiten gibt es auf Sant’Erasmo so gut wie keine. Was insofern beachtenswert ist, als es anderswo in der Lagune von Venedig davon nur so wimmelt. Hier dagegen finden sich lediglich eine recht unspektakuläre Kirche, ein Wehrturm aus der Zeit der Habsburger sowie, verstreut über die Insel, ein paar eher unattraktive Häuser. Das war’s. Und dennoch ist Sant’Erasmo ein einzig­artiger Ort mit außergewöhnlicher Geschichte, der wie stehengeblieben in der Zeit wirkt.

Nur etwa ein halbe Vaporetto-Stunde entfernt von Venedigs Hauptinsel, zwischen Murano und der Landzunge von Jesolo, liegt die Insel, die über Jahrhunderte die Serenissima mit Obst und Gemüse versorgte. Und es bis heute tut, wenngleich in viel geringerem Ausmaß, wie Carlo Finotello betont. „Fast alle 700 Einwohner bauen Gemüse an, doch ist das heute kaum noch rentabel“, erzählt der Landwirt. „Viele produzieren in erster Linie für den Eigenverbrauch oder um sich in der Pension die Zeit zu verkürzen und ein wenig dazuzuverdienen. Die anderen leben so wie wir fast ausschließlich von einigen wenigen Restaurants in Venedig, die Wert legen auf wirklich frisches und lokal erzeugtes Gemüse.“

Und das wächst in der fruchtbaren Erde der Insel und der feuchten Luft der Lagune zuhauf, in hervorragender Qualität und in beachtlicher Vielfalt. Dabei sticht eine Sorte ganz besonders hervor und gilt als der absolute Star der Insel, nämlich die endemische violette ­Artischocke von Sant’Erasmo. „Die Saison ist kurz und dauert in der Regel gerade einmal von Mitte April bis Ende Juni“, sagt Finotello und steuert seinen Fiat ­Panda über die schmalen Straßen und Feldwege der flachen Insel. Auf dem drei Quadratkilometer großen Sant’ ­Erasmo ist Finotellos Panda eines der wenigen Autos. Neben dem Fahrrad beliebtestes Verkehrsmittel ist hier viel mehr die Piaggio Ape, also jener zu einem win­zigen, dreirädrigen Lieferwagen umgebaute Vespa-Roller, mit dem die Bauern ihr Gemüse hochtourig zu den Anlegestellen der Schiffe bringen.

Es ist Frühling. Und das Setting geradezu betörend. Ein Gemüsefeld reiht sich ans nächste, ein Obstgarten an den anderen. Die ganze Insel wirkt wie ein einziger üppiger Garten. Überall blüht und wuchert es, die ­Lagune und die Kanäle glitzern in der Aprilsonne, Schnepfen stelzen durchs Brackwasser, darüber kreisen kreischend Mauersegler; und in der Ferne zeigen sich zur einen Seite die Kirchtürme von Venedig und zur anderen die schneebedeckten Alpen.

„Bisher war es ein außergewöhnlich kalter und regnerischer Frühling. Und noch immer haben wir immer wieder Morgenfrost“, sagt Finotello und stoppt den Wagen vor einem Feld direkt am Wasser und mit Blick auf die nahe Klosterinsel San Francesco del Deserto, wo noch eine Handvoll Mönche lebt und ebenfalls Gemüse anbaut. Der leichte Frost mache den Artischocken wenig aus, fährt der Bauer fort. Erst bei Temperaturen unter Minus sechs Grad könne er für die Pflanzen bedrohlich werden.

Drei Bodentypen gebe es auf Sant’Erasmo, nämlich schlammige, sandige und lehmige. Nur in den letztgenannten, hier zudem besonders salzhaltigen, gedeihe die Artischocke, erklärt Finotello. „In früheren Zeiten diente Sant’Erasmo auch als Müllhalde. Aus Venedig brachte man die Abfälle und kompostierte sie, so entstand dieser fruchtbare Boden. Heute, im Plastikzeitalter, ist das freilich kaum mehr vorstellbar.“

Seit wann die Artischocke hier heimisch ist, kann mit Genauigkeit niemand sagen. Doch heißt es, dass in früheren Zeiten die Erstgeernteten stets dem gerade amtierenden Dogen von Venedig serviert wurden. Der scheint überhaupt ein ziemlicher Gemüse-Feinspitz gewesen zu sein. So heißt es weiter, dass ihm auch das allererste Risipisi des Jahres aus den ersten Erbsen der ­Saison vorbehalten war.

„Genau diese Artischocken bekam der Doge“, sagt Finotello und bückt sich hinunter zu einer imposanten Distel, aus deren Mitte auf einem ­kerzengeraden Stil ein einziger zwei Daumen großer Spross ragt, „es ist die erste Blüte, die die Pflanze trägt. Wenn man sie an der richtigen Stelle ­abschneidet, wachsen an den Trieben bis zu zwanzig weitere Blüten nach.“ Dieser erste, zentrale Spross, von dem es pro Pflanze naturgemäß nur einen einzigen gibt, ist der zarteste und teuerste von allen – und gerade einmal zwei Wochen lang erhältlich. Im lokalen Dialekt wird er „Castraura“ ­genannt, was von „Kastrat“ abgeleitet ist und wohl mit dem chirurgisch exakt gesetzten Schnitt am Stil zu tun hat.

Einige der äußeren, violetten Blätter schneidet der Landwirt weg. In ihrem Inneren zeigt sich die Blüte in knalligem Gelb. „Deswegen nennt man sie auch ,Canarino‘, Kanarienvogel“, sagt Finotello und reicht sie dem Besucher. Eine frisch von der Pflanze geschnittene Distelblüte direkt am Feld und wie einen Apfel zu essen, ist freilich ein gleichermaßen einzigartiges wie umwerfendes Erlebnis. Knackig, saftig und zartbitter schmeckt die kleine Artischocke. Auch sei es ein Verbrechen, betont der Bauer, die „Castraura“ irgendwie ­anders als roh zuzubereiten. Zum Kochen, Frittieren und Braten eigneten sich die „Botoi“, die nachfolgenden acht Sprossen pro Pflanze, viel besser.

Restaurant gibt’s auf Sant’Erasmo keines. Lediglich einen Agriturismo mit allerdings nur schwer durchschaubaren Öffnungszeiten. Also geht’s mit dem Panda und einer Kiste Artischocken zur Bootsanlegestelle; und mit dem Vaporetto zurück in eine völlig andere Welt, zu den Palästen und Touristen nach Venedig.

Während der Fahrt spricht Finotello von der Zukunft. Er sieht sie bedroht. In Venedig gebe es immer weniger Restaurants, die auf Zu­taten aus der Lagune setzten. Der Massentourismus verlange eben Massenware zu Billigpreisen, da könnten die kleinen Betriebe auf der Insel nicht mithalten. Rentabel sei heutzutage fast ausschließlich noch die Artischocke. Und das auch nur dann, wenn man sie direkt vertreibe.

Das Hotelrestaurant Pensione Wildner liegt mitten auf der Riva degli Schiavoni mit unvergleich­li­chem Blick auf die Inseln San Giorgio und Giu­decca. Seit Jahren schon zählt der Betrieb zu den treuesten Kunden Finotellos. Das hat sich auch seit seiner Übernahme durch die Tochter des Hauses, Bene­detta Fullin, nicht geändert. Ganz im Gegenteil. Vor einigen Jahren eröffnete die 35-jährige Wirtin in dritter Generation sogar ein zweites, moderner gestyltes Restaurant namens Local, in dem, wie der Name verspricht, sowieso nur Zutaten aus der ­Lagune und ihrem Umfeld verarbeitet werden. Und darunter freilich auch die violette Artischocke.

„Wir haben Gäste, die in der Saison alleine deswegen herkommen“, erzählt Fullin, „und manche bestellen gleich drei Artischocken-Gänge.“ Was ­insofern nicht überrascht, als das Gemüse hier auf mehrere Arten zubereitet wird. Nämlich roh und dünn geschnitten, mit etwas Olivenöl und Zitrone sowie gut gereiftem Parmesan zum Antipasto. Oder aber frittiert beziehungsweise gedünstet als Beilage, Zwischengericht oder Snack zum Aperitivo. Aber auch kombiniert mit frischen Scampi als Sauce für die Spaghetti.

„In jedem Fall ist wichtig, die Artischocke so ­behutsam wie möglich zu behandeln“, erklärt ­Küchenchef Luigi Hernandez, der seit bald zwanzig Jahren in der Pensione Wildner pro Saison kistenweise Artischocken verarbeitet, „nur so bleibt ihr delikater Geschmack, aber vor allem die zarte und knackige Konsistenz erhalten.“ Wie lange die Garzeiten seien, hänge jedoch naturgemäß vom Erntezeitpunkt der Distelblüte ab. Denn auf die „Castraure“ und „Botoi“ folgten noch die „Sotobotoi“ und die „Massete“. Wobei man von Letztgenannter, der größten unter ihnen, häufig nur mehr den Boden verarbeite, wie der Koch betont.

Beim Essen erzählt Finotello, dass am Markt an der Rialtobrücke etliche Händler Sant’Erasmo-­Artischocken anböten, die in Wahrheit aus viel ­ärmeren Böden am Festland stammten. Was freilich illegal ist, aber kaum überrascht, wenn man bedenkt, dass die doch recht winzige „Castraura“ Preise von bis zu 2,50 Euro erreichen kann, pro Stück, versteht sich – und damit circa so viel kostet wie eine Auster.

Mit der Weinbegleitung zu Artischocken ist es so eine Sache. Das Distelgemüse hat bekanntlich die Eigenschaft, den Geschmack anderer Dinge radikal zu beeinflussen und kurzzeitig für ein sehr spezielles Mundgefühl zu sorgen. Wirtin Fullin empfiehlt dennoch einen Weißwein namens Orto, was so viel bedeutet wie Gemüsegarten. Auch er kommt aus Sant’Erasmo, wo ein engagierter Franzose seit einigen Jahren ein kleines Weingut betreibt. Das ist zwar eine andere Geschichte, doch vielleicht ist ja der Wein die Lösung, damit auf der Insel auch in Zukunft etwas angepflanzt wird. Einstweilen ist das Weingut, das auch Verkostungen anbietet, ­jedenfalls ein weiterer guter Grund dafür, beim nächsten Venedig-Aufenthalt auch die verschlafene Gemüseinsel in der Lagune zu besuchen.

Von der Fondamenta Nove in Venedig oder von Treporti am Festland erreicht man Sant’Erasmo mit dem Vaporetto der Linie 13 in etwa 30 Minuten.

I Sapori di Sant’Erasmo
Artischocken und sonstiges Gemüse direkt vom Erzeuger gibt’s am Bauernhof der Brüder Carlo und Claudio Finotello aus Sant’Erasmo.
www.isaporidisanterasmo.com

Orto di Venezia
Weingut auf Sant’Erasmo, Verkostungen und ­Besichtigungen nach Voranmeldung.
www.ortodivenezia.com