Die große Fette

Mortadella in Bologna. Groß ist sie, mal mehr, mal weniger fett. Und zumindest am Ort ihrer Erfindung kommt die Lieblingswurst aller Aperitivo-Jünger ohne Pistazien aus.

Foto von Stockfood
Text von Georges Desrues

Zu den erstaunlichsten Besonderheiten der an sich schon erstaunlichen Stadt Bologna zählt, dass der Lebensmittelmarkt hier direkt an der zentralen Piazza Maggiore und neben der Basilika liegt. Was zur Folge hat, dass, wer rechtzeitig aufsteht, beobachten kann, wie dort, wo sich später die Touristen stauen, Männer in weißen, blutverschmierten Kitteln frühmorgens ganze Schweine und ­halbe Rinder anliefern. Das zentrale Markt- viertel mit seinen engen Straßen, auch Qua- drilatero genannt, zählt naturgemäß zu den Hauptattraktionen einer Stadt, die mit Stolz den Beinamen „die Fette“ trägt. Ihn hat sie zum einen der innigen Liebe der Bologneser zum Essen ganz allgemein zu verdanken. Und zum anderen der im Olivenöl-Land Italien ­geradezu ungewöhnlich hohen Präsenz von Schweinernem, vor allem aber von Schweineschmalz in der lokalen Küche.

Vom Mythos Mittelmeerküche ist hier also wenig zu spüren, dafür regiert auch im Qua- drilatero das Schwein. Und zwar vor allem in Form von Schinken, Salamis und sonstigen Wurstwaren, für die die gesamte Region ­Emilia-Romagna berühmt ist. Bologna selbst ist indessen vor allem für eine Wurst be- rühmt, nämlich für die nicht nur in Italien, sondern in der gesamten christlichen Welt ­beliebte Mortadella.

Dabei handelt es sich bekanntlich um eine Brühwurst mit sichtbaren Speckstücken, die nicht selten in spektakulärer Übergröße daherkommt und in Bologna angeblich seit dem 14. Jahrhundert erzeugt wird. Sie eine Riesen-Extrawurst zu nennen, wäre, obwohl der Vergleich nahe läge, wohl etwas respektlos. Denn die Bologneser sind ziemlich stolz auf ihre Mortadella. So sehr, dass sie ihr sogar eine geschützte geografische Angabe bei der EU verschafft haben. Eine Extrawurst indessen erfüllt niemanden mit Stolz. Und einen Schutz in Brüssel würde man dafür wohl auch nicht beantragen.

Naturgemäß zählt die Mortadella, gemeinsam mit anderen Stars der lokalen Charcuterie und Käseerzeugung, zum Standardangebot der Delikates­sengeschäfte im Quadrilatero. Dazu zählen etwa der Schinken aus Parma, Salami aus Felino, Cula­tello aus Zibello sowie Parmesan und Grana Pa- dano. Zur Freude der Touristen haben die allermeisten der Händler in den letzten Jahren Tische und Hochtische in den engen Gassen aufgestellt, an denen die lokalen Spezialitäten gleich vor Ort gegessen werden können. Was dem auf seine Kulinarik so stolzen Bologna den spöttischen Beinamen Città dei taglieri einhandelte. Was frei übersetzt so viel wie Stadt der Brettljausen bedeutet.

Dass angesichts der massiven Abfertigung von Touristen das Gebotene nicht immer die höchsten Ansprüche erfüllt, liegt wohl in der Natur der Sache. Gerade bei der emblematischen Brühwurst greifen etliche Händler gerne auf kostengünstige Industrieware zurück. Zumal die handwerkliche Produktion der Mortadella heute nahezu zum Erliegen gekommen ist – mit einigen wenigen Ausnahmen, darunter der Betrieb von Simona Scapin.

Die 34-Jährige ist die Tochter von Silvio Scapin, dem Besitzer einer stadtbekannten Fleischerei in der zentralen Via Santo Stefano, wo anspruchsvolle Bologneser seit Jahrzehnten ihre Mortadella kaufen. „So etwas wie einen Drang zur Expansion hatte mein Vater nie“, erzählt Scapin, „pro Woche erzeugte er per Hand gerade einmal sechs Stück Mortadella, die er in seinem Backrohr kochte.“ Doch in den letzten Jahren stieg die Nachfrage kontinuierlich, und so beschloss die Tochter, den Betrieb auszuweiten.

Im Jahr 2015 wurde in der Peripherie ein Gebäude erworben und die Produktion hierherverlegt. Inzwischen erzeugt die Manufaktur im Schnitt 2,5 Tonnen Wurst pro Woche. Während die großen der Branche bis zu 200 Tonnen am Tag schaffen. Auch wird hier, im Unterschied zur industriellen Produktion, ausschließlich Frischfleisch mit Salz und Gewürzen gemischt, zusammen mit Goderspeck in Naturdärme gefüllt und auf Chemie sowie sonstige Hilfsmittel wie beispielsweise Emulgatoren, Mehl oder Farbstoffe verzichtet. Mit Spagat umwickelt wird die Mortadella per Hand, wonach sie hängend bis zu 28 Stunden in einem begehbaren Ofen verbringt. Natürlich ginge das auch viel schneller, betont Scapin, aber so gut wie überall in der ­Lebensmittelproduktion profitieren Geschmack und Konsistenz von möglichst langsamen Prozessen.

Und die Pistazien? Die Unternehmerin lächelt milde zu einer Frage, die sie gewohnt zu sein scheint. „In Bologna tun wir keine Pistazien in die Mortadella und haben das auch nie getan“, sagt sie, „die tauchten vermutlich erst sehr viel später und ein Stück weit südlicher in Italien auf. Hier bei uns und unter Puristen gelten sie aber als Frevel.“ In früheren Zeiten galt die Mortadella als Luxusgut und war somit den Reichen und ­Schönen vorbehalten. Und so nimmt man an, dass die teuren Trockenfrüchte einst dazugetan wurden, um sie noch edler zu machen und zusätzlich damit angeben zu können. Rein zum ­Angeben dienen übrigens auch die Riesenformate, in denen sich die Mortadella häufig präsentiert. Auf den Geschmack haben sie nämlich keinerlei Einfluss.

Und wie isst man die Wurst am besten? In hauchdünne Scheiben oder, wie hierzulande gleichfalls üblich, in Würfel geschnitten? Erstaunlicherweise gibt es dafür weder in Bologna noch sonst wo im an Verhaltensregeln so reichen Italien exakte Vorgaben – man tut, wie einem beliebt. „Wenn man sie allerdings gemeinsam mit Parmesan zum Aperitivo isst, dann sollte man sie wohl genauso würfeln wie den Käse“, fügt Scapin an.

Neben der Mortadella Classica erzeugt die Firma auch noch einige andere Varianten, wie etwa eine aus dem Fleisch der alten lokalen Schweinerasse Mora Romagnola; eine Version mit Trüffel und auch eine mit den edlen Pistazien aus dem sizilianischen Bronte – Letzt­genannte aber ausschließlich für den Markt jenseits der Stadtgrenzen, wie Scapin betont haben will.

Für Bologna-Besucher empfiehlt sich das Take-away-Lokal Mò Mortadella Lab, das einige junge Leute aus Apulien, also aus dem doch recht weit entfernten Süditalien, vor wenigen Jahren hier ­eröffneten. Zu den Stoßzeiten ist der ­Andrang groß und es bilden sich bisweilen lange Schlangen. Geboten wird hier auch Ausgefallenes wie etwa Mortadella von Wildschwein, Esel oder Büffel. Das alles wird auf Bestellung aufgeschnitten, nach Wunsch mit diversen Gemüsen, Käsen und Saucen in runde Panini gepackt und über die Straße verkauft.

Auch in der klassischen Bologneser Küche wird die Wurst gerne verarbeitet, wie etwa als Fülle für die hier so beliebten handgemachten Tortellini, die man bevorzugt in der Brühe isst. Oder, wie im klassisch-bürgerlichen und eleganten Ristorante Diana, als Spuma di mortadella, als Mortadella-Schaum. Dabei handelt es sich, anders, als der Name glauben macht, nicht um ein Überbleibsel aus den Zeiten der Molekularküche des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sondern um ein durchaus klassisches Gericht, bestehend aus dem Wurstbrät, das mit Ricotta, Obers und Parmesan aufgequirlt und mit Crackern serviert wird.

Es gibt aber noch eine bessere Art, um in Bologna seine Mortadella zu essen. Und zwar kauft man sie entweder dünn oder würfelig geschnitten im Fleischerladen von Simona Scapins Vater (dabei ist es nicht verboten, das eine oder andere Hektogramm Prosciutto oder Salami mitzunehmen) und dazu ein Stück Brot beziehungsweise Grissini – oder eben als Panino bei den Apuliern von Mò Mortadella Lab –, geht ­damit in den nahe gelegenen Quadrilatero und zwängt sich vorbei an Touristen mit Brettljausen bis zu einem gut versteckten Lokal im Vicolo Ranocchi. Die Osteria del Sole stammt angeblich aus dem Jahr 1465 und gilt als eine der ältesten Wirtschaften Italiens. Dort setzt man sich zwischen Einheimische an einen der langen Holztische, bestellt ein Glas Wein und packt sein Panino oder die Mortadella aus. Denn die Osteria del Sole ist eine Osteria im ursprünglichen Sinn des Wortes, also ein Lokal, das ausschließlich Getränke (in früheren Zeiten war es nur Wein) serviert und wo man sein eigenes Essen mitbringen darf. Besser lassen sich Bologna, „die Fette“, und ihre sinnbildliche Wurst wohl kaum erleben. —

Adressen

Artigian Quality
Via Tranquillo Cremona, 29, 40137 Bologna
T +39/342/944 26 23
artigianquality.com

Macelleria Silvio Scapin
Via Santo Stefano, 88, 40125 Bologna
T +39/051/34 14 94

Mò Mortadella Lab
Via de Monari 1/c, 40121 Bologna
T +39/051/086 39 92
facebook.com/mortadellalab

Osteria del Sole
Vicolo Ranocchi, 1, 40124 Bologna
T +39/347/968 01 71
osteriadelsole.it

In Simona Scapins „Mortadella-Manufaktur“ namens Artigian Quality wird ausschließlich Frischfleisch durch den Wolf gedreht und die Wurst händisch (unten) in den Darm gefüllt und verschnürt.
© Georges Desrues
© Georges Desrues
Handwerklich ­erzeugte Würste werden bei relativ nied­riger Temperatur langsam und schonend gekocht.
© Georges Desrues
Simona Scapins Vater Silvio ist berühmt für die Qualität seiner Wurstwaren, die er in seiner Fleischerei im Zentrum Bolognas verkauft.
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Sieht aus wie Molekularküche, ist aber ein gutbürgerlicher Klassiker: Spuma di Mortadella (mit Pistazien!).
© Georges Desrues
Für ein klassisches Mortadella-Panino befüllt man in der Regel ein Semmerl namens „tartaruga“ – Schildkröte.
© Georges Desrues