Die Hauptstadt der Sardellen

Die Anchovis von der spanischen Atlantikküste gelten als die besten der Welt. Doch wie man Sardellen richtig einlegt, mussten die Nordspanier erst von den Süditalienern lernen.

Text von Georges Desrues/Foto von Georges Desrues

Die Nacht ist um, der Fang gelandet. Früh am Morgen herrscht gute Stimmung im Fischerhafen der Kleinstadt Santoña an der spanischen Nordküste. „So viele Sardellen wie in diesem Jahr haben wir überhaupt noch nie gefischt“, freut sich Skipper Pablo Argos, während seine 14-köpfige Besatzung klar Schiff macht, an Land die gewaltigen Netze trocknet und auf Schäden kontrolliert. Wenn heutzutage wieder so viel gefischt werde im Kantabrischen Meer, zeigt sich der Fischer überzeugt, dann sei das einzig und allein dem Fischereiverbot für Sardellen zu verdanken, das von 2005 bis 2010 von der Europäischen Union über diese Gewässer verhängt wurde. „Für uns waren es fünf sehr schwere Jahre, die wir mit dem Fang von Weißem Thunfisch und Tintenfisch überbrücken mussten“, erzählt Argos, „doch es hat sich ganz zweifelsfrei ausgezahlt, die Bestände haben sich erholt, die Sardellen sind zurück.“

Welche Bedeutung der kleine Fisch für Santoña, seine Bevölkerung und Geschichte hat, wird augenblicklich jedem bewusst, der die Stadt besucht. Nördlich des Fischerhafens erstreckt sich ein geschäftiges Industrieviertel mit zahlreichen Konservenfabriken, Transportunternehmen und Großhandelsbetrieben. Südlich davon liegt eine ganze Reihe verfallener Gebäude, die einst gleichfalls der Konservierung von Sardellen gewidmet waren und bald abgerissen werden sollen. Im Stadtzentrum indessen wimmelt es geradezu von Geschäften, in denen Touristen die begehrten Fischdosen direkt vom Erzeuger beziehen können. Und in den zahlreichen Bars überbietet man sich in der Kreation aufwendiger Tapas, deren zentrales Element ein Sardellenfilet ist.

„Das alles ist in erster Linie den Italienern zu verdanken“, sagt Pedro Benavent, seines Zeichens Vorsitzender der lokalen „Bruderschaft der Sardelle“ und somit oberster Auskenner auf dem Gebiet. „Weil ihnen im Mittelmeer die Sardellen ausgingen, kamen Ende des 19. Jahrhunderts etliche Sizilianer und Neapolitaner auf der Suche nach Nachschub hierher.“ Viele der Italiener ließen sich dauerhaft an der Atlantikküste nieder, gründeten Unternehmen und Familien. Und brachten den Santoñiern die Technik des Fischeinlegens bei. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die Anzahl der Konservenfabriken in Santoña auf über 100 an. 50 davon haben bis heute überlebt. Sodass direkt oder indirekt ein Großteil der 11.000 Einwohner der Stadt von der Sardelle lebt. „Gefangen wurden Sardellen hier freilich schon zuvor“, fährt Benavent fort, „allerdings in erster Linie, um sie zu Kompost für die Weingärten zu verarbeiten. Und bestenfalls, um sie frisch zu essen. Die Italiener hingegen brauchten eingesalzene Ware, die sie bis nach Hause verschiffen und in ihrer Küche so einsetzen konnten, wie sie das gewohnt waren.“

Nach wie vor ist der italienische Markt einer der wichtigsten Abnehmer für die spanischen Sardellen-Erzeuger. Auch wenn, wie Señor Benavent anfügt, die Italiener zu den kleinen Fischen einen anderen Bezug pflegen als die Spanier. „Bei uns gelten sie als Delikatesse, die man am besten pur genießt und direkt aus der Dose. Allenfalls kombinieren wir sie mit etwas Brot und Butter oder mit Hartkäse“, betont der Fachmann. In Italien wiederum verwende man sie in erster Linie als Geschmacksverstärker, verarbeite sie in Saucen und Eintöpfen, belege damit Pizza oder Pasta.

Genau wie in der italienischen finden sich auch in der klassischen Wiener Küche zahlreiche Gerichte, in denen Sardellen als Würzmittel und Umami-Lieferant verkocht werden. Wie zum Beispiel im Kalbsrahmbeuschel, beim Rostbraten, im Liptauer oder in Rindsrouladen. Und sogar auf dem Wiener Schnitzel, das in seiner Originalversion mit einem Filet des intensiv schmeckenden Fisches garniert gehört. Weit weniger häufig finden sich solche Einsätze der Anchovis, wie die eingelegten Sardellen auch genannt werden, in der spanischen Küche.

Stattdessen hat man hier daraus eine Spezialität entwickelt, die unter Gourmets einen beinahe ähnlich guten Ruf genießt wie der mythische Jamón Ibérico, der äußerst aromatische Schinken des schwarzen Iberischen Schweins, der weiter südlich in Spanien erzeugt wird. „Die wichtigsten Voraussetzung für herausragende Anchovis sind zum einen die exzellente Rohware und zum anderen die langsame und möglichst handwerkliche Verarbeitung“, erzählt Benavent. Dabei führt er durch das Hafengelände, vorbei an den zahlreichen Konservenfabriken und ihren Lagerhallen.

In einer von ihnen macht er halt. Dort wartet bereits Adolfo Belaustegui. „Die besten Exemplare werden in den Frühlingsmonaten von März bis Juni gefangen“, erzählt der Besitzer der Conservera Catalina, „dann ist ihr Fleisch weniger Fett und eignet sich besonders für die Verarbeitung zu Dosenware“. Viel fetthaltiger sind jene Sardellen, die erst im Juli und August und bis die Jahresquote erfüllt ist gefangen werden, was es dem Salz schwerer macht, in ihr Fleisch einzudringen. Im Spätsommer legen die Fische ihre Eier. Und im Oktober wird anhand ihres Nachwuchses die Fangquote für das darauffolgende Jahr bestimmt.

„Für die Qualität ist entscheidend, dass die Fische nach dem Fang so schnell wie möglich ausgenommen und ins Salz gelegt werden“, erklärt Belaustegui und öffnet ein großes blaues Plastikfass, das bis oben hin gefüllt ist mit gepressten Sardellen. Nach neun bis 18 Monaten im Fass ist der Geruch erstaunlich angenehm, ja geradezu betörend. Die Fische duften würzig und nussig, bemerkenswert süßlich und ein wenig so wie der bereits erwähnte Jamón Ibérico, nämlich nach trockenen Früchten. „So wurden sie lange Zeit und zum Teil bis heute nach Italien verschifft, wo sie auf den Märkten stückweise und direkt aus dem Salz verkauft werden“, erzählt der Unternehmer.

Dann war es um 1880 abermals ein Italiener, nämlich ein gewisser Giovanni Vella Scagliota, der auf die Idee kam, den Frauen in seiner Heimat die Arbeit des Entsalzens abzunehmen. Er ließ die Fische gleich vor Ort filetieren und in Öl einlegen, um sie auf diese Art zu vermarkten. „So wie er das damals machte, machen wir es bis heute“, beteuert Belaustegui. Dann stößt er eine Tür zu einem Raum auf, in dem einige Frauen die eingesalzenen Sardellen aus dem Fass holen, ihnen mit einem Stück Fischernetz die Haut abreiben und in frischem Wasser waschen, um sie schließlich zum Trocknen in ein Stofftuch zu wickeln.

Nach dem Trocknen kommen sie in einen weiteren Raum, in dem ein Dutzend Frauen damit beschäftigt ist, die Fische per Hand zu filetieren, ihnen mit einer Papierschere Schwanz und Flossen abzuschneiden, die Gräten zu entfernen und die Filets fein säuberlich nach Größe, Farbe und Qualität geordnet in verschiedenste Dosen und Gläser zu schlichten. Jedes Fischchen einzeln und ausnahmslos per Hand. Zwecks Nachverfolgbarkeit kommt noch ein Zettel in die Dose. Mit einer Nummer darauf, die der Dame entspricht, die sie verarbeitet hat. Und sogar das Olivenöl wird händisch aus einem Krug über jede einzelne Dose gegossen.

„Darin reifen sie weiter“, sagt Belaustegui und öffnet eine der Dosen. Ein hochwertiges und handgefertigtes Sardellenfilet erkenne man an einer möglichst gleichmäßigen Farbe, also ohne einen dunklen Streifen in der Mitte. Aber auch daran, dass keine kleinen Gräten mehr dran sind, wie das bei industriell gefertigter Ware häufig der Fall ist. Außerdem sollte das Fleisch schön fest sein und auf der Zunge zergehen. Zudem darf das Filet nicht zu salzig schmecken, sollte komplexe Aromen entwickeln und einen möglichst langen Nachgeschmack erzeugen. Alle diese Voraussetzungen erfüllen die Sardellen von Catalina geradezu bravourös. So sieht das auch der naturgemäß besonders kritische Vorsitzende der Sardellen-Bruderschaft.

„Beste Ware“, sagt Benavent anerkennend, „deswegen haben wir von der Bruderschaft auch dem Betrieb den diesjährigen Preis für die besten Anchovis verliehen.“ Zudem betont er, dass die geeignetste Verpackung für die Filets ganz ohne Zweifel die Dose sei. Darin seien sie vor Lichteinfall geschützt, in Gläser werde nur geringere Qualität gepackt. Außerdem würden die besten Sardellen nicht sterilisiert, sind also nur Halbkonserven, die gekühlt gehören. „Darum ist es auch am besten, wenn man möglichst kleine Dosen kauft, um sie gleich nach dem Öffnen aufzuessen“, rät der Experte. Und schließlich sollte man noch darauf achten, dass sie aus Santoña oder zumindest aus der Region Kantabrien stammen.

Denn hier erzeuge man nun einmal die allerhöchste Qualität, was ganz offensichtlich nicht nur am viel zitierten Planktonreichtum der kühlen kantabrischen Gewässer liege, sondern eben auch am alteingesessenen Know-how und Handwerk. Irgendwann in naher Zukunft, so hofft Señor Benavento, wird es dafür auch eine von der Europäischen Union geschützte Gebiets­bezeichnung geben, wie es seine Bruderschaft schon seit Jahren fordert. Womit neben Spaniern und Italienern die ganze Welt erfahren würde, dass die besten Sardellen aus dem Kantabrischen Meer und aus einem Fischerort namens San­toña stammen.

Conservas Catalina
9, Calle los Calafates, 1 39740 Santoña, Cantabria www.conservascatalina.com