Die Runden und die Eckigen

Wenn der Knödel in der eigenen Küche partout nicht rund werden will, können Versagensängste entstehen, die die genussvolle Auseinandersetzung mit regionaler Kost empfindlich stören. Der vorliegende Text dient der Auflösung eines langjährigen Knödeltraumas.

Text von Thomas Maurer · Fotos von Ingo Pertramer

Aufgewachsen bin ich in dem Bewusstsein, dass Knödel keine Hexerei sind. Meine Mutter kocht so grundsolide österreichisch, dass meine Kinder die lobende Redewendung „wie bei Oma“ am Leben erhalten werden, was ja nach gut fünf Jahrzehnten ubiquitär verfügbarer Gefriernahrung nicht ganz selbstverständlich ist. (Übrigens, falls Sie das Datum verpasst haben: Jedes Jahr am 6. März ist internationaler Tag der Tiefkühlkost.)

Meine Mutter jedenfalls drehte Knödel mit der beiläufigen Achtlosigkeit des eiskalten Profis, und sie gelangen unfehlbar: die Semmelknödel nach Sauce zum Aufsaugen lechzend, die Erdäpfelknödel flaumig und mit genau dem richtigen Anflug Speckigkeit. Und als ich in meinen späten Teenagerjahren begann, einen eigenen Herd zu bewirtschaften, reichte mir die ungefähre Erinnerung daran, was in den Teig kommt und wie der sich anfühlen muss, um durchaus achtbare, wenn auch nicht vollkommen satisfaktionsfähige Eigenknödel zu produzieren.

Irgendwann scheine ich dann aber ohne Absicht ein längeres Knödelpraxis-Sabbatical konsumiert zu haben, und vor einigen Jahren begab es sich dann, dass ich für eine Familienfeier mit großer Selbstverständlichkeit Erdäpfelknödel zu fabrizieren begann und dann, als die ersten Verwandten an der Tür läuteten, lediglich eine Art schleimig-trübe Erdäpfelsuppe vorzuweisen hatte, in der noch einzelne fahle Klumpen von unerfreulicher Konsistenz dümpelten.

Ich setzte schnell Nudeln auf und bemühte mich, den freundlichen Lügen meiner Mutter („Ist mir auch schon passiert …“, „Manchmal sind halt die Erdäpfel nix …“, „Vielleicht liegt’s dran, dass es so schwül ist …“) zu glauben.

Im Weiteren verdrängte ich das Erlebnis nach besten Kräften und machte mich ein paar Wochen später, als ich dem Bauern meines Vertrauens einen Freiland-Schweinsschopf abgehandelt hatte, der ebenso unmissverständlich nach Erdäpfelknödeln schrie wie nach Kümmel und Knofel, ein weiteres Mal ans Werk.

Diesmal schuf ich gallertige Gebilde von unerklärlich hoher Dichte, die wirkten, als wären sie unter extremem Druck am Grunde des Mariannengrabens zubereitet worden.

Vor dem nächsten Versuch konsultierte ich eine Reihe klassischer Köchbücher, machte alles richtig und produzierte fiese kleine Bälle von erstaunlicher Elastizität, die zum Squashspielen zu groß, fürs Volleyball zu klein und für den menschlichen Verzehr ungeeignet waren.

In den Grundfesten meines kulinarischen Selbstbildes erschüttert, beschloss ich, das nächste freie Wochenende dem unbarmherzigen Erdäpfelknödel-Exerzieren zu widmen, so lang, bis ich diese Fertigkeit wieder aus dem Hand­gelenk beherrschen würde.

Allein, dieses Wochenende kam nie, und irgendwann erwischte ich mich dabei, wie ich zu einem weiteren Schweinsschopf einen schnöden Serviettenknödel verfertigte.

Meine Gäste hielten das unhinterfragt für Absicht, schließlich hatte ich ja keinen Kaiserschmarren dazu serviert, sondern eine durchaus orthodoxe Beilage, mir aber war klar: Oida, du hast ein Problem.

Die Region Österreichs, die ich am stärksten mit Knödelkultur verbinde, ist – und ich sage das auf die Gefahr hin, dafür von Innviertlern, Waldviertlern, Tirolern und wahrscheinlich eh auch allen anderen kommentarlos geohrfeigt zu werden – das Mühlviertel.

Und eine glückliche Fügung will es, dass sich an dessen oberem Rand der Mühltalhof befindet, eine kulinarische Institution, die über Jahrzehnte von Helmut Rachinger mit sturer Bescheidenheit an die Spitze der heimischen Gastronomie gekocht wurde und deren Küche inzwischen von seinem Sohn Philip auf Höhenflughöhe gehalten wird.

Sich von zwei dermaßen ausgewiesenen Kochgiganten in einer bescheidenen Kunst wie dem Knödelmachen unterweisen zu lassen, mag leicht frivol wirken, ein bisschen so, als nutze man ein Treffen mit der Fields-Medaillen-Trägerin Maryam Mirzakhani dazu, sich den pythagoräischen Lehrsatz nochmal erläutern zu lassen. Aber weil im Mühltalhof immer kreative Hochküche und gediegene Traditionskost friedlich koexistiert haben, löst unser Ansinnen bei den Rachingers keine Irritation aus. Wer hier nicht nur mit leichtem Gepäck, sondern auch mit kleinstmöglichem CO2-Rucksack erscheinen möchte, hat übrigens die Möglichkeit, in Linz die idyllische, wenn auch ein bisschen sehr beschauliche Mühltalbahn zu besteigen und praktisch vor der Lokaltür wieder zu verlassen.

Und zwar nicht nur vor jener des Mühltalhofs selbst, sondern auch vor jener eines zusätzlichen Lokals, das Rachinger senior, nachdem der Junior übernommen hat, eröffnet hat: Das Fernruf 7 befindet sich in den ehemaligen Stallungen des ehrwürdigen Gasthofs und hat seinen Namen von dessen erster amtlicher Telefonnummer. Hier, in einem bestechend schönen, japanisch angehauchten und doch regional verwurzelten Ambiente, wird ein paar Tage die Woche gekocht, täglich Brot gebacken und auch ein „Kochkurs, der keiner ist“ angeboten.

Dass unser Knödel-Bootcamp am Vormittag angesetzt wurde, ließ es uns geraten erscheinen, bereits am Vorabend anzureisen, und so kommen der staatlich geprüfte Meisterfotograf Ingo Pertramer und ich nicht nur in den Genuss einer Übernachtung in den schönen Zimmern, sondern auch in den des von Philip Rachinger verantworteten Menüs.

Dieses erweist sich erwartungs­gemäß als hoch befriedigend, praktisch jeder Gang wartet mit einer saisonalen Überraschungen wie etwa jungen, zarten Farntrieben auf, ausschließlich jeder Gang ist präzise, elegant und originell. Auch jene, die wir außertourlich zum Kosten geschickt bekommen und natürlich aufessen, was dazu führt, dass wir auch der Weinbegleitung leicht überdimensioniert zusprechen, was wiederum dazu führt, dass ich mich am nächsten Morgen sicherheitshalber kurz in die vorm Hotel aufgestaute, um diese Jahreszeit noch wirklich saukalte Große Mühl fallen lasse, unter schockiertem Fiepen ein paar Dutzend Meter schwimme und mich anschließend mit eis­würfelklarem Kopf in der Küche des Mühltalhofs einfinden kann.

Dort treffen wir bereits Helmut und Philip in trauter Eintracht und lässiger Entspanntheit an, man überlegt, was für Knödel man denn so machen ­könnte, generell, und beschließt, für heut auf der deftig-salzigen Seite zu bleiben.

Helmut hat bereits klassische Bröselknödel gemacht (100 g Butter, 1 Ei, 1 Eidotter, 200 g Brösel, ca. 2 EL Mehl, Salz, Petersil, 15 Minuten ziehen lassen), die später in einer wunderbar dichten, mit Weißwein und Safran abgeschmeckten gebundenen Hendlsuppe landen werden.

Zunächst aber beginnen wir einmal – ich höre mein Trauma leise aufquietschen –, Erdäpfelteig zu machen. Und prompt setzt es eine Überraschung: Sowohl meine Erinnerung an meiner Mutter Kochpraxis als auch die Lektüre einer stattlichen Anzahl von Rezepten haben in mir das Generaldogma „­Erdäpfel kochen, heiß schälen, sofort verarbeiten“ verankert.

Als ich mich, mit dem Anblick eines stattlichen Hügels am Vortag gekochter Erdäpfel konfrontiert, dahingehend äußere, erwidert Helmut allerdings lediglich: „Ah so, ja … nein.“ Und Philip ergänzt: „Das geht so a.“ Keine Überraschung hingegen ist, dass der Teig nicht aus peinlich genau mit der Briefwaage abgemessenen Ingredienzien, sondern nach Gefühl komponiert wird. Ich bedaure, Menschen mit einer ähnlichen temporären Kochteilleistungsschwäche an dieser Stelle kein deppensicheres Patentrezept anbieten zu können.

Außer vielleicht dieses: Die durchgepressten Erdäpfel (am besten Agria), die ganzen Eier, das Mehl, den Grieß und das Salz einfach zu einem geschmeidigen Teig kneten. Man merkt irgendwie, wann er sich richtig anfühlt. Ehrenwort, ich hab’s dann daheim nochmals probiert, ohne von zwei Spitzenköchen flankiert zu werden, und es hat geklappt. Gar kein Problem! Alles psychosomatisch!

Die für mehr Geschmeidigkeit sorgende zimmerwarme Butter kann man übrigens, wie ich jetzt weiß, auch durch ein bisschen ausgebratenem Speckfett ersetzen, wenn man zufällig grad Speck ausbrät. Was wir natürlich tun, weil wir schließlich im Mühlviertel sind und daher schlecht keine Speckknödel machen können. Und Grammelknödel, versteht sich.

Nebenher produziert Helmut eine weiteres lokales Standardgericht, das klarmacht, wie sehr die Gegend und ihre Küche vor langer Zeit von Holzarbeitern, Flößern und deren Holzarbeiter- bzw. Flößerhunger geprägt wurden: Mehlknödel, deren Teig puristisch aus Mehl, Wasser, Selchsuppe und entrindeten Schwarzbrotwürfeln zubereitet wird und die dann in mit Pfeffer und Lorbeer gewürzter Selchsuppe gekocht werden.

Diättechnisch nur unwesentlich filigraner kommen die Grammelknödel daher (Grammeln knusprig braten, Zwiebel und Knoblauch im Grammelfett glasig werden lassen, das Ganze mit Petersil zu Knödeln formen und – der Einfachheit halber leicht angefroren – in Erdäpfelteig hüllen), aber auch die werden punkto rustikaler Herzhaftigkeit und köstlicher Schwerverdaulichkeit noch von ihren Kollegen, den Speckknödeln, in den Schatten gestellt.

Die Fülle besteht aus sogenanntem Salatspeck (worunter zu meiner Enttäuschung nicht ein Speck zu verstehen ist, der von echten Männern als Salat zur Hauptspeise gegessen wird, sondern ungeräucherter, normalerweise „Grüner Speck“ genannter), der gemeinsam mit Selchspeck, Zwiebel und Knoblauch in – selbstverständlich – Schmalz gebraten (wer zu raffinierten Verfeinerungen neigt, kann auch gern Grammelschmalz nehmen) und mit scharfem Paprika gewürzt wird.

Wer jetzt aber glaubt, somit einen absoluten Deftigkeitsgipfel erklommen zu haben, hat die Rechnung ohne das Mühlviertel gemacht.

Zum Abschied bereiten wir nämlich noch eine Spezialität zu, deren Entstehung sich vermutlich der Ernährung eines Holzknechtgeschlechts mit Riesenwuchs und Stoffwechselmutationen verdankt: Vorhang auf für die klassischen „Eckerten Knödel“.

Die Knödel selbst sind allerdings ganz normal rund, eckert ist lediglich die Emaille-Rein in der sie zu Tisch kommen. Die aber hat es dann in sich.

Man nehme ungekochte Speckknödel, wälze sie in nicht zu wenig Grammelfett und backe sie bei 180 Grad circa eine Viertelstunde im Ofen. Daraufhin wird die Rein mit einer Mischung aus einem guten halben Liter Sauerrahm, 4 Eiern, etwas Crème fraîche und Salz aufgegossen und fertigegbacken, bis diese goldbraun ist.

Falls Sie bei der Lektüre dieses Rezepts gerade „Uff“ gedacht haben, haben Sie mit mir etwas gemeinsam. Mühlviertler Eisstockschütze werden Sie dann aber wohl eher nicht mehr werden, denn die Eckerten Knödel sind, wie ich erfahren habe, in diesem Sport die traditionelle Belohnung nach hartem Training, und eine Standardportion enthält in der Regel rund drei Knödel samt gebackenem Rundherum.

Nicht zu leugnen ist allerdings, dass das ziemlich geil schmeckt, sowohl in der alten küchendeutschen als auch in der zeitgenössisch saloppen Bedeutung des Wortes.

Hinterfotzigerweise reicht Helmut Rachinger dazu einen mit Leinöl sowie Limettensaft- und Schale angemachten Salat aus Frühkraut, Mönchsbart, grünem Minispargel und Sauerampfer, der so gesund und anregend wirkt, dass man sich der gefährlichen Illusion hingeben kann, er würde die Eckerten Knödel quasi ausbalancieren und unschädlich machen. Spoiler: Irrtum!

Dennoch sollte man, finde ich, Eckerte Knödel einmal gegessen haben. Aber vielleicht sollte man vorher einen Baum gefällt, entastet, zur Großen Mühl geschliffen und zu Wasser gelassen haben. Oder wenigstens Eisstockschießen gewesen sein.

Mühltalhof
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