Ein Hoch auf den Sardinenheber

Die Tafelkultur und Corona: Es riecht nach Auferstehung. Ein Streifzug durch die Epochen bei Tisch mit Annette Ahrens, Expertin für Spargellutschen, versperrbare Zuckerdosen und verbotene Grätenzäune.

Text von Anna Burghardt/Fotos von Michael Reidinger

Offenbar haben die Leute im Lockdown sehr viele Kekse gegessen. Oder sie haben einfach nur mehr herumgebröselt, ich kann es nicht sagen.“ Fest steht jedenfalls: Annette Ahrens hat in den letzten Monaten mehr Tischbesen verkauft als je zuvor. Ob es sich um ein versilbertes Besen-Schaufel-Set aus der Zeit um die Jahrhundertwende handelte, eines aus den 1930ern oder ein magnetisches aus Nirosta und Teak im Design der Sechziger­jahre. Dieses bei Tisch verwendete Utensil ist aber nicht das einzige, das in Corona-Zeiten einen Aufschwung erlebt. Die Tafelkultur generell, das merken sowohl die einschlägige Expertin Annette Ahrens als auch diverse renommierte Porzellanhersteller, hat vom virusbedingten Zurückgeworfensein in die eigenen vier Wände, an den eigenen Tisch gehörig profitiert. Die Krise hat bei jenen, die viel selbst kochen, anrichten und das Ganze dann oft noch auf Plattformen wie Instagram posten, offenbar einen gewissen Optimierungswillen in Sachen Stil getriggert. Kostspieligeres Porzellan, Kristallgläser und Silberbesteck sind wieder spürbar mehr gefragt, berichtet die in ihrer Branche gut vernetzte Tafelkulturistin. Auch gesundheitliche Beweggründe mag es gegeben haben: Überraschend gut verkauften sich nämlich Cloches, diese überdimensioniert wirkenden, silbern glänzenden Hauben für Speisen, die das bloße Servieren eines Tellers in einen theatralischen Auftritt zu verwandeln vermögen. Und die ein Gericht auf dem Weg von der Küche zum Tisch vor bösen Tröpfchen beschützen.

Den Restaurantbesuch während der Lockdowns zu Hause möglichst detailgetreu ersetzen zu wollen, das mag ein Grund für die hohe Nachfrage nach Porzellan und Co sein. Oder dass man sich abends in Ermangelung sonstiger Freizeitfreuden mehr Zeit nimmt, den eigenen Tisch zu decken. „Aber die Leute hatten jedenfalls auch ausreichend Muße, um zu bemerken, wie schlecht sie eigentlich ausgestattet sind“, kommentiert Annette Ahrens den Boom trocken. Sie selbst isst täglich mit Silberbesteck, warum auch nicht, „wofür hat man es denn?“ Silber laufe schließlich nicht an, wenn man es häufig verwende; es ärgere sich nur dann schwarz, wenn man es vernachlässige. „Diese Schonerei geht mir so auf die Nerven!“ Die Bestecklade in ihrer Küche lässt sich vor lauter Varianten von Löffel, Gabel, Messer kaum schließen. Und mit Varianten ist nicht nur groß, mittel und klein ­gemeint. Da liegt etwa eine Melonengabel, die so geformt ist, dass sie auch eine Schneidfläche hat, neben einem versilberten Zitrusmesser mit ­einer Art Widerhaken und einer Mixed-Pickles-Gabel. Letztere hat einen Federmechanismus, der es erlaubt, eine Olive aufzuspießen und am Zielort wieder abzustreifen – so elegant und intuitiv in der Handhabung, dass man sich fragt, ob man selbst wirklich immer so herumpatzen muss und ob nicht doch die Anschaffung einer solchen … In Ahrens’ Schatzlade liegen weiters – Schwenk zur Gattung Löffel – perforierte Zuckerstreulöffel aus der Jugendstilzeit und dem Biedermeier, winzige bunte Mokkalöffel aus Skandinavien, Breitmaul-Reislöffel von Berndorf, englische Marmeladelöffel in Spatenform … und ein Werkzeug, das Christian Domschitz in der Küche des Schwarzen Kameel einst mit den Worten „Jö, ein Basilikum-Ab­hacker!“ kommentierte. Dabei hatte Ahrens – „ich muss Sie enttäuschen, Herr Domschitz“ – dem Kameel-Chef Peter Friese eine Eissichel präsentiert. „Für weiche Eisbomben, man schabt damit Eis ab und serviert es mit dem Eisvorleger.“ Domschitz wollte sofort für das Utensil ein Dessert kreieren, sagt Annette Ahrens. „Peter Friese hat ihm jedenfalls die Eissichel zu Weihnachten geschenkt.“

Dank Jahrgangssardinen- und Nuri-Hype hoch im Kurs: der Sardinenheber. Im Onlineshop der „Tafelkulturistin“ findet man verschiedenste Ausführungen.

Man könnte nun einwenden, dass so manches Versandhaus, so manche Kaffeehandelskette ja ebenfalls wahnsinnig nützliche Dinge im Sortiment hat wie Kiwilöffel, Erdbeer-Entstieldingsbumse oder Mozzarellaschneider, die auch als ­Paradeiserschneider oder Eierschneider verhökert werden, wenn es die Saison nahelegt. Und dass ­solche Objekte mit extrem eng gestecktem Anwendungsgebiet doch immer etwas Lächerliches haben. Das stimmt, wenn es sich um heutige Plastikhässlichkeiten mit dem Zweck „Geschenkidee“ oder dem Bestellgrund „Der Hausfrau ist fad“ handelt. Und stimmt nicht angesichts jener den historischen Objekten innewohnenden Schönheit, die mit echter Zuwendung zum Essen einhergeht, mit Wertschätzung jeder Geste im Gebrauch von Dingen (man muss nicht einmal das Wort Achtsamkeit bemühen). Diese Schönheit der Handhabung findet man etwa in einer versilberten Muschel, die man zum Muschelessen verwendet, analog zur „Erlaubnis“ bei Tisch, dafür eine leere echte Muschel zu verwenden. Mimikry einer Geste. Oder die Spezies Sardinenheber, derzeit eine der meistgefragten ­übrigens – „dem Nuri-Hype sei Dank“ (und wohl auch jenem um Jahrgangssardinen): Um wie viel schöner der Sardinenverzehr doch wird, wenn man die mürben Dosenfischlein mit einem auf ihre Physiognomie abgestimmten breitzinkigen Werkzeug unbeschadet ans Tageslicht holen kann. Wie viele Formen an Sardinenhebern es gibt! Solche von 1900, die Poseidons Dreizack imitieren, andere aus den Dreißigern, die an einen Miniatur-Kuchenheber erinnern, und wieder andere, die man schlicht als breite Gabel bezeichnen würde.

Um die teils kuriosen Objekte aus ihrem überquellenden Fundus fortan kundenfreundlicher verkaufen zu können, hat Annette Ahrens aus dem ersten Lockdown im Frühling 2020 eine Tugend gemacht und einen Onlineshop auf die Beine gestellt. Jammern, wie andere Antiquitätenhändler es angeblich tun, dass das Geschäft in der Krise nicht laufe, liege ihr nicht. „Man muss eben das Zeug putzen, es fotografieren, online stellen, verpacken und auf die Post rennen. Ich renne dauernd auf die Post.“ Wer eine Jugendstil-Parmesandose sucht, ist in ihrem Shop ebenso richtig wie alle, die schon immer einen Jugendstil-Pancake-Warmer brauchten, deutsche Sektquirle, einen Eieröffner aus römischer Produktion oder einen silbernen Maggi-Halter. Manches hat Ahrens erst einmal eher provisorisch fotografiert, „Hauptsache, es ist auffindbar“, manches in Szene gesetzt, jedenfalls alles beschlagwortet, beschrieben und zum Teil mit Anekdoten zu Anwendung oder Herkunft ergänzt. Konvexe silberne Dinge lassen sich ausnehmend schwer fotografieren, musste sie die Erfahrung ­machen, „das geht nicht, ohne dass man sich selbst darin spiegelt. Auf eBay sieht man, wie viele Leute halbnackt sind, wenn sie etwas für den Verkauf fotografieren. Sie übersehen, dass sie sich in einer gerundeten Silberkanne immer spiegeln.“

Ahrens, die Kunsthistorikerin und eben „Tafelkulturistin“, erjagt, hortet und verkauft aber nicht nur. Sie hält außerdem Vorträge über Tafelkultur im Wandel der Zeit, erklärte unter anderem vor ein paar Jahren auf dem Food Camp dem jungen ­Wiener Bloggervolk, dass das Servieren der einzelnen Gänge nacheinander Service à la russe genannt wird und als solches das Service à la française ablöste. Oder seit wann wir runde Esstische kennen: „Erst mit der Gleichberechtigung der Tischpartner im 19. Jahrhundert. Wenn jemand einen runden Esstisch aus dem Barock sucht, wird’s schwer.“ Das war, nebenbei, soeben ein Thema der Tischkultur, im Gegensatz zur Tafelkultur, ein Unterschied, der Ahrens wichtig ist. Als Expertin für Letztere schätzt, bestimmt und datiert sie Objekte – besonders oft kommt die fotobegleitete Frage „Butter- oder Käsemesser?“ Sie kuratiert Sammlungen wie jene des Porzellanmuseums im Wiener Augarten, hat die Österreichische Gesellschaft für Koch- und Tafelkultur ins Leben gerufen, durchforstet im ­Auftrag von Kunden Antiquitätenmärkte in ganz ­Europa nach fehlenden Serviceeinzelteilen und stattet Kochbuch- und Filmproduktionen mit ihren Stücken aus (und hofft, dass nicht wieder Filmfehler passieren wie damals, als man einer Maria Theresia eine englische Tasse in die Hand drückte, die aus einem späteren Jahrhundert stammte).

Tafelkulturistin Annette Ahrens
www.annette-ahrens.at
Mitglied werden bei der Österreichischen Gesellschaft für Koch- und Tafelkultur: www.kochtafelkultur.at

Annette Ahrens, die täglich mit Silberbesteck isst.

sucht, ist in ihrem Shop ebenso richtig wie alle, die schon immer einen Jugendstil-Pancake-Warmer brauchten, deutsche Sektquirle, einen Eieröffner aus römischer Produktion oder einen silbernen Maggi-Halter. Manches hat Ahrens erst einmal eher provisorisch fotografiert, „Hauptsache, es ist auffindbar“, manches in Szene gesetzt, jedenfalls alles beschlagwortet, beschrieben und zum Teil mit Anekdoten zu Anwendung oder Herkunft ergänzt. Konvexe silberne Dinge lassen sich ausnehmend schwer fotografieren, musste sie die Erfahrung ­machen, „das geht nicht, ohne dass man sich selbst darin spiegelt. Auf eBay sieht man, wie viele Leute halbnackt sind, wenn sie etwas für den Verkauf
fotografieren. Sie übersehen, dass sie sich in einer gerundeten Silberkanne immer spiegeln.“

Ahrens, die Kunsthistorikerin und eben „Tafelkulturistin“, erjagt, hortet und verkauft aber nicht nur. Sie hält außerdem Vorträge über Tafelkultur im Wandel der Zeit, erklärte unter anderem vor ein paar Jahren auf dem Food Camp dem jungen ­Wiener Bloggervolk, dass das Servieren der einzelnen Gänge nacheinander Service à la russe genannt wird und als solches das Service à la française ablöste. Oder seit wann wir runde Esstische kennen: „Erst mit der Gleichberechtigung der Tischpartner im 19. Jahrhundert. Wenn jemand einen runden Esstisch aus dem Barock sucht, wird’s schwer.“ Das war, nebenbei, soeben ein Thema der Tischkultur, im Gegensatz zur Tafelkultur, ein Unterschied, der Ahrens wichtig ist. Als Expertin für Letztere schätzt, bestimmt und datiert sie Objekte – besonders oft kommt die fotobegleitete Frage „Butter- oder Käsemesser?“ Sie kuratiert Sammlungen wie jene des Porzellanmuseums im Wiener Augarten, hat die Österreichische Gesellschaft für Koch- und Tafelkultur ins Leben gerufen, durchforstet im ­Auftrag von Kunden Antiquitätenmärkte in ganz ­Europa nach fehlenden Serviceeinzelteilen und stattet Kochbuch- und Filmproduktionen mit ihren Stücken aus (und hofft, dass nicht wieder Filmfehler passieren wie damals, als man einer Maria Theresia eine englische Tasse in die Hand drückte, die aus einem späteren Jahrhundert stammte).