Essen mit Nostalgie

Während die Lebensmittelindustrie die Nostalgie als wirkungsvolles Verkaufsargument längst erkannt hat, tun sich vor allem kreative Köche bisweilen schwer damgewohnte Gerichte, Geschmäcke und Gerüche.

Text und Foto von Georges Desrues

Im Restaurant der Familie Bras werden zwei Gerichte serviert, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist zum einen der Gargouillou, gewissermaßen das Aushängeschild des Hauses und eines der meistkopierten Gerichte der Welt. Ein wahres pflanzliches Kunstwerk, bestehend aus bis zu vierzig verschiedenen gesammelten und selbst angebauten Blättern, Stängeln, Blüten, Rüben und Knospen, jede Pflanze für sich und auf die für sie geeignetste Art und Weise zubereitet – etwa gekocht, gedämpft, pochiert oder roh. Das alles variiert je nach Jahreszeit und Saison, wird am Teller zu einem farbenfrohen Ganzen zusammengeführt und ergibt ein Gericht, das etliche Spitzenköche weltweit in ihr Programm aufgenommen haben und – je nach Lage ihres Lokals und Klima, je nach Inspiration und Bedürfnissen – verändern und neu interpretieren.

Das zweite emblematische Gericht im Restaurant Bras nennt sich Aligot. Dabei handelt es sich um eine traditionelle Spezialität aus dieser einst von Armut geprägten Heimat der Bras im französischen Zentralmassiv. Es besteht aus wenig mehr als Kartoffelpüree und lokalem Käse, die mit Crème fraîche, Butter und Knoblauch zu einer elastischen Masse gerührt werden. Im Restaurant der Bras wird dieses mit Käse eingedickte Püree dem Gast unaufgefordert am Ende jedes Menüs serviert. „Mehrmals schon wollten wir das Aligot aus dem Menü streichen, aber so viele Gäste bestehen darauf, dass wir immer wieder davon abgelassen haben“, sagt Sébastien Bras, der Juniorchef.

Was die beiden Gerichte – abgesehen von ihrer ganz ­offensichtlich völlig andersgearteten Zusammensetzung, Gestaltung und Verdaulichkeit – unterscheidet, sind die Bedürfnisse und Sehnsüchte, die sie bedienen. Während es sich beim Gargouillou um ein sogenanntes Signature Dish handelt, ist das Aligot eine regionale Spezialität. Damit ­erfüllen sie auch völlig unterschiedliche Funktionen und Ansprüche. So dient ein Signature Dish in erster Linie dazu, die Kreativität und das Können des Kochs unter Beweis zu stellen. Im Gegensatz dazu ist die Aufgabe der Spezialität, den Gelüsten und dem Geschmack des Gasts mit Bekanntem und Vertrautem zu schmeicheln. Dass im Drei-Sterne-Restaurant der Familie Bras beides serviert wird, ist insofern außergewöhnlich, als Signature Dish und Spezialität normalerweise auch in zwei unterschiedlichen Lokaltypen auftreten. So ist die natürliche Heimat des einen das Restaurant, jene des anderen das Gasthaus, Beisl oder Bistro.

Kein Wunder also, dass etliche Spitzenköche neben ihrem besternten Stamm­haus auch ein einfacheres Etablissement betreiben, in dem sie ihre eigene Kreativität zugunsten der Zufriedenstellung des Gastes hintanstellen und ihm hier keine überraschenden Geschmackserlebnisse bieten, sondern klassische Gerichte oder Spezialitäten. Natürlich gibt es auch einige Restaurants, die sich in der heiklen Aufgabe versuchen, beiden Stilübungen gerecht zu werden. Etwa, indem sie dem Gast eine zweigeteilte Speisekarte unterbreiten, die beispielsweise sowohl ein Menü namens „Evolution“ als auch eins namens „Tradition“ enthält. Das tun sie allerdings auf die Gefahr hin, den Gast möglichenfalls mehr zu verwirren als zufriedenzustellen. Denn im Regelfall entscheidet der schon bei der Wahl des Restaurants, ob er Lust auf das eine oder das andere hat.

Während Kreativität und Erneuerung seit jeher integraler Bestandteil der sogenannten Haute Cuisine sind, sind Erinnerung und Nostalgie die treibenden Elemente der Spezialität. Wie eng letztgenannte Empfindungen mit Nahrungsaufnahme verbunden sind, hat schon der Schriftsteller Marcel Proust in der berühmten Szene seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschrieben, als er beim Eintunken einer Madeleine, also eines kleinen Biskuitkuchens, in eine Tasse Tee ­gedanklich zurückgeworfen wird in seine Kindheit. Eine ähnliche Szene findet sich auch in dem Animationsfilm Ratatouille, als der knallharte und eiskalte Restaurant-Kritiker ­namens Anton Ego ebenfalls durch den Genuss eines Gerichts, nämlich der namensgebenden Ratatouille, sich in seine Kindheit zurückversetzt fühlt und augenblicklich vermenschlicht wird.

Freilich sind sich einige Spitzenköche der Kraft der Nostalgie bewusst, unter ihnen etwa der britische Starkoch Heston Blumenthal, der ansonsten eher für äußerst avantgardistische Kochmethoden, für gewagte chemische Reaktionen und multisensorielle Geschmacks­erlebnisse bekannt ist. „Wir bedienen uns nicht oft genug der Nostalgie“, sagt Blumenthal, „dabei ist die Erinnerung etwas derart Kraftvolles, dass die Welt schlechter dran wäre, würden wir uns derartige Gefühle verwehren.“ Darum setzt sich der Koch auch für die Bewahrung etwa des Eiscreme-Wagens ein, der in seiner eigenen Kindheit noch regelmäßig durch die Straßen seiner Heimat fuhr und Interessierte per Glockenspiel anlockte. Und er eröffnete zusätzlich zu seinem Stammhaus ein Restaurant ­namens Dinner, wo er das kollektive Gedächtnis der Briten herausfordert, indem er längst vergessene Gerichte aus der langen, wenngleich weitgehend unbekannten Küchengeschichte des Königreichs wiederbelebt.

Als besonders vergangenheitsverliebt gelten freilich die Italiener. Häufig begegnen sie kulinarischen Kreationen mit Skepsis, die vertrauten Zubereitungsarten ihrer Heimatregion gelten ihnen als unanfechtbarer Maßstab, die Küche der eigenen Mamma oder Nonna als ultimative ­Referenz. Kein Wunder, dass die kreativen Köche des Landes oft kein leichtes Dasein fristen. Und wenn sie Erfolg haben, dann nicht selten mit Gerichten, die sich zwar am kulinarischen Erbe des Landes orientieren, dieses aber auf geradezu fellineske Weise ad absurdum führen. Unter ihnen etwa Massimo Bottura, der Koch und Betreiber der in diesem Jahr zum besten Restaurant der Welt gekürten Osteria Francescana. Einige von Botturas Signature Dishes wie etwa „Il Nord che voleva diventare Sud“ („Der Norden, der zum Süden werden wollte“), eine Art dekonstruierte Pizza (Süden) aus Polenta und Risotto (Norden), oder sein „Bollito misto non bollito“ („Gemischtes Gekochtes, nicht gekocht“), das aus verschiedene Fleischsorten besteht, die auch im klassischen Bollito vorkommen, hier aber sous-vide zubereitet werden, tragen schon im Namen das Poetische und zugleich Absurde, das auch Fellinis Filme ausmacht.

Auch der Turiner Davide Scabin, der in seiner Heimat von einer Welle der Sympathie getragen wird, seit ihm der Guide Michelin im Vorjahr einen von zwei Sternen weggenommen hat, liebt es, Gerichte zu servieren, die das bisweilen äußerst konserva­tive Essverständnis seiner Landsleute herausfordern, wie etwa mit seiner Spaghetti Pizza Margherita. „Es ging mir darum, zwei Geschmäcke aus meiner Kindheit in einem Gericht zu vereinen, dadurch aber etwas Neues zu schaffen, das gleichzeitig erstaunt beziehungsweise schockiert“, so Scabin. Zu schockieren vermag so eine Kreation freilich in erster Linie Italiener, die wie Scabin zu beiden hier zusammengefügten Gerichten besonders emotionale beziehungsweise nostalgische Gefühle hegen. Am Ursprung solcher Kreationen steht laut Bottura die lange kulinarische Tradition seiner Heimat. „Wir Italiener haben eben ­einen anderen Zugang als beispielsweise die Skandinavier oder die Länder der Neuen Welt, weil wir nichts aufzubauen haben, sondern im Gegenteil niederreißen müssen. Wir müssen die Vergangenheit weniger nos­talgisch und viel mehr kritisch betrachten, die Traditionen brechen, um voranzuschreiten“, so der zum besten Koch der Welt gekürte Bottura.

Eines der meistbesprochenen Gerichte des laufenden Jahres war zweifellos René Redzepis Abalone-Schnitzel in seinem inzwischen wieder geschlossenen Pop-up-Restaurant in Sydney. Dieses bestand aus einem Stück Seeohr, das wie ein Schnitzel paniert und mit exotischen, ausschließlich in Australien vorkommenden Früchten und Algen garniert war. Dazu muss man wissen, dass das Schnitzel sowohl in Australien als auch in Redzepis Heimat Dänemark ein äußerst gängiges und beliebtes Gericht ist, das den meisten Bewohner beider Länder von Kind auf vertraut ist. Allerdings wird es da wie dort und wie hierzulande eher aus Schwein, Kalb oder Huhn zubereitet als aus einer seltenen und wertvollen Meeresfrucht. So gesehen spielt Redzepi hier auf beiden Registern – dem der Kreation und dem der Nostalgie, indem er ungewohnte Zutaten mit vertrauten Zubereitungsformen kombiniert.

Als des Schnitzels wahre Heimat gilt freilich Wien, wenngleich das Gericht zumindest laut Legende erst Mitte des 19. Jahrhunderts in der damaligen Kaiserstadt auftaucht, importiert von Feldmarschall Radetzky als eine Art Kriegsbeute nach einem gelungenen Feldzug gegen die aufmüpfigen Mailänder. Überhaupt beruft sich die Wiener Küche gerne auf die zahlreichen Einflüsse aus einer Zeit, die bisweilen etwas nostalgisch verklärt als eine des multikulturellen Zusammenlebens dargestellt wird. Damals strömten zahlreiche Immi­granten in die Hauptstadt – Tschechen, Slowaken, ­Ungarn, Italiener und andere Völker bereicherten die Wiener Küche mit Speisen, die sie mit ihrer verlassenen Heimat verbanden. Inzwischen hat sich die Herkunft der Zuwanderer (zumindest teilweise) geändert.

In der heimischen Spitzengastronomie finden sich heute gleich mehrere Köche mit Migrationshintergrund, wie etwa der Elsässer Alain Weissgerber vom Restaurant Taubenkobel, der griechischstämmige Konstantin Filippou vom gleichnamigen Lokal und seinem angeschlossenen, griechisch angehauchten Gasthaus O boufés oder der Engländer Oliver Lucas mit seinem vor kurzem eröffneten Restaurant Grace. „Als ich nach Österreich kam“, erzählt Lucas, der sich über neun Jahre als Souschef im Restaurant Steirereck mit der österreichischen Küche vertraut machte, „fiel mir sofort auf, dass der Geschmack der Speisen hier eher ins Saure geht. Vieles schmeckt nach Eingemachtem oder Fermentiertem, während der Geschmack, mit dem ich in England aufwuchs, eher ein süßlich-salziger ist.“ Deswegen habe er sich von Beginn an bemüht, diesen Geschmack auch in seinen Kochstil einfließen zu lassen. „Am Anfang habe ich es vermutlich übertrieben, inzwischen aber weiß ich, wie ich gewisse Zutaten, wie zum Beispiel Treacle, einen dicklichen Sirup aus Melasse, so einsetze, dass er mich selbst zufriedenstellt, dem österreichischen Gast aber kaum auffällt.“

Eine solche Nostalgie für gewohnte Geschmäcke, Düfte und Aromen tragen freilich auch die heutigen Flüchtlinge mit sich, die in den vergangenen Monaten aus Syrien, Afghanistan und anderswo nach Österreich gelangten. Früher oder später werden auch sie, genau wie einst die Böhmen und Ungarn und sonstigen Völker der Donaumonarchie, wie später die Italiener die Ex-Jugoslawen und Türken, Lebensmittelgeschäfte und Lokale eröffnen. Ihre Landsleute werden sie aufsuchen, um den Geschmack ihrer Kindheit wiederzufinden. Und die alteingesessenen Österreicher werden aus Neugier hingehen oder um ihre Weltoffenheit unter Beweis zu stellen. Und irgendwann werden die Essgewohnheiten, die Zutaten, die Gewürze und Aromen der Neuankömmlinge in die österreichische Küche einsickern. Denn in Wahrheit bestand die Kraft ­guten Essens schon immer darin, beides zu bedienen: die Lust auf Neues und die Sehnsucht nach Vertrautem.