Gemüse ist mein Fleisch

Die Österreicher sind überzeugte

Fleischesser und selbst so mancher Gourmet reagiert auf Schnitzel und Co. wie ferngesteuert. Dass es auch anders geht, zeigen internationale Kochgrößen wie Thomas Keller im French Laundry in Kalifornien mit seinen vegetarischen Menüs. Eine Nischenkultur, an der sich die österreichische Spitzengastronomie neuerdings orientiert.
Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: Stephanie Golser

820.459 Tonnen Fleisch verbrauchen die Österreicher pro Jahr; der Gemüsekonsum wird mit 901.147 Tonnen beziffert.* Auf den ersten Blick vielleicht ein erfreuliches Ergebnis. Das tatsächliche Mengenverhältnis am Teller sieht allerdings ernüchternd aus: Die Hauptrolle wird nämlich nicht wie von der Ernährungspyramide vorgegeben mit Gemüse besetzt, sondern von einem anderen Akteur am Teller: dem Fleisch.

Zu sechst sitzt eine Gesellschaft in bequemen roten Sesseln um einen runden großen Tisch mit Blick auf den Stadtpark und studiert konzentriert die Speisekarte, die von der aparten Chefin des Hauses ausgeteilt wurde. Die Wahl zwischen den Gerichten fällt schwer: Gillardeau-Auster mit Buttermilch, Glasnudeln und Erbsensprossen? Flusskrebse mit Pastinaken-Milchrahmstrudel und Limetten? Gegrillter Rieddeckel vom Almochsen mit Schwarzwurzeln und Senfgemüse? Entschlossen bestimmt ein Gast am Tisch einen Gang für alle: lauwarmen Artischockensalat mit Kräutern.
Der Artischockensalat von Heinz Reitbauer junior ist ein Gericht, das zum fixen Repertoire im "Steirereck" zählt. Ein Renner, dessen Verzicht auf der Karte kaum ein Gast akzeptieren würde. Und das, obwohl er fleischlos ist. "Wir haben ihn immer wieder in Gerichten eingestreut und irgendwann in den Status eines eigenen gehoben." Die Breitenwirkung war erstaunlich. Kaum hatte ein Gast die Artischocken einmal gegessen, wurden bei einem weiteren Besuch andere am Tisch dazu verpflichtet. Weitere vegetarische Gerichte – zwei bis drei Kreationen befinden sich in der Regel als fleischlose Alternative auf Reitbauers Karte – verzeichnen allerdings nur bescheidene Bestellwerte. "Es ist eben schwer, von Essgewohnheiten abzurücken. Wir essen, wie wir es in unserer Kindheit gelernt haben. Das bleibt in uns verhaftet. Trotzdem hat sich etwas verändert. Die Menschen essen heute aus ökologischen, moralischen und gesundheitlichen Gründen viel bewusster. Auch das Schönheitsideal ist für Frauen eine Antriebsfeder geworden. Ich möchte die Männer aber nicht ausnehmen. Die sind auch eitler geworden, was sich letztendlich auch auf die Ernährung schlägt."
Reitbauer will einen neuen Weg in seiner Küchenlinie einschlagen. Seit letztem Herbst beschäftigt er sich gemeinsam mit seiner Küchencrew intensiv mit der Thematik Gemüse. Im Frühjahr will er seine Karte "komplett umbauen". "Das Hauptmenü wird ganz stark gemüselastig. Nicht zu 100 Prozent, aber im Zwei-Drittel-Bereich." In eine rein vegetarische Schiene will sich der österreichische Spitzenkoch mit Hang zu elaborierter Küche und höchster Produktqualität deshalb nicht pressen lassen. Aber er kündigt Konsequenzen an, die der Gast spüren wird: "Wir werden fettfrei kochen und auch stärker mit Gemüse als Rohfaktor arbeiten und es nicht nur dabei belassen, Saucen mit Gemüsesäften zu binden." Dass das nicht jedem seiner Gäste gefallen könnte, lässt Reitbauer nicht gelten: "Wir können uns das erlauben, weil wir ja auch A-la-carte-Essen anbieten. Wer also gar nichts damit anfangen kann, hat eine Alternative." Starten will der Spitzenkoch, "sobald die Wälder, Gärten und Felder etwas hergeben." Seine Lieferanten, ein dichtes Netzwerk an Produzenten, hat er schon für sich abgestellt: eine ambitionierte Dame etwa, die das "Steirereck" zweimal wöchentlich mit den schönsten und aromatischsten Exemplaren an Wildgemäsesorten beliefert, einen privaten Züchter, der eigens für Reitbauer Löwenzahn zieht, die umtriebige Wiener Slow-Food-Gärtnerin Eveline Bach, den Biohof Adamah, den Haus- und Hoflieferanten Loacker vom Rochusmarkt, die Arche Noah und die hauseigene Terrasse, auf der bis zu 50 verschiedene Kräuter wachsen.
Die Gangzahl des Menüs will Reitbauer mit der Umstellung auf die Gemüse-Fokussierung erhöhen, den Preis dafür jedoch nicht. Und das, obwohl der Aufwand "auf jeden Fall ein höherer ist". Er würde ihn für Gemüse sogar als doppelt so hoch als für die Fleisch- oder Fischzubereitung beziffern. "Diese Plätze in der Küche sind bei uns die intensivsten." Dass man als Gastronom deshalb genauso viel dafür verlangen kann, wie für ein Menü mit Gänseleber, Hummer und Co. ist für ihn selbstverständlich. Immerhin zeigen auch internationale Kollegen, dass die gleichberechtigte Rechnung aufgeht: Thomas Keller serviert seinen Gä¤sten im "French Laundry" in Napa Valley das neungängige Vegetable Tasting Menu wie auch das Chef’s Menu zum gleichen Preis, nämlich um stolze 250 US-Dollar. Und auch Veggie-Koch Pierre Gagnaire aus Paris und Michel Bras – er wird in der Gourmet-Szene als der beste Gemüsekoch der Welt gehandelt – aus dem französischen Dorf Laguiole zeigen, dass vegetarische Küche seinen Preis haben darf.
Auch wenn dem "Steirereck" im Gegensatz zu mancher internationalen High-End-Gastronomie keine Laborküche zur Verfügung steht, experimentiert wurde in der High-Tech-Küche im Stadtpark in den vergangenen Monaten permanent. Mit Frühjahr wird die Vorgabe umgesetzt, denn: "Die Zeit schreit danach." Das hat sich vor fast 30 Jahren auch ein anderer Gastronom gedacht: Christian Wrenkh, der österreichische Pionier in Sachen vegetarische Küche. Vor 27 Jahren hatte er die Wahl, ein Steakhouse in den USA zu eröffnen oder sich in Wien einen Traum zu erfüllen. Er entschied sich in letzter Sekunde für Zweiteres, stieg noch am selben Tag in den Flieger nach Wien und eröffnete im 15. Wiener Gemeindebezirk das erste vegetarische Restaurant auf Vollwertbasis. Für seine kühne Idee erntete er nicht nur Beifall. Noch heute erinnert er sich an einen Mann, dem zu seinem Konzept nur eines einfiel: "Frechheit, so etwas in einem Arbeiterbezirk." Es gab aber auch andere Bewertungen und bald folgten Auszeichnungen durch die österreichischen Gourmetführer. Innerhalb kürzester Zeit machte der Gastronom Produkte wie Buchweizen, Quinoa und Tofu salonfähig und expandierte 1987 mit einem zweiten Restaurant auf den Bauernmarkt in der Inneren Stadt. Trotz einer erfolgreichen Startphase entschied sich Wrenkh im Jahr 2002, auch Fleisch und Fisch in seine Karte einzubauen (zwei Drittel seiner Gerichte werden bis heute rein vegetarisch zubereitet): "In den 80er und 90er Jahren war die richtige Zeit für ein vegetarisches Restaurant. Meine Gäste haben sich aus einer mobilen Schicht von Werbeleuten und Kreativen zusammengesetzt. Das Problem mit dem Vegetarismus ist aber, dass er sich in Wellen bewegt. Auch in den 20er Jahren gab es so eine Bewegung. In dieser Zeit war vegetarische Ernährung ein großes Thema, wenn auch aus anderen Motiven. Massentauglich wurde sie leider nie."
Wrenkhs optimistischer Wunsch in den Anfangsjahren wurde bald zerstreut. "Ich dachte, dass sich in der Landwirtschaft etwas ändern würde. So, wie man das von Frankreich träumt. Ich dachte, dass man zwischen drei Sorten Schlagobers auswählen können wird. Zwischen Sorten, die sich tatsächlich unterscheiden und nicht nur ein anderes Etikett oder einen anderen Hersteller haben." Einen neuen vegetarischen Trend kann Wrenkh dennoch orten. "Es gibt immer gesellschaftliche Schichten, die eine Vorreiterrolle spielen. Derzeit sind es die urbanen Eliten, in denen sich eine selbstverständliche Haltung entwickelt, sich mehr mit ihrer Ernährung auseinanderzusetzen und ihren Fleischkonsum stark zu reduzieren." Krankheiten wie BSE in den 90er Jahren und vor wenigen Jahren die Schweinepest haben dazu geführt, dass in seinem Lokal am Wiener Bauernmarkt hauptsächlich vegetarische Gerichte bestellt werden. "Unser Hauptgeschäft machen wir mittags und man kann sagen, dass wir fast zu 100 Prozent vegetarisch arbeiten. Vielleicht kommen die Leute deshalb zu uns und weil wir es einfach gut können. Fleisch gibt’s eh woanders."
Der niedrige Stellenwert von Gemüse in der Gesellschaft ist für Wrenkh nicht nachvollziehbar: "Wenn ich einen Lachs um drei Euro kaufe, kann ich auf jeden Fall 10 Euro dafür verlangen. Wenn ich aber Brokkoli einkaufe, dann kostet er wahrscheinlich 3,50 Euro. Ich habe aber 50 Prozent Abfall und brauche viel länger für die Zubereitung. Das schätzt der Gast leider nicht, ein gleich hoher Preis wird nicht akzeptiert. Es muss sich in der Wertigkeit beim Verbraucher unbedingt etwas ändern. Ich bin noch immer der Meinung, das Fleisch total überbewertet und Gemüse das viel intelligentere, kompliziertere Produkt ist, mit dem man sich viel mehr auseinandersetzen sollte." Selbst die Gastronomie macht sich nicht besonders viele Gedanken zu einer vegetarischen Option. Genießbare Alternativen zur Fleischküche findet man nur selten bis gar nicht. "Nur Fleisch weglassen funktioniert eben nicht. Die vegetarische Küche ist eine eigene Küche, mit einem eigenen Ethos." Hoffnung setzt der Prediger, der keiner sein will, nur in die Spitzengastronomie. "Auf wirklich hohem Niveau könnte man die vegetarische Küche vielleicht auch für Fleischesser attraktiv inszenieren. So wie es auch einige Küche in Frankreich schaffen, die ihr Gemüse selbst anbauen und dann 50 Euro für ein Hauptgericht verlangen. Die Nachfrage steigt. Wenn sich die Gäste sicher sein könnten, dass sie ein durchdachtes vegetarisches Gericht bekommen, würden sie es auch bestellen."
Versuche in diese Richtung hat "Meinl am Graben"-Küchenchef Joachim Gradwohl gestartet. Vom Sommer bis zur Trüffelsaison vergangenen Jahres hat der Spitzenkoch eines seiner beiden Mittagsmenüs zur Gänze auf Gemüse umgestellt. Die Akzeptanz war hoch, immerhin bestellte die Häfte seiner Gäste das vegetarische Menü. Dass Gradwohl diesen Entwurf nicht auf die Abendkarte ausgeweitet hat, hat wohl wirtschaftliche Gründe. Denn welcher Gast will schon auf die exklusiven Luxusprodukte wie Highlandbeef, Lamm aus den Pyrenäen und Poulet de Bresse verzichten, wenn man sich einen Abend in einem Restaurant gönnt, das mit einem angeschlossenen Gourmetsupermarkt aus dem Vollen schöpfen kann? Eine Wiederholung des vegetarischen Mittagsmenüs hält er für denkbar, auch wenn ihm ein anderes Konzept besser gefallen würde: Die Reduktion des Fleischanteils am Teller auf ein Drittel und die Anhebung von Gemüse auf zwei Drittel, ähnlich dem Ansatz von Heinz Reitbauer junior. "Aber das muss das Haus leben und das ist ein langer Prozess", so Gradwohl realistisch.
Mutiger geht der deutsche Koch Silvio Nickol im Restaurant "Schlossstern" in Velden die Thematik Gemüse an. Auf seiner Karte befinden sich genauso viele Gerichte mit Fleisch oder Fisch wie vegetarische. Die Gleichberechtigung ist für ihn seit zwei Jahren zum Selbstverständnis geworden. Immerhin fragen die Gäste aktiv danach. "Viele Gäste, die bei mir Fleisch- und Fischgerichte bestellen und dann einen Blick auf die vegetarische Seite der Karte werfen, finden die Beschreibung so interessant, dass sie sich auch auf ein fleischloses Gericht einlassen. Die meisten sind dann so positiv überrascht, dass man aus den Produkten so viel herausholen kann, dass sie beim nächsten Besuch ein rein vegetarisches Menü bestellen." Nickol nähert sich dem Gemüse bevorzugt mit asiatischen Gewürzen an und versteht es wie kaum ein anderer in seiner Branche, aus ihnen ihren Eigengeschmack herauszuholen, ohne ihn zu verfälschen. Er setzt etwa seine "Harmonie von der Avocado" gekonnt in Form einer Suppe, eines Cannelloni, einer Terrine und eines Tatars zusammen und kombiniert die Frucht mit Aromen wie Koriander, Kaffir-Limettenblättern, Ingwer, Thaibasilikum und Chili. "Ich mag die asiatische Küche. Ich war letztes Jahr in Thailand und heuer auf Bali und finde die leichte Küche, die dort zelebriert wird, wahnsinnig interessant. Man kann viel essen und nach einer halben bis einer Stunde hat man kein Völlegefühl, sondern könnte wieder von vorne beginnen. Ich glaube, dass das die Zukunft ist. Schwere Küche ist passe."
Von der hat sich auch Friedrich Gutscher vor Jahren verabschiedet. Der gebürtige Wiener betrieb 23 Jahre lang in Stuttgart das renommierte Restaurant "Delice", in dem er in einer Schauküche direkt vor den Gästen und auf deren Wünsche abgestimmt kochte. Im Dezember 2009 verließ er den Herd des Restaurants, übergab den Schlüssel seinem langjährigen Sommelier Evangelos Pattas und übernahm mit zwei Partnern einen Dreikanthof im südburgenländischen Zahling, in dem er im Mai 2010 seine neue Wirkungsstätte eröffnen will. Das Besondere daran: Es wird weder Fleisch noch Fisch gekocht. Den Entschluss dazu hat Gutscher während der BSE-Krise Mitte der 80er Jahre gefasst, wegen der er seither zur Gänze auf Fleisch verzichtet. "Ich wollte seit dieser Zeit unbedingt auch einmal ein vegetarisches Konzept durchziehen, aber ich hätte im Delice ja nicht alles umschmeißen können. Jetzt, wo ich neu starte, kann ich es mir leisten." Maximal 24 Gäste haben in seinem Restaurant "Speiseatelier" Platz, das mit zwei Designerzimmern (ohne Fernsehapparat und Telefon) auch die Möglichkeit zur Übernachtung bietet. Gekocht wird mittags auf Bistroniveau, abends verwandelt sich das "Speiseatelier" in ein Fine-Dining-Restaurant: Wie auch in Stuttgart kocht Gutscher nur ein Menü, direkt vor den Gästen, auf dem mit Holz befeuerten, gekachelten Herd oder auf den Induktionsplatten. Der Preis für fünf Gänge inklusive Amuse Bouche und Predessert: 80 Euro. Eventuelle Sonderwünsche stellen kein Problem dar. "Ich koche ja nicht für Tisch Nummer 5, sondern für den Gast. Ich gehe am Anfang jedes Abends von Tisch zu Tisch und bespreche die Menüabfolge. Sollte der Gast ein Gericht nicht mögen oder eine Allergie haben, wird umdisponiert. Damit habe ich gar kein Problem", gibt sich Gutscher über jeden Stress erhaben. Das dürfte vielleicht auch am Alter liegen. "Mit 61 Jahren lebt es sich einfach entspannter." Die Zutaten für seine Gerichte will Gutscher von den Produzenten der Region beziehen. Kontakte hat er noch von seinen Weineinkäufen im Burgenland, die er in den letzten 23 Jahren persönlich absolviert hat. Josef Lentsch zählt genauso zu seinen Bekannten wie Erich Stekovics und Josef Umathum. "Dieses Eck bin ich immer abgefahren." Aber auch neue Kontakte werden geknüpft. Mit pannonischem Safran wird Johannes Pinterits aus Klingenbach den Koch beliefern und Trüffel will Gutscher nicht wie bisher aus dem Piemont, sondern aus den Wädern Istriens beziehen.
Waghalsig würden Gutschers Pläne die einen nennen. Andere, wie Reitbauer junior, glauben an seinen Erfolg. Dem stimmt auch Wrenkh zu: "Ich glaube, dass es für die gehobene Gastronomie nur noch das Gemüse gibt, von dem sie profitieren kann. Fleisch haben die Spitzenköche rauf- und runtergekocht. Jetzt sollen sie einmal zeigen, was sie mit Gemüse draufhaben."