Großes Brot

Ohne Panettone ist Weihnachten in Italien kaum vorstellbar. Dabei ist die auch im Ausland immer beliebtere Weihnachtsbäckerei gar nicht so alteingesessen, wie man glauben könnte. Über die wahre Herkunft des Panettone und seine unter- schiedlichen Ausführungen.

Text von Georges Desrues/Fotos von Georges Desrues

Als Niko Romito im Jahr 2011 seine eigene Version des Panettone präsentierte, hagelte es massenweise Kritik. Zahlreichen unter den in Essensdingen bekanntlich äußerst traditionsbewussten Italienern geriet die vom Starkoch neuinterpretierte Weihnachtsbäckerei schlichtweg zu avantgardistisch. Nicht buttrig, nicht üppig, nicht cremig genug, mit einem Wort: viel zu leicht und neumodisch und vor allem völlig überbezahlt, so lauteten die damals am häufigsten geäußerten Vorwürfe. Doch Romito ließ sich nicht beirren. „In meinem Beruf wäre es sowieso völlig falsch, allen gefallen zu wollen“, sagt der Wirt des vom Michelin dreifach besternten Restaurants Casadonna Reale in der Region Abruzzen, „und zwar genauso, wie es falsch wäre, einer Mode nachzurennen. Nur wer seinem Stil treu bleibt, wird ­seine Gäste auf Dauer halten können.“

Neun Jahre später ist Romitos ­Panettone geradezu Legende. Ganz Italien reißt sich in der Vorweihnachtszeit darum, Stammgäste und Freunde des Hauses erhalten ihn als Weihnachtsgeschenk per Post, und wer da nicht dazu zählt, versucht über Umwege, einen zu ergattern. In den sozialen Netzwerken ist er allgegenwärtig und wird leidenschaftlich kommentiert, was mit Sicherheit mit ein Grund ist, warum er Schule machte und inzwischen viele bekannte und weniger bekannte unter Romitos Kollegen gleichfalls ihren alljährlichen Panettone backen.

Sie alle setzen – wie könnte es auch anders sein – auf allerhöchste Qua­lität, auf natürliche Sauerteige, auf bisweilen extrem lange Gärvorgänge, ausgewählte, gegebenenfalls lokale und saisonale Zutaten sowie perfekte Backdauer und -temperatur. Das alles mit dem Ziel, wie es heißt, die klassischste unter Italiens Weihnachtsbäckereien wieder zurückzuführen zur handwerklichen Exzellenz längst vergangener Zeiten. Jener Zeiten, als man noch weit entfernt war von industrieller und seelenloser Massenproduktion, deren Panettone-Boxen man heute in jedem Coop-Supermarkt und beim Autogrill findet.

Dabei ist der Panettone, den man heutzutage mit Italien gleichermaßen verbindet wie etwa Mortadella, Mozzarella oder Nutella, mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht so althergebracht und romantisch, wie man meinen könnte. Ist doch vieles, was über die Spezialität behauptet wird, historisch kaum belegbar. So erzählt man sich im Bel paese etwa gerne die Geschichte des österreichischen Reichsgrafen Karl Ludwig von Ficquelmont (1777–1857), einst Gouverneur Mailands, der seinem Staatskanzler, dem Fürsten von Metternich, alljährlich zum Weihnachtsfest einen Panettone schenkte.

Damit würde Feldmarschall Ficquelmont in Bezug auf den Erfolg der Weihnachtsbäckerei eine ähnlich bedeutende Rolle zukommen wie seinem ranggleichen Kollegen und Landsmann Joseph von Radetzky, der ja – wiederum laut Legende – einst das gleichfalls aus Mailand stammende Schnitzel in gewisser Weise als Kriegsbeute nach Wien brachte.

Abgesehen davon, wie unwahrscheinlich es ist, dass der Kriegsherr und Politiker Ficquelmont sich bei seinem damals bereits greisen ­Vorgesetzten und Reichskanzler Metternich mit italienischem Kuchen hätte einschleimen wollen, hat die Geschichte auch einen weiteren, noch wesentlicheren Haken. War doch zu Lebzeiten beider Herren, also Mitte des 19. Jahrhunderts, der Panettone, wie wir es in seiner heutigen Form kennen, gänzlich unbekannt.

Historiker haben nämlich herausgefunden, dass es erst der Mailänder Bäcker Angelo Motta war, der im Jahre 1919 auf die Idee kam, dem damals in seiner Heimatstadt weitverbreiteten flachen und kompakten Teiggericht namens Panettone („großes Brot“) mit Sauerteig-Hefen zu mehr Volumen zu verhelfen und es mit kandidierten Früchten aufzuwerten. Damit wäre der Panettone bis 1919 also nichts weiter gewesen als eine Art Focaccia, wie man sie in Ligurien zubereitet; oder eine Pide, wie man sie von ­türkischen Bäckereien in Ottakring kennt. Und dass der Feldmarschall dem Kanzler des Kaiserreichs zu Weihnachten ein trauriges Fladenbrot überreicht hätte, liegt dann doch weit jenseits der Grenze des Vorstellbaren.

Aber zurück zu Angelo Motta, der folglich als wahrer Vater des modernen Panettone gelten darf. Bereits zehn Jahre nach seiner bahnbrechenden Erfindung eröffnete Motta in Mailand eine Art Panettone-Fabrik, in der das erfolgreiche Gebäck von nun an am Fließband erzeugt wurde. Konkurrenz machte im bald darauf sein Kollege Gioacchino Alemagna, der gleichfalls in der lombardischen Hauptstadt eine industrielle Panettone-Produktion aus dem Boden stampfte. Beide Namen, Motta und Alemagna, prangen bis heute auf einem Großteil der bunten Schachteln, die sich in der Vorweihnachtszeit in Supermärkten inner- und außerhalb Italiens zu imposanten Pyramiden türmen.

Industrielle Produktion und Schachteln trugen auch zu dem durchschlagenden Erfolg bei, den der Kuchen in Zeiten des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig gelang. Laut dem Historiker Alberto Grandi symbolisierten beide damals für etliche Italiener und deren ausgewanderte ­Familienangehörige, etwa in Südamerika (wo der Panettone mancherorts bis heute genauso populär ist wie in Italien), die ­moderne Weihnachtsbäckerei schlechthin.

„Industrielle Fertigung war damals noch nicht negativ behaftet“, sagt Grandi. „Für viele Menschen stand das standardisierte und lange haltbare Produkt in seinen hübschen Boxen, das noch dazu aus dem modernen, schicken und wirtschaftlich so erfolgreichen Mailand kam, für eine bestimmte Form des Wohlstands, an dem man um wenig Lire und durch den Erwerb einer Schachtel wenigstens ein bisschen teilhaben konnte.“

Erst viel später, also im Laufe der 1990er-Jahre, so der Historiker, hätten etliche kleinere Pasticcerien damit begonnen, Panettoni auf handwerkliche Art zu backen. Was Grandi zu der Aussage bekräftigt, dass der angeblich so traditionsbeladene handwerkliche Panettone in Wahrheit nicht älter ist als eben höchstens vierzig Jahre.

Doch was genau unterscheidet einen handwerklichen von einem industriellen Panettone? Dazu ist zu wissen, dass die Mailänder Handelskammer im Jahr 2005 ein paar Regeln festgesetzt hat, die alle Produkte erfüllen müssen, die sich Panettone nennen wollen. Und die da wären: Mehl, Zucker, frische Eier, Butter (Minimum 16 %), Rosinen und kandierte Früchte, natürliche Hefe, Salz.

Das ist ja immerhin etwas. Besagt es doch wenigstens, dass etwa pflanzliche Industrieöle oder Eipulver verpönt sind. Unterschiede finden sich freilich nach wie vor und abgesehen von Haltbarkeit (Stichwort Konservierungsstoffe) und Preis (Stichwort Handarbeit) auch bei den Zutaten. Die Qualität der Butter ist natürlich nicht immer dieselbe. Jene der Rosinen und kandierten Früchte auch nicht. Und ob man beispielsweise echte Vanille dazutut oder aber Vanilleextrakt, macht mit Sicherheit auch einen Unterschied.

Am meisten aber unterscheiden sich die industrielle und die handwerkliche Arbeit bei den Gärzeiten. Zwar muss auch die Industrie natürliche Hefen einsetzen, darf aber auch Bierhefe dazutun. Dadurch wird der Gärvorgang naturgemäß reduziert, in der Regel auf zwölf Stunden. Wer jedoch auf höchste Qualität setzt, verwendet ausschließlich natürlichen Sauerteig und arbeitet mit bis zu drei Gärvorgängen, wodurch die Produktionszeit zwischen 30 bis 72 Stunden dauern kann. Das Resultat ist ein luftig lockerer, leicht verdaulicher Panettone, wie man ihn sich für einen derart fest­lichen Anlass wie Weihnachten auch erwarten darf.

Wer die besten handwerklichen Panettoni des Landes bäckt, ist naturgemäß ein in Italien alle Jahre wieder heiß diskutiertes Thema. Hier eine Auswahl von Namen, die ­immer wieder auftauchen:

Chiara Soban, Trieste
www.gelateriasoban.com

Pasticceria Bedussi, Brescia
www.bedussi.it

Pasticceria Cova, Mailand
www.pasticceriacova.com

Pasticceria Marchesi, Mailand
www.pasticceriamarchesi.com

Gino Fabbri, Bologna
www.ginofabbri.com

Pasticceria Orsucci, Turin
www.pasticceriaorsucci.com


Und hier eine Auswahl an Panettoni von Starköchen – in Italien häufig als „panettoni stellati“ („besternte Panettone“) bezeichnet.

Niko Romito
Ein Pionier des Küchenchef-Panettone. Die alljährlich erzeugten 2.000 nummerierten Stück sind heiß begehrt. Drei Tage braucht Romito für seinen besonders leichten und luftigen Panettone, produziert werden auch die kandierten Früchte sowie der Sauerteig im Haus, also im Dreisterne­restaurant Casadonna Reale in den Abruzzen.
www.nikoromito.com

Massimiliano Alajmo
Erwartungsgemäß ziemlich kreativ geht es Massimiliano Aljamo an. Der Dreisternekoch aus ­Padua präsentiert jedes Jahr eine Neukreation des Panettone, wie zum Beispiel im Vorjahr eine mit Lakritze und Safran.
www.alajmo.it

Da Vittorio – Fratelli Cerea
Die Brüder Cerea vom Dreisterner Da Vittorio bei Bergamo, bekannt für ihre eher traditionelle Küche und ihr legendäres Cotoletta alla milanese, setzen in erster Linie auf hervorragende Zutaten, wie etwa auf handgeschöpfte Butter, Orangenblütenhonig und Mandeln aus Sizilien.
www.davittorio.com

Ciccio Sultano
Längst haben auch die Pasticciere und Köche Siziliens die norditalienische Spezialität für sich entdeckt. Unter ihnen auch der Superstarkoch der Insel, Ciccio Sultano (zwei Sterne), der gemeinsam mit Fabrizio ­Fiorani (Asiens „50 Best Pastry Chefs 2019“) einen Panettone kreiert hat, der ganze 72 Stunden gehen darf und in drei ­Geschmacksrichtungen daherkommt.
www.cicciosultano.it

In Wien wird in sämtlichen ­Rankings die Kurkonditorei Oberlaa ganz vorne gehandelt.
www.oberlaa-wien.at

Bestes Beispiel für handwerk­liche Backkunst ist der Ferrari-Panettone aus 100 Jahre altem Urteig
Ferrari Pasticceria, Caffè Dolce & Salato
Annagasse 3, 1010 Wien
Tel.: 01/512 27 86