Im Nackenpelz der Legende
Ausflug nach München samt Promispotting im Englischen Garten, Lederhosen in der Goldenen Bar und einer gründlichen Vermessung des neuen Tantris bei Lunch und Dinner.
Zuerst ging ich durch den Englischen Garten. Das ist immer eine gute Idee, weil es im Englischen Garten, diesem herrlichen Stück Stadtwildnis, Attraktionen jeder Ordnung gibt. Naturdenkmäler, fußballspielende Jugendliche, die ich, wäre ich Sportdirektor von Rapid, sofort unter den Arm und mit nach Wien nehmen würde, weil ich schon lange keinen Rapidler mehr so gut gaberln und tricksen gesehen habe wie die Buben und, ja, Mädel im Englischen Garten.
Als ich später am Kleinhesseloher See saß und in den großartigen Gelegenheitsessays von Zadie Smith las, fiel mir ein Schwan auf, der in geringer Höhe, aber dafür sehr laut mit den Flügeln schlagend quer über die Wasserfläche flog, um eine Kolonie von Stockenten ohne ersichtlichen Grund auseinanderzutreiben. Ich gab ihm den Namen „Putin“ und betrachtete mit Vergnügen, wie er von einem aufgebrachten Spaziergänger, der sich auf die Seite der Stockenten schlug, mit dem Spazierstock zur Räson gebracht wurde. Wenn das kein gutes Omen war.
Später, ich las gerade Zadie Smiths bewundernde Ausführungen über ihren Kollegen David Foster Wallace, den Leserinnen und Lesern dieses Magazins auch bestens für seine introspektive Reportage Am Beispiel des Hummers bekannt (und falls nicht, wird es Zeit), schlenderte Elfriede Jelinek an mir vorbei, und ich dachte, besser wird es heute nicht.
Wurde es aber schon (und das hing nicht mit Mick Jagger zusammen, der, wie ich später der Klatschpresse entnahm, zur selben Zeit im Biergarten gegenüber eine Maß in sich hineinstellte – keine Ahnung, wo er das Bier hinsäuft. Wer das wissen will, muss bei Konstantin Filippou auf der Dominikanerbastei nachfragen, weil bei dem verbrachte Jagger ein paar Tage später auch einen Abend. Oder bei den Burschen, die mit ihm am
Bitzinger-Würstelstand vor der Albertina standen und ihn nicht erkannten. Es wurde noch besser, weil ich abends einen Tisch im Tantris hatte.
Ich bin ja nicht dafür bekannt, dass ich weit aushole, wie der rasiermesserscharfe Einstieg in diese Geschichte beweist. Aber was das Tantris betrifft, muss ich ein paar Dinge vorausschicken (falls Sie in der launigen Geschichte des Tantris versiert genug sind, suchen Sie weiter unten nach dem Absatz, der mit „Aber jetzt“ beginnt).
Das Tantris ist eine Legende. Es wurde 1971 eröffnet, und zwar nicht als irgendein klassisches Innenstadtrestaurant im Viktualienland des Münchner Zentrums, sondern als Neubau, für den der Schweizer Architekt Justus Dahinden den Entwurf übernahm. Dahinden war ein Schweizer Architekt, der für seine oft brutalistischen Wohn- und Sakralbauten bekannt war (in Wien lieferte er später ein mit Verlaub eher misslungenes Gebäude ab, nämlich die neue Universitätsbibliothek der TU an der Operngasse).
Ich nehme an, dass die Neigung zum Sakralen ein Argument für den schöngeistigen Bauunternehmer Fritz Eichbauer war, Dahinden zu beauftragen, denn die Ambition, in der Nähe der Münchner Freiheit ein Spitzenrestaurant vom Himmel fallen zu lassen, hatte eindeutig mit seiner Vergötterung großartigen Essens zu tun (um das Bild vom Gourmettempel nicht unnötig zu strapazieren).
Eichbauer sagte über sich und seine Frau Sigrid-Ursula: „Andere Leute
lesen Krimis. Wir lesen Weinkarten.“ Seine „Studienreisen“ ins Elsass und das Burgund sind Legende. Ein Besuch in der Auberge de l’Ill hatte dann prompt Auswirkungen auf die Personalpolitik Eichbauers, aber davon gleich mehr.
Dahinden baute das Haus, einen auf den ersten Blick schlichten Zentralbau aus Beton, Blech, Glas und Plastik. Die Pointe wartete im Inneren des Tantris, wo der gesamte Raum – er besitzt formal tatsächlich etwas Sakrales – mit einem hummerroten Teppich ausgeschlagen wurde (man darf die Farbe unter Freunden auch Orange nennen) und den Zeitgeist der Seventies sowas von kondensiert, mich wundert, dass das Haus nicht schon vor der Eröffnung unter Denkmalschutz gestellt worden war. Aber nicht alle haben das Design und den Auftritt des Tantris verstanden.
Der Besitzer des Bayerischen Hofs nannte es eine „geschmackvolle Autobahnkapelle“, irgendwer verglich es auch mit einer schicken Feuerwehrstation. Kaum jemand begriff, dass das Tantris, das einzig und allein deshalb gebaut wurde, um Menschen Freude zu bereiten – okay, Menschen, die sich das leisten konnten –, ein Monument des Optimismus und des Vertrauens in die Zukunft war, beides in Deutschland eine Ware, die es nicht im Überfluss gab.
Erster Küchenchef: Eckart Witzigmann. Paul Haeberlin, der Dreisternekoch aus der Auberge de l’Ill hatte den Eichbauers den dreißigjährigen Bad Gasteiner empfohlen, der gerade im Jockey Club in Washington zugange war. Eichbauer flog in die Hauptstadt, engagierte Witzigmann, der aber nur unter der Bedingung kam, dass die nagelneue, unbenützte Küche des Tantris herausgerissen und nach seinen Vorstellungen neu gebaut wird.
Sie wurde sie herausgerissen und neu gebaut. Witzigmann kehrte als zu krönender König nach München zurück, das damals kulinarische Provinz war, und brachte den Duft der weiten Welt mit. Kochte – wie mir Augenzeugen versichern, ich ernährte mich damals wie alle Kleinkinder von Extrawurstsemmeln und Jolly-Schleckern – berückend, einfallsreich, mit Zutaten, die in München kein Mensch kannte, Ziegenkäse, Thymian, Salzlamm, Bressehuhn, legte hinter dem Tantris einen Kräutergarten an, um frisch aromatisieren zu können, und erwartete die Huldigungen des Publikums.
Fritz und Sigrid-Ursula Eichbauer waren eh begeistert. Die Münchner bestellten Steaks vom Grill, weil sie Ziegenkäse, Thymian, Salzlamm, Bressehuhn und frische Kräuter nicht mochten. Der werdende Jahrhundertkoch Witzigmann nahm weiterhin das im Namen Tantris enthaltene Motto „Suche nach Vollkommenheit“ ernst und leistete bis 1978 Aufklärungsarbeit für kulinarisch Schwererziehbare. Dann zog er in die Aubergine weiter, während Heinz Winkler das Tantris übernahm.
Ich glaube nicht, dass es in München jemals ein kulinarisches Match auf dem Niveau gab, wie es Witzigmann und Winkler in den Jahren darauf ausfochten. Beide, Witzigmann ein Jahr früher, wurden mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Die Mitarbeiter spielten ein Mal in der Woche Fußball im Englischen Garten, die Chefs lauerten darauf, um das berühmte Alzerl besser zu sein als der jeweils andere.
Winkler blieb bis 1991, dann übernahm Hans Haas. Das ist die Epoche des Tantris, die ich am besten kenne und die ich auch rechtschaffen geliebt habe. Im Tantris von Hans Haas kugelte ich öfter mal rum, aß dessen Gerichte, die nie überkandidelt waren, sondern immer auf die Tiefe des Geschmacks zielten, lauwarmen Lachs mit Lauchpüree, marinierten Thunfisch mit rosa gebratenem Milchkalbsrücken und glacierten Zwiebeln, Lammkotelett im Artischockenboden.
Höhepunkt meiner Tantris-Erlebnisse waren die Momente, als mein damals achtjähriger Sohn vor der damaligen Sommelière Paula Bosch hinter die bodenlangen Vorhänge der Fensterfront flüchtete, worüber sie wenig amüsiert war, sodass ich ihr, was ich nicht vorgehabt hatte, die ganze Weinbegleitung abkaufen musste. Ein anderes Mal durfte ich das Abendessen gemeinsam mit Eckart Witzigmann und Roland Trettl einnehmen, was dazu führte, dass wir schon vor dem Essen in der Küche von Hans Haas so viel Champagner bekamen, dass ich im Überschwang der Gefühle Justin Leone, dem Nachfolger von Paula Bosch, die gesamte Weinbegleitung abkaufte. Irgendwie, finde ich, läuft die Sache im Tantris immer auf das Eine hinaus.
Aber jetzt. Seit 2020 ist Hans Haas in Pension. Felix und Sabine Eichbauer haben das Haus übernommen und mit neuem Konzept, neuen Mitarbeitern und einem sanften Make-over ausgestattet, das zum Glück nur dann zu sehen ist, wenn dich jemand darauf aufmerksam macht, zum Beispiel, dass heute, wo früher Eckart Witzigmann die Steaks für seine Lieblingsmünchner auf den Grill schmiss, der „Tagesweinkeller“ stationiert ist: direkt unter dem monumentalen „Auge“, das über dem kulinarischen Tantris-Themenpark wacht, der die wichtigsten Begriffe des Hauses in der unverkennbaren Tantris-Typografie aufzählt: von Hunger, Liebeshunger. Bärenhunger bis Fröhlich. Feurig. Freudig.
Weil ihr fragt: Die ursprüngliche Schrift wurde, angelehnt an die klassische Futura, vom Büro des Architekten entwickelt, dürfte von Herb Lubalin inspiriert sein und erfuhr 2014
für ein Buchprojekt ein empathisches Redesign vom Typografen Hubert Jocham. Sie heißt jetzt Tantris SSANS. Nur der Vollständigkeit halber.
Tiefgreifender ist die Strukturreform des Hauses. Es gibt nicht mehr DAS Tantris, sondern insgesamt drei Lokale, die in einem „Maison Culinaire“ zusammengefasst sind. Erstens das Restaurant Tantris mit dem Küchenchef Benjamin Chmura, das klassisches, zeitgemäßes Fine Dining anbietet. Zweitens das Restaurant Tantris DNA, wo es traditionell französische Gerichte und Klassiker aus fünf Jahrzehnten Tantris gibt, hergestellt vom Team um Küchenchefin Virginie Protat. Drittens die Bar Tantris, die neuerdings sieben Tage die Woche offen hat und wo es Cocktails und „Barfood“ gibt, was ein Euphemismus für Edelsnacks wie Kaviar, Blinis, Austern oder Charcuterie ist, ergänzt um ein paar warme Gerichte.
Da wollte ich mich zurechtfinden, und weil ein Abend nicht reicht, um drei Restaurants zu erleben, hatte ich zwei Reservierungen gemacht. Im Restaurant für das Abendessen, im DNA nach einem Ruhetag fürs Mittagessen.
Aber jetzt wirklich: Ich kam pünktlich, weil ich gern pünktlich bin. Die Menschen, mit denen ich verabredet war, kamen ein bisschen später, weil sie Akademiker sind, ich durfte also an der Bar warten, was ich gern tue, weil ich dann ausprobieren kann, ob mich der Barkeeper für einen Vorarbeiter bei der Müllabfuhr hält, wenn ich als Aperitif keinen Champagner, sondern Bier bestelle. Oft genug habe ich erlebt, dass ich von irgendeinem Milchbart dafür abgesnobbt wurde, aber nicht hier. Ich bekam nicht nur ein sorgfältig gezapftes Pils, sondern ein verständnisvolles Lächeln, und dann kamen auch schon die anderen, und die Vorstellung begann.
Sie begann mit grandiosen Snacks. Die kleinen Tarteletten waren hochkarätige Bastelarbeiten, die man mit einem Biss verschlingt, um ein vielschichtiges Konzert der Aromen und Texturen – Saubohnen, rohe Champignons, Forellenkaviar – am Gaumen zu erleben. Es kam eine wunderschöne Entenleber-Terrine, die wie ein Bahlsen-Keks aus den Träumen von Fritz Eichbauer aussah, gerahmt von Topinambur-Spekulatius mit Rhabarber und einer Pedro-Ximénez-Vinaigrette. Ich fragte mich, wann ich zum letzten Mal ein Menü mit Entenleber begonnen hatte, ich glaube, es ist sehr lang her.
Inzwischen hatten wir auch schon Bekanntschaft mit den Sommeliers gemacht, die uns zugeteilt worden waren und sich als Bekannte herausstellten: Johann Artner zum Beispiel hatte früher bei Heunisch und Erben in Wien gearbeitet, Pit Spanke kannte ich aus dem Seehof der Schellhorns, und weil einer meiner Freunde Winzer ist, gab er noch ein paar Tipps für die Weinbegleitung, sodass diese folgerichtig um ein paar Tipps erweitert wurde.
Später kam dann ein Kaisergranat mit Erbsen, über dem ein transparentes Gelee aus Marillen lag, höchst ansprechend, danach eine einzelne Spargelstange, die von einer bestimmenden Sauce von der Räucherforelle begleitet wurde sowie von gepickelten Zwiebelchen und fermentiertem Bärlauch.
An dieser Stelle war klar, dass Benjamin Chmura, 33, der vor dem Tantris im Restaurant Michel Troisgros in Roanne Küchenchef war, keine Kompromisse macht. Er schreckt – ein dezidierter Bruch mit der Tradition der Hans-Haas-Jahre – nicht vor komplexen Geschmäckern und Präsentationen zurück, feiert die französische Klassik mit der gebotenen Strenge und Präzision, was ihn von der Generation gleichaltriger Küchenchefs abhebt, die anderswo eher entspannt, humorvoll und zugänglich kochen. „Wir hier“, scheint Chmura mit jedem Gang anzusagen, „meinen es ernst.“
Mein Lieblingsgericht war Benjamins ausgelöste Rotbarbe, auf deren Seite sich überlappende Kreise aus Cremen angerichtet waren: Zitronen, Sobrasada und Artischocke, dazu eine herzhafte Bouillabaisse-Sauce.
Ich saß also, habe ich es schon erwähnt?, im Tantris. Allein die von orangen Teppichen ummantelte Anwesenheit an diesem mythischen Ort vermittelte mir ein Gefühl, als säße ich in der zweiten Reihe im Konzerthaus, wenn dort Bob Dylan auftritt, ich meine: Es entspringt einer wundersamen Krümmung im Raum-Zeit-Kontinuum, dass ich jetzt in bester Begleitung an diesem Ort sitze und zusehe, wie er für die nächsten Jahre fit gemacht wird.
Gern hätte ich mich jetzt über die Zukunft der Disziplin unterhalten, die eigentlich Fine-Fine-Dining heißen muss, weil sie mit dieser handwerklichen Kunst und unternehmerischen Entschlossenheit nicht mehr an vielen Orten praktiziert wird. Ich hätte diskutiert, was die Rolle dieses Fine-Fine-Dining sein mag, an wen sie adressiert ist – das Menü kostet immerhin 325 Euro, das sind durchaus Pariser Preise – und ob das Tantris eine neue Runde in der Erziehungsarbeit der Münchner Feinschmecker einläutet.
Außerdem hätte ich gern mein Glas ausgetrunken, aber es kam schon das nächste, und dann kam auch noch etwas zu essen und noch etwas und noch etwas, und ich erinnere mich, dass sowohl das Fleisch von der Taube als auch vom Reh eine geradezu unglaubliche Konsistenz hatte, und nur, als ich später in der Küche den überirdisch freundlichen und sympathischen Küchenchef fragte, ob er das Fleisch etwa sous-vide gegart habe, beobachtete ich in seinem frischen Gesicht so etwas wie Irritation. Selbst.Ver.Ständ.Lich. Nicht. Er nahm mich sogar mit auf eine Exkursion zu seinem prachtvollen Molteni-Gasherd, um mir zu zeigen, wie er Fleisch anzubraten pflegt und wo er es rasten lässt, nämlich mindestens so lange, wie er es gegart hat: dort, wo die Wärme des Ofens noch cosy ist,
aber keine strukturverändernde Kraft mehr verströmt.
Natürlich hätte ich die Gelegenheit auch gern genutzt, um mit Benjamin über den Einfluss seines Vaters Gabriel Chmura zu sprechen, der ein berühmter und erfolgreicher Dirigent gewesen war, ich hätte mir neue, erlebte Zusammenhänge zwischen Geschmack und Musik erhofft, aber dafür war heute keine Zeit mehr. Wir mussten noch ein paar Gläser Wein trinken und genossen die spezifische Tantris-Atmosphäre, die wie der Schlägel einer Glocke zwischen Feierlichkeit und Heiterkeit oszilliert, und ich hoffe nur, dass der Teppich an der Wand unser Gelächter so weit hinunterdimmte, dass auch die anderen Gäste einen spaßigen Abend hatten. Wobei, als ich mich umsah, merkte ich, dass wir einmal mehr dabei waren, den Schlussdienst zu übernehmen, eine Aufgabe, der ich mich immer wieder gern gewachsen zeige.
Am nächsten Tag saß ich mittags in der Goldenen Bar, aß Croque Monsieur und trank Wasser. Ich beobachtete erwachsene Männer in Lederhosen und dachte über den vergangenen Abend nach. Ich hatte ihn genossen, und wenn ich mich implizit darüber beschwere, dass ich zu satt geworden war, muss ich mich an die dicke Lippe erinnern, die ich riskierte, als ich die Frage nach sechs oder acht Gängen beantworten sollte: „Bin ich gekommen, um NICHT zu essen?“
Profitipp: Sechs Gänge bestellen. Ihr werdet nicht hungrig nach Hause gehen. Dann ging
ich ins Haus der Kunst und bewunderte die poetischen Nebelarbeiten von Fujiko Nakaya.
Immer wieder fielen mir beim Warten auf die Nebelschwaden einzelne Geschmäcker aus Benjamins Menü ein. Ich dachte mir: Wenn der Mann einmal zwei, drei Jahre an der Leichtigkeit seines Auftritts gearbeitet hat – damit meine ich nicht Magerkäse, sondern
die kreative Souveränität, die man auch eigenen Stil nennen kann –, dann wird es in Deutschland kaum irgendwo ein interessanteres Restaurant geben.
Ich stellte mir bei dieser Vorstellung die Gretchenfrage, ob ich dann sechs oder acht
Gänge bestellen würde, und wechselte, unzufrieden mit meiner ehrlichen Antwort, ans Ufer des Eisbachs, um ungefähr tausend Surfern beim Bezwingen der Eisbachwelle zuzusehen.
Abends nahm ich im Grapes in der Ledererstraße einen Schluck Wein, den mir Justin Leone einschenkte, der ehemalige Tantris-Sommelier, der hier die Leitung der kleinen, feinen Weinbar übernommen hat. Später stieß, wahrscheinlich nicht ganz zufällig, mein Winzerfreund dazu, sodass ich noch in den Genuss eines Nightcups kam, den ich eigentlich dringend vermeiden wollte, da ich am nächsten Tag wieder ins Tantris zurückkehren würde.
Es empfing mich Mathieu Mermelstein, der nicht nur Chef-Sommelier ist, sondern an diesem Samstag das Außenministerium des Tantris übernahm und mir das Tantris DNA erklärte. Ein reines À-la-carte-Restaurant, wo zwei, drei, maximal vier Gänge ausreichen, um dich satt und glücklich zu machen. Alte französische Koch- und Präsentationskunst, ganze Teile am Wagen, die vor deinen Augen tranchiert werden, eine Demonstration gastgeberischer Fähigkeiten, wie ich sie vielleicht bei Violier erlebt habe oder im Trois Rois in Basel.
Ich machte beim Bestellen keinen Fehler, weil ich keinen Fehler machen wollte (und weil mich Mathieu davor bewahrte): „M-m“, schlug er vor, als ich nach dem Kaviar und den Austern noch einen Zwischengang vor dem Lachs im Blätterteig mit Beurre blanc einlegen wollte. Aber ich machte den Fehler nicht, die Froschschenkel nicht zu bestellen, und sie waren so ansprechend und elegant abgeschmeckt, dass ich vor Freude leise winselte, worüber Mathieu generös hinwegsah.
„Vielleicht noch eine winzige Scheibe Steinbutt mit Champagnersauce?“, fragte Mathieu. Wer bin ich, um so eine Frage abschlägig zu beantworten. Der Steinbutt war übrigens mit Kaviar gesalzen, und zur Champagnersauce gab es einen Schluck Champagner und zum glasigen Lachs im Buchweizenteig trank ich einen ausgesprochen schönen Burgunder.
Es war der Moment, als ich begriff, warum sich dieses Haus einem dialektischen Ansatz verschrieben hat. Das eine Restaurant ist der Hafen, das andere das Schiff. An dem Namen DNA kann man vielleicht noch arbeiten, dachte ich mir, aber dann musste ich mich auf mein Glas konzentrieren, in dem sich noch ein Rest Burgunderwein befand.
Als ich diesen letzten Schluck versenkt hatte, war es halb sechs. Die beste Zeit, in den Englischen Garten zurückzukehren und zu schauen, ob sich irgendwo Mick Jagger versteckt. —
„Andere Leute
lesen Krimis. Wir
lesen Weinkarten.“
Tantris-Gründer Fritz Eichbauer
„Tantris“ bedeutet „Suche nach Vollkommenheit“.
Da haben wir es.