In der Umami-Manufaktur

Fisch und Soja, Kürbisse und Cashewkerne werden hier in den Dienst einer Mission gestellt. Das gemeinsame Ziel: dieser gewisse zusätzliche Wumms im Essen.

Foto von Ingo Pertramer
Text von Thomas Maurer

Der in Österreich aufgewachsene Mensch mittleren Alters wird nicht nur von den global üblichen Umbrüchen und Veränderungen heimgesucht – Klimawandel, Bubble Tea, Wokeness, Robotisierung, K-Pop, TikTok –, sondern muss obendrein noch mit ­einem radikalen kulinarischen Kulturwandel zurechtkommen. Aufgewachsen in einem gastrosophischen Klima, dessen zentraler Leitsatz lautete: „Alles, was auch paniert zubereitet werden kann, ist gefälligst paniert zuzubereiten“, muss er sich jetzt in einer sich radikal wandelnden Fresssphäre zurechtfinden, deren Maxime ­zunehmend lautet: „Alles, was fermentiert werden kann, ist umgehend zu fermentieren.“

Natürlich waren fermentierte Lebensmittel auch traditionell sozialisierten österreichischen Essern nicht unbekannt. Sie haben nur noch nicht so geheißen. Doch als Gateway Drug für die aktuelle Fermentationswelle haben sich weder der Puszta-Salat zum Backhendl noch das Gurkerl in der Leberkässemmel so richtig angeboten.

Und natürlich ist diese Entwicklung keineswegs zu beklagen.
Beziehungsweise muss man sich schon sehr in einem sozusagen wertkonservativen Weltbild verbarrikadiert haben, um aus der ­Tatsache, dass – zum Beispiel – panierter Leberkäs gerade gegen – zum Beispiel – Kimchi an Territorium verliert, so etwas wie den ­Untergang des Abendlandes herauslesen zu können.

Und in ein Phänomen wie dem langsamen, aber konsequenten Comeback der Fischsauce könnte man sogar, wenn man denn unbedingt wollte, eine Art renaissancehafter Rückbesinnung auf die klassische Kultur der Antike herausdeuteln.

Fischsauce, von den Römern Garum bzw. in späteren Jahren Liquamen genannt, war die ubiquitäre Universalwürze des ­Römischen Reichs. Was bedeutet, dass die Bewohner von Vindobona, Lentia und Bilachinium sich das Zeug ebenso selbstverständlich in die Suppe tropften wie ihre Wiener, Linzer und Villacher Nachfahren noch bis vor kurzem Maggis Universalwürze.

Und nicht nur in die Suppe: Bis ins Mittelalter noch kamen kaum ­irgendwelche Rezepte ohne Liquamen aus, auch Süßspeisen erhielten so ihren speziellen Twist; im Weiteren aber scheint dann aus Gründen, über die sich die Gastrohistoriker noch keine einheitliche Meinung gebildet zu haben scheinen, diese kulinarische Allzweckwaffe in unseren Breiten noch vor dem Auerochsen ausgestorben zu sein. Allerdings gab es bei Garum, im Gegensatz zu Maggi, offenbar eine breite Palette an unterschiedlichen Qualitäten; die besten Saucen waren prestigeträchtige, sauteure Luxusprodukte aus hochwertigen Grundprodukten.

Es ist nicht, wie es scheint. Weder gibt hier der Autor dem Koch gute Ezzess, noch ist das rechts im engeren Sinn eine Wurst (unten).

Und damit wären wir auch schon bei Lukas Nagl. Im Bootshaus, seiner bejubelten, im Traunkirchner Hotel Das Traunsee untergebrachten Wirkungsstätte, wird bekanntlich Fisch nur dann serviert, wenn dieser davor auch im vor den Fenstern liegenden Gewässer ­geschwommen ist. Die Traunseefische werden hier aber vom ingeniösen Herrn Nagl nicht nur gesotten, gedämpft, gebraten, gebeizt oder roh verarbeitet, sondern auch – erraten! – fermentiert, und zwar zur vermutlich nicht nur exklusivsten, sondern wohl auch besten Fischsauce, derer man derzeit bei uns so habhaft werden kann. Ob sie auch sauteuer ist, liegt wie so häufig im Auge des Betrachters. Zum einen klingen 16,80 € nicht wie eine Anschaffung, auf die man extra hinsparen muss. Einerseits. Rechnet man aber andererseits die 100 Milliliter, die man dafür erhält, zu Vergleichszwecken auf einen Bouteilleninhalt hoch, so stellt man fest, dass man da schon eine jener Weinflaschen bekäme, die in Selbstbedienungsvinotheken wohlweislich weggesperrt werden. Wiederum andererseits ist so eine Bouteille Wein geschwind einmal ausgetrunken, wogegen wohl noch niemand jemals – auch wenn Herrn Nagls Traunsee-Garum hochelegant und von feinem Duft ist – sonntagabends beim Tatort-schauen nebenbei einen Dreiviertelliter Fischsauce gezwitschert hat. Hergestellt wird das Traunsee-Garum übrigens nicht direkt in der Bootshaus-Küche, sondern in einer nahe gelegenen, derzeit leer stehenden ­Restaurantküche, die als zentraler Stützpunkt einer Kooperation von Lukas Nagl mit zwei hin­gebungsvollen Fermentationsfreaks dient: Der studierte Lebensmittelbiologe Viktor Gruber und die ursprünglich als Goldschmiedin und Industriedesignerin tätige Christine Brameshuber haben privat Gefallen aneinander und beruflich am Brauen ehrgeiziger Fermente gefunden. Unter dem Markennamen Luvi entsteht hier nicht nur Garum, sondern, in weit größeren Mengen, High-End-Shoyus und -Misos, aber auch Salzzitronen und Kojireis. Aber dazu ­später.


Qualität faschiert wird, und zwar nicht nur ohne Kopf und Schwanz – der Kalk der Knochen würde im Zuge der Reaktion die Sauce zu sauer machen –, sondern auch ohne innere Organe. „Spontanvergärung“ wird hier, weil etwas zu unkontrollierbar, nicht gewünscht: „Wenns’d ein Pech hast, leerst dann eine ganze Produktion weg, und das ist einfach nicht leiwand.“ Deshalb wird der Prozess mit einer Zugabe von Kojipilz gestartet, der ist, der anderen Produkte wegen, ja ohnehin bereits im Haus.

Eine zweite, erst seit einem Monat angesetzte Fischsaucen-Charge riecht dann doch deutlich deutlicher. Aber auch hier fischelt nichts, es steigt einem eher ein durchaus fernweherzeugender Hauch Hafen in die Nase.

Trotz des kontrollierten Prozesses werden, auf der Suche nach dem Optimum, immer wieder Zutaten und Fermentationsdauer variiert, wovon wir uns beim Verkosten einiger verschiedener Testvarianten überzeugen können. (Die beste hat übrigens Anklänge von Ananas und Kokos und riecht nach sauberem Fluss.)

Das Ansetzen einer weiteren Charge steht gerade nicht auf dem Plan, ersatzhalber kann ich mich aber beim Zubereiten einer Sojasaucenbasis innerhalb meiner Grenzen nützlich machen.

Käsknöpfle, zubereitet mit der unveränderbaren traditionellen Käsemischung und vorschriftsmäßig mit Röstzwiebeln serviert, aber angereichert mit Mohnmiso, klein gehackter Salzzitrone und Jungzwiebelgrün.

Dazu werden zunächst 32 Kilo Weizen auf Bleche geschaufelt und diese dann im Ofen geröstet, was einen Geruch hervorbringt, den man, mir zumindest, auch als Raumparfum verkaufen könnte. Auf Fertigmalz verzichtet man hier, weil Malz süßer wäre, was, da bei Zuckerabbau Milchsäure entsteht, letztlich die Sauce saurer machen würde.

Weiters werden 32 Kilo Sojabohnen gekocht; ­gegart sind sie etwa doppelt so schwer sein.

Der fertig geröstete Weizen wird dann noch geschrotet, was nicht nur den Duft im Raum intensiviert, sondern ihn auch in den richtigen Zustand versetzt, mit den Sojabohnen vermischt, in Bleche gestrichen, um mit Kojipilz-Myzel versetzt zu werden (wer’s nachmachen will: Koji sojae für helle Sojasauce, Koji oryzae für dunkle).

All das kommt dann in die Fermentationskammer, wo die Mischung bei sensor- und computer­überwachten 30 Grad und 90 % Luftfeuchtigkeit zwei Tage Zeit hat zu fermentieren (wer’s nachmachen will: viel Glück!) und dabei einen intensiven Champignongeruch zu entwickeln.

Im Weiteren wird alles unter Zugabe von 22 Kilo Salz in 125 Liter Wasser gemischt, worauf man eigentlich nur noch rund drei Monate zu warten braucht. Was Gelegenheit gibt, ein paar der Produkte inklusive einiger Experimente zu verkosten.

Ein Ausreißer aus der ansonsten grundsätzlich auf regionale Ausgangsprodukte ausgelegten Produktion ist das Cashew-Miso. Begründung: „Leider geil; und immerhin bio und fairtrade.“ Und dem „Leider geil“ kann man sich nur anschließen. Die nussige Cashew-Süße ist noch deutlich zu schmecken, das Miso schmeckt beinahe nougatig, hat aber daneben ordentlich Salzigkeit und natürlich Umami. Soja- und Reis-Miso punkten mit malzigen Aromen, das experimentelle Miso auf Kakaobohnenbasis mit einer fast schon wütenden Geschmacksintensität: purer Kakao, ungesüßt und mit Salzrand, wie geschaffen dafür, innovationsfreudige Patissiers zu neuen Ufern aufbrechen zu lassen.

Im direkten Vergleich wirkt dann das Kürbiskernmiso beinahe vertraut: Es schmeckt nach Kürbiskern und Miso und deshalb natürlich gut.

Je länger man das Miso übrigens reifen lässt – Viktor Gruber nennt den Prozess anschaulich „Maillard-Reaktion in Zeitlupe“ –, desto mehr treten die speziellen Aromen von z. B. Cashew oder Kürbiskern zugunsten eines intensiveren Umami-Tons in den Hintergrund, weshalb es wichtig ist, das Produkt zum Zeitpunkt der richtigen Balance zu vakuumieren.

Das gilt auch für ein weiteres Produkt, das Kürbiskern-Shoyu, das wie eine Sojasauce hergestellt wird, aber nicht so heißt, weil, wie Viktor Gruber einleuchtend erklärt: „Man kann ja schlecht ,Kürbiskernsojasauce‘ sagen, wenn kein Soja drin ist.“

Überhaupt, so ist nebenbei zu erfahren, ist Kürbiskernpresskuchen mit einem Proteinanteil von annähernd 60 % eine Art Lebensmittel-Champion; Soja liegt bei etwa 40 %, andere Ackerfrüchte liegen bei ungefähr 20 %. Dass dieser Rohstoff in der Regel auf den Acker ausgebracht oder allenfalls verfüttert wird, regt die Luvi-Leute merklich zu verstärktem Nachdenken über weitere Verwendungsmöglichkeiten an.

Aber zunächst bleiben wir einmal bei den kulinarischen Einsatzmöglichkeiten des bereits vorhandenen Sortiments, und weil da wieder einmal ­Probieren über Studieren geht, hat sich Lukas Nagl freundlicherweise bereit erklärt, die Bootshaus-Küche an einem Schließtag gefechtsklar zu machen.

Es versteht sich eigentlich von selbst, dass es immer ein Vergnügen ist, Meistern ihres Fachs bei der Arbeit zuzuschauen; der Erfolg des Konzepts Chef’s Table kann ja auch nicht ausschließlich mit dem Gefühl gesteigerter Wichtigkeit erklärt werden, das aus dem Erlebnis erwächst, zu jener erlauchten Minderheit zu gehören, die in einer Restaurantküche nicht arbeitet, sondern feiert. Gegessen wird, da in der Bootshaus-Küche kein solcher Tisch existiert, zwar nebenan im Restaurant, das offene Küchenkonzept ­erlaubt aber, die Arbeitsschritte in Echtzeit zu verfolgen.

Eröffnet wird mit Brot und Butter, konsequenterweise ist die Butter aber mit hellem Miso abgetrieben. Das hausgemachte Brot ist versetzt mit geröstetem Miso, da bei Versuchen mit der feuchten Variante der Teig sitzengeblieben ist. Das Resultat ist ein Butterbrot, das schmeckt wie ein Butterbrot, nur irgendwie mehr.

Weiters wird der Beweis angetreten, dass auch rustikale Klassiker wie Erdäpfelkas mit einem Schuss Miso deutlich gewinnen und veganes „Schmalz“, kompetent zubereitet (Cashewmiso wie eine Mayonnaise mit Öl aufschlagen, Salz und Knofel dazu, am Schluss Paprika drüber), in der Lage ist, keinen Schmalzbrotwunsch offen zu lassen. Die dazu gereichten Dirndl-„Oliven“ (Früchte mit Pfeffer in Salzlake fermentiert) schmecken naturgemäß nicht nach Olive, aber doch so, dass man sich fragt, wa­rum es das nicht öfter gibt.

Es folgt ein Spinatsalat mit Gerstenmiso, Gerstengoji, Quittenessig und Chilihonig, bei dem die Bassnoten der Fermente eine subtile Basis für den hellen Ton des frischen Grüns liefern.

Der erste Auftritt eines Traunseefisches ist gleich atemberaubend: ein in Würfel geschnittenes Filet von der Forelle, trocken gebeizt mit getrocknetem Koji, Salz, Zucker, angerichtet mit Ingwer, Jungzwiebelgrün, Essigparadeisern und Koriandergrün.

Und während man noch der fantastischen Fischqualität nachsinnt, kommt auch schon der Nachweis auf den Tisch, dass auch Tofu kein Ersatzprodukt sein muss: Dieser hier wurde auf Kürbiskernbasis erzeugt und verbindet sich mit Kürbiskernmiso, Kernöl, Kapuzinerkressekapern, Räucheraal und Ingweröl zu einem rauchig-nussig-feinsäuerlichen Gesamtkunstwerk.
Nicht weniger puristisch perfekt der nächste Gang: kurz über Buchenholz geräucherte Forelle mit Salz und heller Sojasauce, in einer absolut hinreißenden Sauce aus reduzierter Molke, hellem Miso und Dillöl.

Waren die bisherigen Speisen eher darauf ausgerichtet, vertrauten Zutaten vermittels Fermenten unvertraute Bonusaromen mitzugeben, wird es nun hinsichtlich der Hauptzutat exotischer: Tempeh. Für dieses ursprünglich aus Indonesien kommende Lebensmittel werden im Original Soja-, manchmal auch andere Bohnen unter Zugabe von Rhizopus-Pilzkulturen zu einer schnittfesten Masse fermentiert. Lukas Nagl hat Pinienkerne der gleichen Prozedur unterzogen und sie dabei in Wurstform gebracht, die Scheiben in Olivenöl gebraten, mit Schalotte, gehackten Koriandergrünstängeln und ­Limette gewürzt, das alles auf eine Sauce aus Cashewmiso, Erdnussbutter und Ahornsirup gesetzt und ein wenig getrocknete Fichtenwipfel drübergebröselt. Überraschenderweise schmeckt das Gericht nicht nur gut, sondern auch auf merkwürdige Weise vertraut, was der staatlich geprüfte Meister­fotograf Ingo Pertramer dann etwas salopp, aber in der Sache nicht falsch, mit der Formulierung „Best of Hühnerschnitzelsemmel“ zusammenfasst.

Es folgen noch ein 24 Stunden in Gerstenmiso marinierter Stör und ein in Hühnersuppe gekochter Rettich mit Radieschenkimchi und brauner Misobutter, was zur natürlichen Folge hat, dass unter den Essenden niemand mehr „papp“ sagen kann.

Ein Mann wie Lukas Nagl versteht so etwas aber natürlich als Provokation, und deshalb kommt nun doch noch außertourlich ein so recht zum Satt­essen geeignetes Gericht zu Tisch, und natürlich kommt es dann auch noch weg. Es handelt sich dabei um – ich ersuche traditionsbewusste Vorarlberger mit Kreislaufproblemen den nächsten Absatz zu überspringen – Käsknöpfle, zubereitet mit der unveränderbaren traditionellen Käsemischung und vorschriftsmäßig mit Röstzwiebeln serviert, aber angereichert mit Mohnmiso, klein gehackter Salzzitrone und Jungzwiebelgrün. Und – ich ersuche alle traditionsbewussten Vorarlberger, die ungeachtet meiner Warnung weitergelesen haben, inständig um Verzeihung – eine Klasse besser als das Original.
Nachdem wir auch diesen Gang mit eiserner Disziplin bezwungen haben, ist die abschließende gebratene Ananas mit Zotter-Eis und fermentiertem
Kakaobohnenbruch auch keine Herausforderung mehr.

Vielen Dank, Herr Nagl, es war mir nicht nur ein Fest, sondern auch eine Anregung. Ich spiele seither sehr gerne mit meinem Luvi-Sortiment herum. Kaiserschmarren mit Mohnmiso zum Beispiel hat sich als eine Idee erwiesen, die sogar meine Kinder überzeugt. Auch gebe ich beim Pastakochen immer wieder der Versuchung nach – ich hoffe, dieser Artikel wird nie ins Italienische übersetzt –, den abschließenden Schluck Nudelwasser zum Saucebinden noch mit ein wenig Miso zu verrühren. Und ein Schuss Traunsee-Garum boostert ohnehin fast alle würzigen Speisen so verlässlich, dass man sich zügeln muss, um sie nicht irgendwann überall drin zu haben. Aber wem sage ich das. —


Bootshaus
Hotel Das Traunsee Klosterplatz 4
4801 Traunkirchen
www.dastraunsee.at
www.luvifermente.eu