Kleine Schleicher

Heutzutage gehören Schnecken bereits wieder zum Grundrepertoire jeder regional orientierten Wiener Küche. Ganz nach dem Motto „Lieber einen Schneck als gar keinen Speck“.

Text von Andrea Karrer · Illustration von Peter Jani

Schlüpfrige kleine Scheißerchen!“ sagte einst „Pretty Woman“ Julia Roberts, als ihr aus Versehen eine Schnecke quer durchs Restaurant flog. In der Tat ist das Essen von Schnecken nicht ganz unkompliziert. Im Restaurant werden sie daher meist mit einem speziellen Besteck, bestehend aus einem Suppenlöffel, einer besonderen zweizinkigen ­Schneckengabel und einer Zange, serviert. Mit der Zange hält man die Schnecke fest, lässt die Kräuterbutter auf den Löffel laufen und zieht das Schneckenfleisch dann mit der Gabel heraus. Das Fleisch kann man nun entweder pur oder zusammen mit der Kräuterbutter vom Löffel essen. Wer seine Schnecken zu Hause genießt, kann sie alternativ zur Schneckenzange selbstverständlich auch einfach vorsichtig in der Hand halten. Nur auf den Einsatz von Messer und Gabel sollte man generell verzichten, da dabei die Schneckenhäuser sehr leicht zu Bruch gehen können.

Was bei Schneckengerichten wenig bis kein Vergnügen bereitet, ist die Zubereitung von lebenden Tieren. Es ist eine sehr arbeitsintensive und langwierige Prozedur: Zunächst müssen die Tiere einige Tage fasten, um ihren Darm zu reinigen. Dann werden sie in Essigwasser gereinigt, überbrüht, aus dem Gehäuse gezogen, in kaltem Wasser abgeschreckt, von den Eingeweiden befreit, mit Salz von Schleim befreit und mehrfach gewaschen. Im Anschluss gart man sie in Brühe; erst dann sind sie bereit für jegliche Form der weiteren Zubereitung.

Für die typisch französische Variante, Schnecken nach Burgunderart, müssen zusätzlich die Schneckenhäuser gründlich gereinigt werden. Dann werden sie mit einem Stückchen Butter gefüllt, die Schnecken wieder hineingesetzt und die Häuschen mit Kräuterbutter verschlossen. In einer Schneckenpfanne kommen sie für rund eine Viertelstunde zum Überbacken in den Ofen, bis die Butter zu brodeln beginnt, und sollten danach sofort mit Baguette serviert werden.

Da viele diesen großen Aufwand der Zubereitung frischer Schnecken scheuen, werden sie hierzulande meist vorgekocht und gefroren oder in Dosen ange­boten. Neben der wohl bekanntesten französischen Zubereitung lassen sich Schnecken aber selbstverständlich für zahlreiche andere Rezepte verwenden.

Gerd Sievers schrieb vor etwa 14 Jahren ein monumentales Kochbuch zu diesem Thema. Der auf Genuss-Events und Geschmacksschulungen spezialisierte Journalist und Koch überrascht seine Leser mit mehr als 300 (!) verschiedenen Zubereitungsarten für Land- und Meeresschnecken – auch aus Asien, den USA und der Karibik. Die Liste der Gaumenfreuden reicht von knusprigen Schnecken-Kürbistaschen über mit Blutwurst geschmorten Schnecken bis hin zur ­marinierten Conch (Riesenflügelschnecke) und zum Schnecken-Gugelhupf.

„Schnecken haben ein ausgeprägtes Terroir, ja sie sind fast wie Rotwein“, sagt Sievers. „Bei keinem ­anderen Tier kann man den Geschmack über das Futter so beeinflussen. Das macht sie unglaublich vielseitig.“ Füttert man sie mit Wildkräutern, werden sie kräftiger und würzig im Geschmack. Im Mittelalter sollen Mönche Schnecken nur auf Thymian gezüchtet haben, um ihnen so eine besonders feine Note zu geben. Am allerbesten, so meint Sievers, sind aber die echten Weinbergschnecken, die ihren besonderen Geschmack der Tatsache verdanken, dass sie sich an den jungen Weintrieben satt gefressen haben.

Welche Aromen passen denn nun am besten zu diesem Fleisch? „Knoblauch natürlich, Petersilie auch. Thymian und Rosmarin sind klassisch. Fenchel funktioniert super. Ingwer kann toll sein. Oder Orange mit etwas Cointreau, das kommt großartig.“ Und was geht gar nicht? Prompte Antwort: „Überladung.“

Neben der Vielzahl der Rezepte überrascht die Vielfalt der essbaren Schneckenarten: Da gibt es u. a. Aba­lone, Purpurschnecken, Riesenflügelschnecken und Wellhornschnecken (alles Meeresbewohner), die tropischen Achatschnecken und natürlich die klassischen Weinbergschnecken.

„Theoretisch ist eine Fülle von Landschnecken essbar – in Österreich fast alle wilden Arten, die ein Gehäuse ­haben –, praktisch sind drei Schneckenarten kommerziell von Bedeutung: ­Helix pomatia, die Weinbergschnecke (oder Burgunderschnecke, wie sie in Frankreich genannt wird), ist die größte und geschmacksintensivste Schnecke. Sie wächst langsamer als andere Arten und braucht zwei Jahre, um ihr Schlachtgewicht zu erreichen. Cornu aspersum (oder Petit-gris in Frankreich) ist leichter zu halten, wächst schneller und ist daher die häufigste europäische Zuchtschnecke. Durch ihren eleganten Geschmack eignet sie sich hervorragend für die Zubereitung zahlreicher Schneckengerichte, wie beispielsweise dem Wiener Schneckenragout und den Wiener Schnecken in Balsamicozwiebeln“, schwärmt Andreas Gugumuck. Gugumuck züchtet in Wien Weinbergschnecken. Er war in der Computerbranche tätig, ehe er 2008 auf den Familienhof in Rothneusiedl zurückkehrte und dort ein Geschäft aufzog, das wohl nur Franzosen nicht absonderlich finden.

Wien war ja einmal für Schnecken, was Paris für Austern ist. Das lag wohl an der Wiener Erde, auf der ja auch der Wein gedeiht. Und – wie schon erwähnt – was Reben mögen, bekommt zugleich den Weinbergschnecken, daher auch ihr Name. Außerdem war die Stadt sehr katholisch und vermögend. Es wurde also ausgiebig gefastet, mit allem, was delikat war, aber nach Kirchendekret kein Fleisch: mit Hummer, Austern, Krebsen und eben auch mit Schnecken. „Besser ein Schneck als gar kein Speck“, sagte man sich. Im 19. Jahrhundert gab es am Petersplatz im 1. Bezirk einen Schneckenmarkt, der jahrelang Hunderttausende der Weichtiere umschlug. Oft wurden sie gleich gegessen, mit Sauerkraut oder gezuckert als eine Art Bonbon.

Sonderfall Abalone

Ein besonderes Schicksal mussten die Abalone, auf Deutsch Seeohren, erleiden. Schon vor 4.000 Jahren klaubten die Ureinwohner Südafrikas sie aus dem Meer und aßen sie. Damals gab es Abalone hier noch massenhaft. Vor der Küste am Kap der Guten Hoffnung fanden sie perfekte Lebensbedingungen vor: klares warmes Wasser, viel Nahrung, kaum Feinde – und unzählige Felsen zum Festsaugen. Bis zu 30 Zentimeter groß werden die Schnecken, zwei Kilo schwer und im Schnitt 30 Jahre alt – wenn man sie wachsen lässt. Denn weil so viele abgeerntet werden, bleiben die Tiere jung und mickrig. Heute sind Aba­lone weltweit viel kleiner als früher. Eine ganze Art schrumpft. Der Wildbestand verringert sich dramatisch, einige der rund 75 Arten stehen heute auf der Roten Liste. Neben der Überfischung vermuten Meeresbiologen die Übersäuerung der Meere und die globale Erwärmung als Gründe dafür. Auch wenn es in einigen Ländern strikte Fang­beschränkungen gibt, ist illegaler Fang weltweit stark verbreitet. In erster Linie wohl, weil die ­Seeohren ein sehr hochpreisiges und nachgefragtes Produkt sind. Die teuren Schnecken sind vor allem in Fernost gefragt. Ihr weiches, aber bissfestes Fleisch wird gekocht, gegrillt oder roh als Sashimi aufgeschnitten. Seit einigen Jahrzehnten ist die Nachfrage in Asien um ein Vielfaches höher, als die eigene Fischerei dort ­decken kann. Die Chinesen als Hauptverbraucher versuchen, andernorts an ihre Schnecken zu gelangen. Mitte der 1990er-Jahre entdeckten sie ein fernes Land, vor dessen Küste massenweise große Abalone im Meer zu finden waren: Südafrika. Lange Zeit war der Abalone-Fang in Südafrika erlaubt. Damals gab es auf dem Meeresboden pro Quadratmeter bis zu 50 Abalone-Schnecken. Mit dem asiatischen Abalone-Boom wurden die Quoten und Fangzeiten immer weiter eingeschränkt – bis wild lebende Abalone 2008 komplett unter Schutz und ihr Fang unter Strafe gestellt wurden. Das Verbot förderte die Wilderei, denn Hunderte kleine Fischereibetriebe lebten vom Abalone-Fang und machten wegen der unstillbaren Nachfrage einfach weiter. Viele von ihnen ver­stehen gar nicht, warum der Abalone-Fang heute verboten ist – er war es ja ­früher auch nicht. Und, es ist verlockend: Ein Taucher verdient in einer Nacht mehr als ein Polizist in einem Monat. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und die Überfischung hat den Fischern ihre Lebensgrundlage genommen. Oft handeln die Fischer die Schnecken im Austausch gegen Drogen. Die teure Schnecke ist längst nicht mehr das Glück der Küstengemeinden, sondern ihr Verderben.

Die Nachfrage nach Abalonen ist aber so groß, dass sie nun auch gezielt gezüchtet werden. Seit einigen Jahren sind die ersten spanischen Zuchtabalonen auf dem Markt, vorerst nur in der Region vor der Küste Galiciens.

Toskanisches Schneckenragout mit Staudensellerie
Rezept von Gert Sievers
Zutaten für 4 Portionen
48 küchenfertige Weinbergschnecken (oder 1 ½ kg kleine Lumache di terra, noch geschlossen)
4 Schalotten
3 Knoblauchzehen
1 Peperoncino
125 g Lardo
1 kleine Karotte, geschält
bestes Olivenöl
1 EL Petersilie, grob gehackt
400 g Tomaten, geschält, grob gehackt
1–2 EL gutes Tomatenmark
300 ml Rotwein
1 Rosmarin- oder Thymianzweig
1 Lorbeerblatt
12 Stangen Staudensellerie, geputzt und
in 2–3 cm lange Stücke geschnitten
Salz, Pfeffer aus der Mühle
einige Schnitzer Parmesan und Petersilie zum Garnieren

Zubereitung
Schalotten sowie Knoblauch schälen, anschließend zusammen mit Peperoncino fein hacken. Lardo und Karotte in kleine Würfel schneiden. Zuerst den Lardo in einem großen Topf in Olivenöl glasig anrösten, ­anschließend Knoblauch, Schalotten, Peperoncino, Karottenwürfel und Petersilie dazugeben, leicht durchrösten lassen; mit Grappa ablöschen, diesen ­einkochen lassen. Tomaten, Tomatenmark, Rotwein, Rosmarin und Lorbeerblatt beifügen, aufkochen ­lassen und zugedeckt bei geringer Hitze 30–45 Minuten ­kochen lassen.
Deckel abnehmen (jetzt die frischen Lumache di terra-Schnecken untermengen) und das Ragout ­offen weitere 30 Minuten bei geringer Hitze etwas ein­kochen lassen.
Zuletzt Stangensellerie beifügen. Wichtig: Die ­küchenfertigen Weinbergschnecken werden erst jetzt in das Ragout gegeben.
Weitere 10–15 Minuten bei geringer Hitze kochen lassen. Hinweis: Staudensellerie darf nicht zu weich werden.
Das Ragout mit Salz und Pfeffer abschmecken, auf vorgewärmten Tellern anrichten und sofort mit ­Parmesanschnitzen und Petersilie bestreut servieren.
Toskanabrot dazureichen.