Mit scharf, ohne Sauce

Kebap ist überall. Aber nicht überall gleich.

Foto von Ingo Pertramer
Text von Thomas Maurer

Der Kutschkermarkt in Wien-Währing ist, neben dem Leopoldstädter Karmelitermarkt, so etwas wie der Idealtypus gediegenster, bio-affiner Genussbürgerlichkeit. Selbst dem Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer, der kürzlich in Kamerabegleitung den Ottakringer Brunnenmarkt aufsuchte und, angestrengt aber erfolglos, versuchte, diesen etwa so wirken zu lassen wie die komplett in ein dystopisches Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher umgewandelte Insel Manhattan im klassischen John-Carpenter-Thriller Die Klapperschlange, fiele es hier wohl auch unter Aufbietung aller Autosuggestionskräfte schwer, sich unsicher und überfremdet zu fühlen.

Obwohl natürlich auch die Standeln des Kutschkermarkts, so wie die aller Wiener Märkte, überwiegend von engagierten Kleinunternehmern mit diversen Migrationshintergründen betrieben werden. Das liegt wohl vor allem daran, dass es bis vor etwa fünfzehn Jahren alles andere als eine sogenannte gemähte Wiese war, hier unternehmerisch tätig zu werden. Den Wiener Märkten ging es allgemein nicht sonderlich rosig, der Kutschkermarkt schrumpfte kontinuierlich vor sich hin, und in der lange wie ein uneinnehmbares ÖVP-Bollwerk erscheinenden Bezirksvertretung – mittlerweile wird Währing grün verwaltet – kam immer wieder die Idee auf, den Markt doch überhaupt aufzulassen und durch – erraten! − Parkplätze zu ersetzen.

Das zentrale Antriebsaggregat für eine Veränderung zum Positiven war wohl die mittlerweile in Pension gegangene Irene Pöhl (verwandt, aber nicht geschäftlich verflochten mit Pöhl am Naschmarkt; ihr Delikatessenstand wird mittlerweile von Florian und Ines Mayr auf höchstem Niveau weitergeführt). Frau Pöhl fand einige Mitstreiter für ihr Anliegen, den Markt nach außen als gemeinsame Marke und nicht als eine Ansammlung zufällig zusammengewürfelter Standeln zu präsentieren, und so wurden die „Genusspfade“ aus der Taufe gehoben, Tage, wo man sich für faires Geld durchs Gesamtangebot probieren konnte. Und dass man Kunden mit Empfehlungen zu anderen Ständen schickte war sowieso Ehrensache.

Der samstägliche Bauernmarkt entwickelte sich obendrein zu einem ausgesprochenen Publikumsmagneten, und so wurde aus dem Kutschkermarkt, was er heute ist: ein kleines, überschaubares Eldorado für alle, die in der glücklichen Lage sind, ihre Wertschätzung für erstklassige Ware mit einem überdurchschnittlich hohen Lebensmittelbudget kombinieren zu können. Und sogar eine Erweiterung steht an: Ab Herbst soll der reguläre Markt um vier und der Bauernmarkt sogar um zwölf Stände erweitert werden.

Als Hüseyin Tanis 2006 seinen Geflügel- und Kebapstand eröffnete, zeichnete sich diese Entwicklung noch keineswegs ab. Der Stand selbst war ein zehn Jahre altes besseres Provisorium und erfüllte sogar seine Kernaufgabe als Schutz vor Wind und Wetter nur bei sehr großzügiger Auslegung dieses Begriffs. „Das war ganz anders“, erzählt Hüseyin, „der Stand war nicht zu heizen, im Winter ist mir alles eingefroren, Salat, Joghurtsauce, Zwiebeln, Tomaten, alles. Zwei Jacken waren Minimum.“ (Mittlerweile ist der Stand, auch dank der kostenlosen Mithilfe eines befreundeten Architekten, nicht nur funktional und heizbar, sondern auch recht schmuck. Sogar für zwei Tische zum Vor-Ort-Verzehr hat sich Platz gefunden.)

Hüseyins Biografie ist, inklusive allem, was daran untypisch ist, ziemlich typisch für einen Marktunternehmer seines Alters und Hintergrunds. Geboren wurde er 1982 in Zentralanatolien, in einem kleinen Dorf. „Mein Opa hatte noch einen kleinen Bauernhof mit Kühen, Schafen und Weizen. Käse und Joghurt waren selbst gemacht, das Brot selbst gebacken. Die Tiere haben Namen gehabt. Aber diese Art von Leben ist vorbei, so wie in Österreich auch.“ Die Eltern übersiedelten mit ihm im Alter von drei Jahren nach Istanbul, der großelterliche Bauernhof bleibt aber das Sommerferiendomizil und prägt seinen Qualitätsanspruch an Lebensmittel bis heute. Nach Abschluss der Handelsschule begann er, Wirtschaft zu studieren, parallel verliebte er sich in der Türkei in eine Türkin, jedoch in eine aus Wien. „Den Bachelor habe ich dann schon in Österreich abgeschlossen, per Fernstudium.“

Solchermaßen qualifiziert, trat er dann seinen ersten Job an: erraten, ­Lagerarbeiter bei Zielpunkt. „Aber das war nicht schlecht“, sagt er. „Dort habe ich einmal Deutsch gelernt.“ Es folgt ein Gastspiel beim Saucenproduzenten Spak („Da war ich Mayonnaisemeister“) und ein weiteres, deutlich ausbildungsnäheres, als Marketingmanager im Stahlgroßhandel. Daneben half er im Geschäft der Schwiegereltern aus, die am Hannovermarkt einen – erraten – Kebap- und Geflügelstand betrieben. „Dort habe ich schon ganz gut das Handwerk gelernt. Und irgendwann habe ich angefangen, mich um etwas Eigenes um­zuschauen. Und der 18. Bezirk war damals eine Zone fast ohne Kebap. Aber es hat klein angefangen, damals habe ich jeden Tag drei oder vier Kilo Kebap gemacht, heute sind es, je nach Jahreszeit, bis über 30.“

Aber nicht nur die Menge, sondern auch das Angebot ist seither bemerkenswert gewachsen: Gab es zunächst nur Hühner, Eier und Kebap, so kamen im Weiteren – „Immer auf Nachfrage von Kunden“ – Lamm und Rind dazu, und im Zuge dessen schein Hüseyin, nun ja, Blut geleckt zu haben. Heute ist Tanis Weltmeister Kebap ein absoluter Hotspot für anspruchsvolle Fleischtiger, zumindest solange man kein Schwein will. (Servicetipp: Die Fleischerei Bauer am Kutschkermarkt hilft in diesem Fall gern mit Freilandware aus eigener Produktion aus.) Es gibt neben Lamm und Geflügel aller Art auch Wild der Saison, vor allem aber hat sich Hüseyin auf Rind spezialisiert, und da noch einmal extra auf Steak.

Ein Kebapstand ist vielleicht nicht der Ort, an dem man mit gleich mehreren Sorten Wagyu rechnet, aber hier ist das nun einmal definitiv so. Flankiert übrigens von spanischem Txogitxu, öster­reichischer alter Kuh, zigfach preisgekrönter US-amerikanischer Ware („Jack’s Creek“) und klas­sischer Bistecca alla Fiorentina, wahlweise von Chianina- oder Madame-Biance-Rindern. Die Preisgestaltung trägt dazu bei, dass einem hier auch als klimabewusstem Flexitarier schon einmal Hand und Geldbörse auskommen können. Natürlich ist nichts davon billig, aber doch entschieden defensiv kalkuliert. Sagen wir es so: Hier kann man sehr günstig sehr viel Geld ausgeben. Man kann aber auch wirklich günstig gut essen. Bisher (Stand Juli 2023) hat man auf die Inflation überwiegend mit Schmälern der Marge reagiert: 4,50 Euro sind ein mehr als fairer Preis für ein gekonnt gemachtes Kebap-Sandwich aus erstklassigen Zutaten. Dazu gleich noch Näheres, zuvor aber noch ein kleiner Exkurs über Kebap.

Es steht wohl außer Frage, dass Kebap der erfolgreichste kulinarische Exportartikel der Türkei ist und in puncto Erfolg mittlerweile in der Liga Hamburger und Pizza spielt. Doch während er hierzulande meist als eine Art warme Wurstsemmel ­betrachtet und verzehrt wird, genießt er in seiner Heimat einen hohen und identitätsstiftenden Status. Aufgekommen vermutlich im 17. Jahrhundert in der Stadt Kastamonu am Schwarzen Meer, machte er seinen Weg über Bursa (wo eine gewisse Familie Iskender einer Variante ihren Namen gab) ins ganze Osmanische Reich. Heute, so erzählt Hüseyin Tanis, habe jede der 81 türkischen Städte eine eigene Kebapvariante, natürlich jede die beste.

Merkwürdigerweise scheint der Kebap aber als Streetfood in Istanbul erst in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts Fuß gefasst zu haben. Doch als dann ab den Sechzigerjahren gezielt Türken als Arbeitskräfte für ganz Westeuropa angeworben wurden, hat flächendeckend die Stunde des Kebap geschlagen. Es versteht sich von selbst, dass Hüseyins Kebap nichts mit den industriell gefertigten, entfernt an monströse Mortadella erinnernden und fixfertig gelieferten Fleischwalzen zu tun hat, die, landesweit und viel zu häufig, auf den Kebapspießen zu sehen sind.

Verwendet werden ausschließlich Biohühner aus Freilandhaltung (samstags gibt’s auch Lammkebap), die vom Meister persönlich ausgelöst und dann – mit einem deutlich höheren Haxl- denn Brustanteil – zwei Tage lang mariniert werden. Und zwar mit Joghurt, Salz und schwarzem Pfeffer, ein wenig geriebener Karotte, einem Hauch frischer Minze und ordentlich rotem Paprikapulver, um dann frühmorgens – und in diesem Fall mit meiner, na ja, Unterstützung – kunstfertig auf den Drehspieß aufgezogen zu ­werden.

Hüseyin legt nicht nur auf die Zutaten, sondern auch auf die äußere Form Wert: „Wir fangen unten klein an, dann spießt du das Fleisch in der Mitte auf. Aber dann, nach oben hin, werden wir langsam größer. Wie eine umgedrehte Pyramide. Und dabei drauf achten, dass das Ganze viereckig wird. Wegschneiden, was drüberhängt, auf den Spieß legen und dann wieder mit einem größeren Stück festmachen.“ Parallel dazu beginnt ein Mitarbeiter, das Brot zu backen, kleine Fladen aus Germteig, der am Vorabend in der Teigmaschine angerührt und über Nacht zum Gehen ins Kühlhaus gestellt wird, in den Varianten mit Sesam, Schwarzkümmel und mit Ohne.

Als der Kebap dann ausreichend viereckig und pyramidenförmig ist, um den Ansprüchen des Hauses Genüge zu tun, wird er am Grill fixiert und dieser dann angeworfen. Und da der Grill eine ordentliche Hitze produziert, steigt schon wenig später ein trotz der frühen Stunde sehr verführerischer Duft auf; vielleicht sollte man überhaupt öfter einmal Kebap frühstücken.

Aber vor den Verzehr haben die Götter das Kebapmesser gesetzt, das mir Hüseyin nun, nach ein paar von ihm ausgeführten Demonstrationsschnitten, enttäuschend unzeremoniell reicht. Wichtig ist, so viel habe ich mitbekommen, die Klinge ziemlich parallel zur Schnittfläche zu führen, um nicht zu dicke Stücke abzusäbeln und sie dabei in einem ungefähren 45-Grad-Winkel zur Horizontalen zu halten, um zügig und effizient schneiden zu können. Das wäre weiter kein Problem, wäre nicht der Grill so verteufelt heiß, dass man unwillkürlich doch ­­ das Messer irgendwie blöd anders hält und so Kebapstücke produziert, die ihrer edlen rechteckigen und ­pyramidenförmigen Abkunft nicht wirklich gerecht werden.

Hüseyin lädt, so zartfühlend wie geistesgegenwärtig, den staatlich geprüften Meisterfotografen Ingo Pertramer und mich ein, doch kurz Platz zu nehmen, während er die Sandwiches schnell fertigmacht. „Wie wollt ihr sie haben?“, fragt er, was wir mit „So, wie du das isst“ beantworten. Das bedeute aber, erwidert er, ohne Joghurtsauce. Seine ­Joghurtsauce sei zwar tadellos, hausgemacht, Ehrensache, aber er persönlich finde, dass sie sich geschmacklich ein bisschen zu sehr in den Vordergrund dränge.

Kebap-Sandwich à la Hüseyin geht so: „Nicht zu viel Fleisch, aber auch nicht knausern. Scharf aufs Fleisch, Zwiebel, Tomate, fertig. Und gleichmäßig verteilen, damit nicht hinten das Fleisch ist und der Rest vorn.“ Und so essen wir dann gemeinsam ein nicht spektakulär extravagantes, aber richtig gutes Kebap-Sandwich. „Als ich ein Kind war in Istanbul“, sagt Hüseyin, „da war ein Kebap-Sandwich etwas ganz Besonderes, ganz Seltenes.“ Und wie hält er es heute mit dem Verzehr? Er lacht. „Heute? Heute esse ich jeden Tag einen Kebap. Jeden Tag.“ —

Hüseyin Tanis: nicht nur Herr der Hühner, auch Hüter herrlicher Steaks