Schön aufgeblättert

Nach dem Croissant ist vor der Sflogliatella, zu Deutsch ­„Aufgeblätterte“. Die dreieckigen, muschelförmigen Plundertaschen mit variantenreicher Füllung stammen ursprünglich von der Amalfiküste und sind das neue angesagte Süßgebäck zwischen Neapel und Österreich.

Text von Eva Biringer/Fotos Shutterstock, GettyImages

Das Originalrezept enthält reichlich Schweineschmalz. Nachdem die vielen, vielen Schichten Strudelteig mit Ricotta, Hartweizengrieß und Zitronenzeste gefüllt und kunstvoll verrollt ­werden, bestreicht man sie mit dem, was lange Zeit sowieso da war, dem ausgelassenen Fett ­geschlachteter Nutztiere. So unromantisch das klingt, dienten Sfogliatelle in erster Linie zur Resteverwertung. „Mit Butter verfeinertes Gebäck gab es früher eigentlich nur im Norden Italiens, dort, wo auch Kühe gehalten wurden“, erklärt Christoph Bob, Chefkoch des eineinhalb Autostunden südlich von Neapel gelegenen Monastero Santa Rosa. An einem mediterran-warmen Herbstvormittag sitzt er auf der Terrasse mit Blick auf die historischen Klostermauern, hinter denen sein Restaurant unter­gebracht ist, während hinter ihm das Meer glitzert wie ein Windows-Bildschirmschoner„Auch die Verwendung von Ricotta ist kein Zufall, sondern eine praktische Weiterverwertung jener Milch, die bei der Mozzarellaherstellung anfällt. Und das Ganze mit ­Zitrone zu verfeinern, ist hier an der Amalfiküste nun mal sehr naheliegend.“ Dass an diesem sehr besonderen Ort noch heute eine über dreihundert Jahre alte Spezialität gebacken wird, ist erstens der Italienliebe einer texanischen Unternehmerin zu verdanken und zweitens den geschickten Händen eines schweigsamen Patissiers.

Die Amalfiküste ist der Inbegriff nordeuropäischer Dolce-Vita-Sehnsucht, auch jetzt noch Ende Oktober (für die Einheimischen hingegen hat pünktlich zum 1. September der Winter begonnen, den sie mit Pelzmantel, Daunenjacke und dem Abschied der ­Bikinifigur begehen). Hingewürfelte Panoramablickvillen, Küstenstraßen, wie gemacht für Sportwagen- oder Vespatouren (gefühlt wurde jeder zweite James Bond hier gedreht), das hoch­karätige Glitzern des Mittelmeers. Vier Kilometer von jenem Ort entfernt, welcher der Küste ihren Namen gibt, ragt ein sandsteinfarbenes Gebäude von einer Klippe herab. Erbaut wurde das Monastero Santa Rosa 1681 mit dem Geld einer reichen Familie, die ihre erstgeborene Tochter namens Rosa Pandolfi, wie damals üblich, der Kirche übergab. Ora et labora lautete das lustfeindliche Lebensmotto der dort lebenden Nonnen: Beten, die Arbeit in Klostergarten und Küche, und dabei bloß nicht ins Blickfeld irgend­eines Mannes geraten, weswegen selbst der vom Kloster zur Kapelle führende Gang vergittert war. Nach dem Tod der letzten Dominikanernonne im Jahr 1912 drohte das im Ort Conca dei Marini ­gelegene Anwesen zu verfallen. 2000 entdeckte es die frisch verwitwete US-Amerikanerin Bianca Sharma von Bord eines Kreuzfahrtschiffs aus, ­beschloss, es zu kaufen und daraus ein Luxushotel zu machen. Schon das klingt wie ausgedacht, aber es kommt noch doller: Während der zwölf Jahre währenden Bauarbeiten tauchte das Originalrezept eines in ganz Italien beliebten Gebäcks auf. Und zwar versteckt in einer unter Schutt begra­benen Schreibtischschublade, als italienische Abschrift, weil das Original lateinisch war.

Sfogliatelle, zu Deutsch „Aufgeblätterte“, sind dreieckige, muschelförmige Plundertaschen, deren Herstellung nicht nur ähnlich aufwendig aussieht wie die eines Croissants, sondern es auch ist. Zwei Arten gibt es, jene aus Strudelteig (riccia) und eine Variante mit Mürbteig (frolla). Man findet sie in Bars und Pasticcerie in ganz Italien, vor allem jedoch im Süden des Landes. Der Legende nach mischten die Nonnen von Santa Rosa zu Beginn des 18. Jahrhunderts den vom Brotbacken übrig gebliebenen Teig mit Zucker, Schmalz und selbst gekeltertem Weißwein der autochthonen Sorte San Nicola. Die einen sagen, um damit die Magenbeschwerden der Oberin zu lindern, die anderen, als Snack für die beschwerliche Feldarbeit. Nicht nur den Nonnen schmeckte das Ergebnis, sondern auch den Dorfbewohnern, weswegen sich daraus ein florierendes Tauschgeschäft ergab: Fleisch und Gemüse gegen Gebäck; und zwar mithilfe eines drehbaren Holzzylinders, schließlich mussten die Nonnen bei der Übergabe ja ungesehen bleiben.

Wie die Spezialität vom Kloster aus erst in die umliegenden Orte, dann nach Neapel und schließlich ins ganze Land gelangte, ist unklar. Für Bianca Sharma, die längst ihren Zweitwohnsitz an die Amalfiküste verlegt hatte, stand jedenfalls ­außer Frage, dass ihre Gäste von diesem schönen Zufallsfund, sprich dem Originalrezept, profitieren sollten. Und so kommt es, dass Tag für Tag sechzig Sfogliatelle den Weg auf die Teller der rund vierzig Hotelgäste finden. „Klassischerweise isst man sie zum Frühstück, je frischer, desto besser“, erklärt Christoph Bob, während er einen Cappuccino bestellt und dann zu den vor ihm stehenden Gebäckstücken greift. Der Fünfzigjährige mit der auffallend angenehmen Stimme hat seit 2012 die Leitung des mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Hotelrestaurants Il Refettorio inne. Zuvor kochte er unter anderem in Rom bei Heinz Beck und bei Alain Ducasse im Pariser Plaza Athénée. Während sich Österreicher zwischen Käse-, Wurst- und Marmeladensemmeln entscheiden, frühstückt man in Italien klassischerweise süß. Cornetti mit Crema- oder Pistazienfüllung, Biscotti und anderes Kleingebäck sowie Sfogliatelle, die schon mal faustgroße Ausmaße annehmen können. Ganz anders hier, im Monastero Santa Rosa. Kaum fünf Zentimeter sind sie lang, umhüllt von unzähligen Schichten Teig, mit einer Füllung aus Grieß, Zimt, Zucker, kandierter Zitrone und Ricotta, der im nahegelegenen Agerola produziert wird. Garniert wird das Ganze mit Staubzucker, Crème pâtissière und einer kandierten Kirsche. Ohne diese Extras gingen die Sfogliatelle beinahe als herzhaft durch. Wobei die Tradition, wie Bob zu bedenken gibt, in dieser Hinsicht eher großzügig ausgelegt werde. „Unwahrscheinlich, dass die Nonnen damals die Zutaten für eine Vanillecreme hatten, ebenso wenig Staubzucker. Die kandierte Kirsche hingegen halte ich für wahrscheinlich, weil diese hier in der Re­gion wuchs und sich gut einwecken ließ. Ehrlich gesagt, bin ich nicht mal sicher, ob es sich beim Original um einen Strudel- oder nicht doch eher einen Mürbteig, also ,frolla‘, handelte.“

Übung macht den Meister: „In einer halben Stunde schaffe ich vielleicht fünf Stück, und die sind nicht besonders fotogen“, gesteht Chefkoch Christoph Bob. Foto GettyImages

Auch die Muschelform ist wohl ein Produkt nachträglicher Patissierkunst. Wahrscheinlich kam damals im Kloster eine einzige große Sfogliatella auf den Tisch, von der sich alle ein Stück abschnitten. Die Sache mit dem Teigkneten, -rollen, -auffächern und -füllen – es handelt sich übrigens nicht wie erwartet um einen Blätter-, sondern einen fett- und eifreien Strudelteig – ist ja auch so schon kompliziert genug. Zunächst wird er gewalkt, einige Stunden ruhen gelassen, dann in Schichten gezogen, so dünn, dass man durch schauen kann, was am einfachsten mit Hilfe einer Nudelmaschine gelingt. Anschließend wird er mit Fett bestrichen und Schicht für Schicht aufgerollt. Nach weiteren zwanzig Stunden Ruhezeit wird der Teig portionsweise zur typischen Form aufgeblättert, gefüllt und schließlich gebacken. „In einer halben Stunde schaffe ich vielleicht fünf Stück, und die sind nicht besonders fotogen“, gesteht der im deutschen Braunschweig geborene Bob. Lieber überlässt er diese Tätigkeit daher seinem Patissier Francesco Todisco, einem zurückhaltenden Mann mit beinahe schwarzen Augen, die wirken, als würde er die Sonne wegblinzeln. Nach einem schüchternen Händeschütteln verschwindet er wieder in der Küche.

Zeit für eine Kostprobe. Beim Hineinbeißen splittert der Teig wie tausend kleine Raketen, bevor die Zunge auf eine grobgrießige Frischkäsemasse mit hintersinnigem Orangenaroma trifft. Der zweite Bissen beinhaltet die nur leicht gesüßte Vanillecreme, der dritte die marzipanartige Sirupkirsche. Ganz im Gegensatz zum Großteil dessen, was in italienischen Pasticcerie ausliegt, bekommt man hier nicht schon vom Ansehen Karies. Eine nicht nur in der Optik, sondern auch im Geschmack raffinierte Angelegenheit. Delizioso! Eine Sfogliatella geräuschlos zu essen, ist übrigens genauso unmöglich wie krümelfrei, ganz im Gegenteil bürgt die Sauerei für dieselbe Qualität wie bei einem Pariser Croissant.

Die Wiener Autorin Sarah Satt lässt in ihrem Roman Miss en Place die Hauptfigur angesichts der Erinnerung an eine Sfogliatella ähnlich ins Schwärmen geraten wie Proust bei seiner Madeleine: „Als unter dem raschelnden Papier großzügig mit Puderzucker bestäubte Teigschichten zum Vorschein kommen, wechselt mein Herz von Adagio auf Allegro. […] Während der zarte Fächer unter meinen Zähnen nachgibt und darunter die üppig-cremige Vanille-Fülle in seinem Inneren zum Vorschein kommt, überkommt mich eine vertraute Euphorie, die sich seit einiger Zeit rar gemacht hatte.“ Dass die Romanheldin Sofia Sabato diesen Genuss auch in der österreichischen Hauptstadt erleben kann, ist Realität: Viele Cafés und auch Feinkostläden haben Sfogliatelle im Programm (siehe Kasten).

Aber, Mamma mia: Wie alle Spezialitäten mit jahrhundertealter Historie wird auch diese bisweilen mit Füßen getreten. Während im nur wenige Küstenkurven vom Monastero San Rosa entfernten Amalfi bei Andrea Pansa immerhin noch handwerklich gefertigte Exemplare in der Glasvitrine liegen, handelt es sich in den umliegenden Touristencafés oftmals um Industrieware, völlig gleichförmig und viel zu süß. Manche verpassen ihren handtellergroßen Ungetümen sogar, Schreck lass nach, eine Schlagobershaube. Auch in Neapel sollte man genau hinschauen, bevor man es krachen lässt. Am besten, man geht zur unweit des Hauptbahnhofs gelegenen Bäckerei Forno Attanasio, wo neben ofenwarmen Sfogliatelle auch die zweite Spezialität der Region, der mit Rum getränkte Hefenapfkuchen Babà, mustergültig zubereitet wird.

Abschließende Frage einer Vegetarierin an den deutschen Koch: Wie ist das denn nun mit dem Strutto, dem Schweineschmalz? Keine Sorge, beruhigt Bob, sein Kollege Francesco Todisco verwende stattdessen hochwertige Butter. Immer gut, wenn Traditionen großzügig ausgelegt werden, oder in den Worten von Christoph Bob: „Schwein gehabt.“

An der Amalfiküste


Pasticceria Pansa Amalfi
Piazza Duomo, 40, 84011 Amalfi

Antico Forno delle Sfogliatelle
Calde Fratelli Attanasi
Vico Ferrovia, 1-2-3-4, 80142 Neapel


In Österreich


Super Mari
Leopoldsgasse 22, 1020 Wien
Sechs Stück liefert die Patisserie Dolce Pensiero täglich in die Nachbarschaftsgreißlerei im zweiten Bezirk. Manchmal sind sie schon morgens um neun Uhr weggekauft. Im Vergleich zum süditalienischen Original wirken diese riesig, dafür fehlen Kirsch- und Vanillecremetopping. Aber köstlich sind sie.

Casa Caria
Lindengasse 53, 1070 Wien
Die Tagesbar im siebten Bezirk bezieht ihre Sfogliatelle von einem Bäcker in Neapel und backt sie dann auf, wer Glück hat, isst sie also ofenwarm.

Barbarella – Specialitá siciliane
Lerchenfelder Straße 16, 1080 Wien
Sizilianer betreiben dieses Feinkostgeschäft mit angeschlossener Konditorei. Die Sfogliatelle schmecken trotzdem wie das kampanische Original.

Monte Ofelio
Schottenbastei 2, 1010 Wien
Streng genommen handelt es sich bei den hier servierten filigranen Backwerken nicht um Sfogliatelle, sondern um Coda d’aragosta, zu Deutsch Hummerschwänze. Statt mit Ricotta werden sie mit Crema pasticcera und Pistaziencreme gefüllt.

La Spiga Take Away
Lerchenfelder Straße 70, 1080 Wien
Schräg gegenüber der Pizzeria La Spiga haben die Betreiber eine Patisserie eröffnet. Neben Babà, Canolo und Co umfasst das Sortiment auch Sfogliatelle.

Pizzeria al taglio JOLLY
Franz-Josef-Str. 16A, 5020 Salzburg
Der Name täuscht: Neben Pizza in allen Variationen widmen sich die Besitzer mit Hingabe auch italienischen Desserts.

La Pausa
Kiebachgasse 11, 6020 Innsbruck
Un bar Italiano con il cuore Napolitano, eine Bar mit italienischem Herz. Klar, dass zu einem entsprechenden Frühstück neben Passalacqua-­Kaffee auch Sfogliatelle gehören.

Non Solo Vino
Bischofstraße 15, 4020 Linz
Die Betreiberin der Linzer Greißlerei Non Solo Vino reist regelmäßig an die Amalfiküste, kulinarische Weiterbildung sozusagen. Entsprechend kreativ ist Birgit Massimilla-Kern mit den Füllungen ihrer Sfogliatelle.