Snack fürs Herz

Fastfood ist keine Erfindung des Westens. Die chinesische Küche kennt schnelle Snacks seit über tausend Jahren – und in Asiens kulinarischer Metropole Hongkong werden sie in höchster Vollendung serviert: Dim Sum – was wörtlich als „kleine Herzwärmer“ zu übersetzen ist.

Snack fürs Herz

Text von Nicole Schmidt


Fotos von Heimo Aga

Es sind nur wenige Stufen, die von der schmalen Wellington Street im Herzen Hongkongs hinauf ins Lin Heung Tea House führen, doch sie beamen den Besucher in die Vergangenheit: Die Welt der glitzernden Shoppingmalls und kühnen Wolkenkratzer bleibt draußen, in dem Riesensaal mit den großen runden Tischen und den surrenden Ventilatoren, die träge an der Decke kreisen, hat sich seit den dreißiger Jahren nichts Wesentliches verändert. Hier lebt noch das alte Hongkong. Alte Frauen in weiten Hosen und Mao-Jacken, hinter überdimensionalen Tageszeitungen verschwindende alte Männer. Keine „Langnase“ weit und breit. Gesprochen wird ausschließlich kantonesisch. Das Publikum ist bunt gemischt, Alte und Junge, chinesisch, westlich, ärmlich, gutbürgerlich Gekleidete, eine scheinbar klassenlose Vielfalt in einer Atmosphäre von liebenswertem Grind. Viele kommen täglich hierher, allein, um sich zu unterhalten, Tee zu trinken, Zeitung zu lesen – und vor allem um Dim Sum zu essen, jene kleinen gefüllten Teigtaschen, -rollen und -knödel, für die die kantonesische Küche berühmt ist und die in der ehemaligen Kronkolonie in besonderer Vielfalt und Qualität zu finden sind.

Das Lin Heung ist schon am frühen Vormittag zum Bersten voll. Angestellte mit großen Metallkannen zwängen sich zwischen hungrigen Neuankömmlingen auf der Suche nach einem freien Sessel durch den Raum, um an den einzelnen Tischen heißes Wasser für den Tee nachzugießen. Trotz lautem Stimmengewirr, Geschirrgeklapper und Großkantinenatmosphäre hat das Lokal etwas Heimeliges – sofern man nicht an Klaustrophobie leidet und davon überzeugt ist, dass die Tischnachbarn ihre Stäbchen und Schalen vor dem Essen nur deshalb in einer mit etwas Tee gefüllten Schüssel schwenken, um Geschirr anzuwärmen – und nicht etwa deshalb, weil sie den Abwäschern in der Küche misstrauen

Serviert werden Dim Sum hier noch nach traditioneller Art, wobei „serviert“ nicht ganz das richtige Wort ist. Die Speisen in den dampfenden Bambuskörbchen werden auf Servierwägen zu schwindelerregenden Türmen aufgestapelt und durch den Gastraum gerollt: gedämpfte Teigtaschen, gefüllt mit kleingehacktem Schweinefleisch, Garnelen und Gemüse, gebratene Reisteigrollen, Hefeteigknödel mit einem Kern aus Grillfleisch; und da Dim Sum keineswegs nur Teigtaschen umfassen, gibt’s auch gedämpfte Hühnerfüße, marinierte Entenmägen oder Fish Maw-Ragout mit Hühnerstückchen. Kenner beginnen mit den gedämpften Sorten, bevor sie sich den schweren, frittierten Speisen zuwenden.

Um die Wägen drängen sich die Hungrigen, schließlich will man nicht riskieren, dass ausgerechnet die Teigtaschen mit Schweinefleisch und Leber oder die süßen Knödel mit Lotos-Mus aus sind, bevor der Speisentrolley in die Nähe des eigenen Tisches kommt (strategisch stellt man sich am besten möglichst nahe der Küchentüre auf, durch die die vollen Wägen in den Speisesaal geschoben werden). Die Serviererinnen lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, stoisch teilen sie die Körbchen aus, allerdings erst, nachdem sie den postkartengroßen Menüzettel des Gastes abgestempelt haben. Ohne Zettel kein Stempel und ohne Stempel kein Essen (und ohne kantonesische Sprachkenntnisse eine halbe Stunde „Lehrzeit“ mit knurrendem Magen, bis man das Prozedere durchschaut hat).

In der engen Küche des Lin Heung fertigt Dim Sum-Meister Wong seit vier Uhr morgens Teigtäschchen im Akkord. Auf der Holzarbeitsplatte steht die Fülle aus Schweinefleisch, Garnelen und Bambussprossen in einer Metallschüssel bereit, daneben ein Kloß Teig aus Reismehl, von dem der Meister daumennagelgroße Stücke abreißt, die er mit einem spachtelartigen Teigmesser zu flachen Kreisen drückt; zwischendurch wird das Messer immer wieder über ein mit Öl getränktes Stoffstück gestrichen, damit der Teig nicht kleben bleibt. Anschließend wird jedes Teigblatt mit Fülle belegt, zusammengeklappt und – schnell wie im Zeitraffer – mit wenigen Handgriffen zu identischen Täschchen gefältelt, die jeweils zu fünft in ein mit gelochtem Backpapier ausgelegtes Bambuskörbchen wandern, in dem sie je nach Größe fünf bis zehn Minuten gedämpft -werden. Tägliche Produktion: 3.000 Körbchen.

Was so mühelos aussieht, hat im ungeübten Selbstversuch seine Tücken: Der Teig klebt auf dem Tisch und auf allen zehn Fingern, nur nicht zusammen; die Fülle quillt heraus, und die Form der Teigtasche erinnert nicht an einen ordentlich gefältelten Halbmond, sondern an ein auf den Fußboden gefallenes Grießnockerl. Vielleicht war ja auch das Mehl zu fein oder zu grob gemahlen, der Teig zu feucht oder die Tischplattentemperatur zu hoch. Der Germteig für die kugelförmigen, mit gehacktem und gegrilltem Schweinefleisch gefüllten Klößchen (Buns) wird im Gegensatz zum frühmorgens fabrizierten Reismehlteig bereits am Vortag hergestellt und in nussgroße Stücke geteilt, die mit dem Handrücken halbflach gedrückt, gefüllt und zu kleinen Knödeln geformt werden.

Meister Wong arbeitet seit über vier Jahrzehnten im Lin Heung. Die Rezepte hätten sich im Prinzip kaum verändert, erzählt er in einer kurzen Arbeitspause, in letzter Zeit werde allerdings weniger Öl verwendet, weil immer mehr Gäste gesünder und weniger fett essen wollen. Das Geheimnis perfekter Dim Sum hat er von seinem Meister gelernt – in jahrelangem Learning by doing. Dass er täglich um drei Uhr früh aufstehen muss, hat ihn nie gestört. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt er, „nur was man aus vollstem Herzen macht, gelingt wirklich.“

Die das Herz berühren“, lautet auch die gängigste Übersetzung für Dim Sum, es kann aber auch „mit dem Herzen“, also mit Liebe gemacht, bedeuten. „Im Herzen berührt“ sei seinerzeit jedenfalls der chinesische Kaiser gewesen, berichtet die Chronik, als man ihm erstmals kleine gefüllte Teigtaschen servierte. Der kulinarisch gelangweilte Herrscher hatte seinen Köchen mit Hinrichtung gedroht, wenn sie sich nicht täglich neue Kreationen einfallen ließen. Es war also weniger kulinarische Kreativität als Verzweiflung, die einen der Köche eines Tages dazu bewog, für das zweite Frühstück des Kaisers Anleihe bei den Speisen des einfachen Volkes zu nehmen und Reste von Huhn, Fisch, Fleisch und Gemüse in Teigtäschchen zu füllen.

Dim Sum sind untrennbar mit Teetrinken verbunden, und der chinesische Ausdruck dafür, Yum Cha, wird oft als Synonym verwendet. Dabei wurden ursprünglich in Chinas Teehäusern überhaupt keine Speisen serviert, weil angeblich gemeinsam mit Tee genossenes Essen unverhältnismäßig dick mache; erst als im 10. Jahrhundert ein Arzt mit dieser Mär aufräumte und nachwies, dass Tee vielmehr „den Gaumen reinige“ und gut für die Verdauung sei, begann man, kleine, in Teig gehüllte Speisen zu servieren. Der Überlieferung nach füllte ein Arzt auch Heilkräuter in Teigtaschen, damit seine Patienten diese leichter kochen und verzehren konnten.

Das „chinesische Fastfood“ war geboren und der Siegeszug der über Kanton in die ganze Welt verbreiteten Teigtaschen dauert bis heute an. Dim Sum werden vor allem zum Frühstück, Brunch oder Mittagessen verzehrt, und es gibt kaum eine Zutat, die nicht schon in Teig gehüllt gedämpft, gebraten oder frittiert wurde: Fleisch und Innereien, Fisch und Meeresfrüchte, Gemüse, Tofu und Pilze, aber auch Austern, Gänseleber oder Froschschenkel. Feinspitze mischen feinst gewiegten Speck unter die traditionelle Krabbenfülle, wickeln die Teigtaschen vor dem Garen in Algen oder mischen ein wenig Algensaft in den Teig. Auch in süßen Variationen kommt Dim Sum auf den Tisch, gefüllt mit Eicremepudding, Nüssen, Wasserkastanien oder Bohnenpaste. Eher ungewöhnlich ist die „Fülle“ einer Teigtasche im aus Shanghai „zugewanderten“ Nanxiang Steamed Bun Restaurant: heiße Suppe. Eine Spezialität, die nur mit Anleitung brandblasenfrei zu verzehren ist: Mit den Essstäbchen vorsichtig aus dem Körbchen nehmen, in die Schale mit Reisessig tauchen, den chinesischen Porzellanlöffel als „Zwischenparkplatz“ nützen, die oberste Spitze des Teiges vorsichtig anbeißen und – noch vorsichtiger – die brennheiße Suppe schlürfen. (Ähnliches gab’s vor rund eineinhalb Jahrzehnten bei Ferran Adrià, allerdings in mundgerechter kleinerer Ausführung und auf einem Löffel serviert.)

Auch die Formenvielfalt kennt wenige Grenzen – rund und eckig, gerollt, drapiert, gefältelt. In der alten Kaiserstadt Xian, berühmt geworden durch die Terracottasoldaten-Armee, werden Dim Sum in Form von Schwalben, Hähnen, Gänsen und Blüten angeboten. Und Frau Shin Pi Mei Wang Rong, Dim Sum-Meisterin im Nanxiang Steamed Bun Restaurant, belehrte uns, dass jede ihrer Teigtaschen exakt 24 Falten haben muss.

In einfachen Imbissstuben oder Teehäusern beschränkt sich die Auswahl meist auf ein halbes Dutzend „klassische“ Täschchen, wie Har Gau (mit Garnelen), Siu Mai (oben offen, mit Schweinefleisch und Garnelen) oder kleine Hefeteigknödel mit gegrilltem Schweinefleisch (Char Siu Bao). Dazu gibt’s gebratenen Kuchen aus Taro, der geschmacklich zwischen Maroni und Kartoffel angesiedelten Wasserbrotwurzel, gedämpften Rübenkuchen, den Reisbrei Congee und die für westliche Gaumen gewöhnungsbedürftigen Phoenix Claws, gebratene und in Sojasauce, Knoblauch, Chili und Ingwer marinierte und schließlich gedämpfte Hühnerfüße.

Essen und Essen gehen haben in Hongkong und in ganz China einen besonders hohen Stellenwert. Nicht umsonst bedeutet der gängigste Mittagsgruß übersetzt „Hast du schon gegessen?“. Auf Schritt und Tritt locken Kioske, Stände, Garküchen, Nudelshops, Teehäuser und Restaurants. Natürlich sind hier alle Küchen der Welt vertreten, schon rein geografisch hat aber die kantonesische die Oberhand und die „kleinen Köstlichkeiten“ namens Dim Sum eine besondere Tradition. Mit seinem Angebot in jeder Preisklasse geht Hongkong gut und gern als „Hauptstadt des Dim Sum“ durch – von der billigen Imbissstube, in der ab sechs Uhr früh deftige Schweinefleisch-Dim-Sum serviert werden, über unzählige Restaurants, in denen man um die Mittagszeit ohne mindestens eine Stunde in der Warteschlange nicht einmal einen Stehplatz bekommt, bis hinauf zum 3-Sterne-Dim-Sum-Menü – wobei hinauf im wahrsten Sinne des Wortes gemeint ist: Das elegante Tin Lung Heen liegt im 102. Stock des ICC-Wolkenkratzers und gehört zum Ritz-Carlton Hotel. Das in den Farben Rot, Schwarz und Terracotta gehaltene Restaurant präsentiert sich als moderner Asia-Tempel des Genusses, nennt sich stolz „höchstes Dim Sum-Lokal der Welt“ und besticht nicht nur mit der atemberaubenden Aussicht, sondern auch mit einem äußerst elaborierten Dim Sum-Menü.

In puncto Fingerfertigkeit besteht wenig Unterschied zwischen Herrn Wong vom Lin Heung Teahouse und dem ebenfalls auf jahrzehntelange Erfahrung zurückblickenden Meister Leung Tsang Hoi in der edelstahlblitzenden Küche des Ritz-Carlton. In blütenweißer Uniform bereitet er gerade Golden shrimp dumplings mit Bambussprossen und Spargel zu, eines seiner „signature dishes“: Blitzschnell streicht er ein Teigstück auf Millimeterdicke aus, legt Fülle darauf, klappt es zusammen und legt die Ränder in wie mit dem Zirkel abgemessene gleichmäßige Falten. Am Ende schneidet er den oberen Teigrand mit einer Schere gerade. Es folgt eine Sternstunde für den Gaumen, als wenige Minuten später die „goldenen“ Teigtaschen auf edlem Porzellan serviert werden. Die Menükarte umfasst über zwei Dutzend verschiedene Dim Sum, von denen neben dem Golden Dumpling die von Kabeljaurogen gekrönten Gemüse-Krabben-Täschchen, die gebackenen Schweinefleischklößchen mit Mandelkruste und der Baked abalone and roasted goose puff zu den kulinarischen Highlights zählen: eine Symphonie aus knusprigem Mürbteig, fein gewiegtem gebratenen Gänsefleisch und Abalone, der ebenso begehrten wie teuren Meeresschnecke. Dass die Desserts – vom delikaten Milchpudding mit schwarzer Trüffel über die geeiste Mangocreme mit Sago und Pomelo bis zu den traditionellen Eicremetörtchen – die Gaumenfreuden fortsetzen, versteht sich fast schon von selbst.

Weniger elegant, dafür umso lebhafter geht’s im Choi Fook Royal Banquet in Causeway Bay zu. Der enorme Speisesaal im 9. Stock ist, wie das volkstümlichere Lin Heung Teahouse, ebenfalls weitgehend touristen- und langnasenfrei. Die Gruppe um die Qigong-Lehrerin Hui Yuen Pik hat, wie jeden Morgen, den großen Tisch links hinten an der Fensterfront -besetzt. Täglich um halb acht Uhr früh treffen sie sich im nahen Victoria Park, um zu Klängen aus dem Kofferradio bei Qigong- und Tai Chi-Übungen Kraft zu sammeln, Seele und Lunge durchzulüften. Der tägliche Morgensport ist für sie ebenso Ritual wie das anschließende Dim Sum-Frühstück. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, Serviererinnen in dunkler Uniform stellen Speise um Speise auf die in der Mitte des runden Tisches montierte drehbare Glasplatte: schlichten Congee und Pak Choi-Gemüse neben knusprige Frühlingsrollen, chinesische Omelettes mit Frühlingszwiebeln und gebratene Hühnerfüße in Hoisinsauce zwischen Taro-Kuchen und gedämpfte Reisteigrollen mit Schweinefleisch. Dazu Tee in verschiedenen Sorten: Jasmin-, Schwarz- und Grüntee. Es wird geplaudert und gelacht, die Damen legen einander gegenseitig Leckerbissen in die Schalen, reichen die Sojasauce im Kreis und „prosten“ einander mit Tee zu.

Dim Sum gehören in Hongkong zur ersten Hälfte des Tages wie der 5-Uhr-Tee zum traditionellen Nachmittagsritual der Briten. Man muss mit den Vergleichen ja nicht so weit gehen wie die Welt am Sonntag, die Dim Sum einmal „die Weißwurst Asiens“ nannte, denn sie werde auch vorwiegend vormittags verzehrt und sei ebenfalls außen fest und innen weich

Adressen

Lin Heung Tea House
Traditionelles Teehaus aus den 20er Jahren, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint; Dim Sum-Angebot vom Servierwagen, günstige Preise, keine englische Speisekarte.
160–164 Wellington Street, Central

Tin Lung Heen
3-Sterne-Restaurant mit ebensolchem Dim Sum-Angebot und atemberaubender Aussicht im 102. Stock eines 490 Meter hohen Wolkenkratzers. Dim Sum gibt’s nur mittags, unbedingt rechtzeitig reservieren!
Ritz-Carlton Hotel, International Commerce Centre, 1 Austin Road West, Kowloon

Luk Yu Tea House
Die Erwähnung in fast jedem Reiseführer hat das Luk Yu zu Hongkongs berühmtestem Teehaus gemacht und diese Berühmtheit spiegelt sich auch im Selbstbewusstsein der Türsteher und Kellner wider. Asiatisch inspiriertes Art déco-Ambiente aus den 30er Jahren und klassisches Dim Sum-Angebot, englische Speisekarte, gehobene Preise.
24–26 Stanley Street, Central

One Dim Sum
Das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete kleine Lokal nahe der U-Bahn-Station Prince Edward hat Platz für rund 40 Personen, um die Mittagszeit warten rund doppelt so viele vor dem Lokal. Man zieht eine Nummer, die Wartezeit verkürzt man sich am besten mit dem Studieren der Speisekarte (auch in Englisch), auf der das Gewünschte angekreuzt wird. Zu trinken gibt es ausschließlich Tee, die Preise sind moderat.
Kenwood Mansion, 15, Playing Field Road, Mongkok, Kowloon

Choi Fook Royal Banquet
Großer Speisesaal und authentisches Dim Sum-Angebot nahe dem Victoria Park; kaum Touristen, keine englische Speisekarte.
Windsor House, 9. Stock, 311 Gloucester Road, Causeway Bay

Dimdimsum Dimsum Specialty Store
Kleines, einfaches Lokal mit jungem Publikum und sehr gutem, sehr preisgünstigem Dim Sum-Angebot; hier gibt’s ausschließlich Dim Sum und das den ganzen Tag über, also auch abends!
23 Man Ying Street, Jordan, Kowloon

Nanxiang Steamed Bun Restaurant
Hübsches Restaurant mit ausgezeichnetem Angebot an Teigtaschen auf Shanghai-Art; die Speisekarte (auch in Englisch) umfasst rund 70 Sorten. Unbedingt probieren: die mit heißer Suppe gefüllten dumplings, die knusprigen Frühlingsrollen mit Fischfülle und die Teigtäschchen mit Krabbenkaviar.
Shops 305–8, 3. Stock, Causeway Bay Plaza 1

Snack fürs Herz

Text von Nicole Schmidt

Fotos von Heimo Aga

Es sind nur wenige Stufen, die von der schmalen Wellington Street im Herzen Hongkongs hinauf ins Lin Heung Tea House führen, doch sie beamen den Besucher in die Vergangenheit: Die Welt der glitzernden Shoppingmalls und kühnen Wolkenkratzer bleibt draußen, in dem Riesensaal mit den großen runden Tischen und den surrenden Ventilatoren, die träge an der Decke kreisen, hat sich seit den dreißiger Jahren nichts Wesentliches verändert. Hier lebt noch das alte Hongkong. Alte Frauen in weiten Hosen und Mao-Jacken, hinter überdimensionalen Tageszeitungen verschwindende alte Männer. Keine „Langnase“ weit und breit. Gesprochen wird ausschließlich kantonesisch. Das Publikum ist bunt gemischt, Alte und Junge, chinesisch, westlich, ärmlich, gutbürgerlich Gekleidete, eine scheinbar klassenlose Vielfalt in einer Atmosphäre von liebenswertem Grind. Viele kommen täglich hierher, allein, um sich zu unterhalten, Tee zu trinken, Zeitung zu lesen – und vor allem um Dim Sum zu essen, jene kleinen gefüllten Teigtaschen, -rollen und -knödel, für die die kantonesische Küche berühmt ist und die in der ehemaligen Kronkolonie in besonderer Vielfalt und Qualität zu finden sind.

Das Lin Heung ist schon am frühen Vormittag zum Bersten voll. Angestellte mit großen Metallkannen zwängen sich zwischen hungrigen Neuankömmlingen auf der Suche nach einem freien Sessel durch den Raum, um an den einzelnen Tischen heißes Wasser für den Tee nachzugießen. Trotz lautem Stimmengewirr, Geschirrgeklapper und Großkantinenatmosphäre hat das Lokal etwas Heimeliges – sofern man nicht an Klaustrophobie leidet und davon überzeugt ist, dass die Tischnachbarn ihre Stäbchen und Schalen vor dem Essen nur deshalb in einer mit etwas Tee gefüllten Schüssel schwenken, um Geschirr anzuwärmen – und nicht etwa deshalb, weil sie den Abwäschern in der Küche misstrauen

Serviert werden Dim Sum hier noch nach traditioneller Art, wobei „serviert“ nicht ganz das richtige Wort ist. Die Speisen in den dampfenden Bambuskörbchen werden auf Servierwägen zu schwindelerregenden Türmen aufgestapelt und durch den Gastraum gerollt: gedämpfte Teigtaschen, gefüllt mit kleingehacktem Schweinefleisch, Garnelen und Gemüse, gebratene Reisteigrollen, Hefeteigknödel mit einem Kern aus Grillfleisch; und da Dim Sum keineswegs nur Teigtaschen umfassen, gibt’s auch gedämpfte Hühnerfüße, marinierte Entenmägen oder Fish Maw-Ragout mit Hühnerstückchen. Kenner beginnen mit den gedämpften Sorten, bevor sie sich den schweren, frittierten Speisen zuwenden.

Um die Wägen drängen sich die Hungrigen, schließlich will man nicht riskieren, dass ausgerechnet die Teigtaschen mit Schweinefleisch und Leber oder die süßen Knödel mit Lotos-Mus aus sind, bevor der Speisentrolley in die Nähe des eigenen Tisches kommt (strategisch stellt man sich am besten möglichst nahe der Küchentüre auf, durch die die vollen Wägen in den Speisesaal geschoben werden). Die Serviererinnen lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, stoisch teilen sie die Körbchen aus, allerdings erst, nachdem sie den postkartengroßen Menüzettel des Gastes abgestempelt haben. Ohne Zettel kein Stempel und ohne Stempel kein Essen (und ohne kantonesische Sprachkenntnisse eine halbe Stunde „Lehrzeit“ mit knurrendem Magen, bis man das Prozedere durchschaut hat).

In der engen Küche des Lin Heung fertigt Dim Sum-Meister Wong seit vier Uhr morgens Teigtäschchen im Akkord. Auf der Holzarbeitsplatte steht die Fülle aus Schweinefleisch, Garnelen und Bambussprossen in einer Metallschüssel bereit, daneben ein Kloß Teig aus Reismehl, von dem der Meister daumennagelgroße Stücke abreißt, die er mit einem spachtelartigen Teigmesser zu flachen Kreisen drückt; zwischendurch wird das Messer immer wieder über ein mit Öl getränktes Stoffstück gestrichen, damit der Teig nicht kleben bleibt. Anschließend wird jedes Teigblatt mit Fülle belegt, zusammengeklappt und – schnell wie im Zeitraffer – mit wenigen Handgriffen zu identischen Täschchen gefältelt, die jeweils zu fünft in ein mit gelochtem Backpapier ausgelegtes Bambuskörbchen wandern, in dem sie je nach Größe fünf bis zehn Minuten gedämpft -werden. Tägliche Produktion: 3.000 Körbchen.

Was so mühelos aussieht, hat im ungeübten Selbstversuch seine Tücken: Der Teig klebt auf dem Tisch und auf allen zehn Fingern, nur nicht zusammen; die Fülle quillt heraus, und die Form der Teigtasche erinnert nicht an einen ordentlich gefältelten Halbmond, sondern an ein auf den Fußboden gefallenes Grießnockerl. Vielleicht war ja auch das Mehl zu fein oder zu grob gemahlen, der Teig zu feucht oder die Tischplattentemperatur zu hoch. Der Germteig für die kugelförmigen, mit gehacktem und gegrilltem Schweinefleisch gefüllten Klößchen (Buns) wird im Gegensatz zum frühmorgens fabrizierten Reismehlteig bereits am Vortag hergestellt und in nussgroße Stücke geteilt, die mit dem Handrücken halbflach gedrückt, gefüllt und zu kleinen Knödeln geformt werden.

Meister Wong arbeitet seit über vier Jahrzehnten im Lin Heung. Die Rezepte hätten sich im Prinzip kaum verändert, erzählt er in einer kurzen Arbeitspause, in letzter Zeit werde allerdings weniger Öl verwendet, weil immer mehr Gäste gesünder und weniger fett essen wollen. Das Geheimnis perfekter Dim Sum hat er von seinem Meister gelernt – in jahrelangem Learning by doing. Dass er täglich um drei Uhr früh aufstehen muss, hat ihn nie gestört. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt er, „nur was man aus vollstem Herzen macht, gelingt wirklich.“

Die das Herz berühren“, lautet auch die gängigste Übersetzung für Dim Sum, es kann aber auch „mit dem Herzen“, also mit Liebe gemacht, bedeuten. „Im Herzen berührt“ sei seinerzeit jedenfalls der chinesische Kaiser gewesen, berichtet die Chronik, als man ihm erstmals kleine gefüllte Teigtaschen servierte. Der kulinarisch gelangweilte Herrscher hatte seinen Köchen mit Hinrichtung gedroht, wenn sie sich nicht täglich neue Kreationen einfallen ließen. Es war also weniger kulinarische Kreativität als Verzweiflung, die einen der Köche eines Tages dazu bewog, für das zweite Frühstück des Kaisers Anleihe bei den Speisen des einfachen Volkes zu nehmen und Reste von Huhn, Fisch, Fleisch und Gemüse in Teigtäschchen zu füllen.

Dim Sum sind untrennbar mit Teetrinken verbunden, und der chinesische Ausdruck dafür, Yum Cha, wird oft als Synonym verwendet. Dabei wurden ursprünglich in Chinas Teehäusern überhaupt keine Speisen serviert, weil angeblich gemeinsam mit Tee genossenes Essen unverhältnismäßig dick mache; erst als im 10. Jahrhundert ein Arzt mit dieser Mär aufräumte und nachwies, dass Tee vielmehr „den Gaumen reinige“ und gut für die Verdauung sei, begann man, kleine, in Teig gehüllte Speisen zu servieren. Der Überlieferung nach füllte ein Arzt auch Heilkräuter in Teigtaschen, damit seine Patienten diese leichter kochen und verzehren konnten.

Das „chinesische Fastfood“ war geboren und der Siegeszug der über Kanton in die ganze Welt verbreiteten Teigtaschen dauert bis heute an. Dim Sum werden vor allem zum Frühstück, Brunch oder Mittagessen verzehrt, und es gibt kaum eine Zutat, die nicht schon in Teig gehüllt gedämpft, gebraten oder frittiert wurde: Fleisch und Innereien, Fisch und Meeresfrüchte, Gemüse, Tofu und Pilze, aber auch Austern, Gänseleber oder Froschschenkel. Feinspitze mischen feinst gewiegten Speck unter die traditionelle Krabbenfülle, wickeln die Teigtaschen vor dem Garen in Algen oder mischen ein wenig Algensaft in den Teig. Auch in süßen Variationen kommt Dim Sum auf den Tisch, gefüllt mit Eicremepudding, Nüssen, Wasserkastanien oder Bohnenpaste. Eher ungewöhnlich ist die „Fülle“ einer Teigtasche im aus Shanghai „zugewanderten“ Nanxiang Steamed Bun Restaurant: heiße Suppe. Eine Spezialität, die nur mit Anleitung brandblasenfrei zu verzehren ist: Mit den Essstäbchen vorsichtig aus dem Körbchen nehmen, in die Schale mit Reisessig tauchen, den chinesischen Porzellanlöffel als „Zwischenparkplatz“ nützen, die oberste Spitze des Teiges vorsichtig anbeißen und – noch vorsichtiger – die brennheiße Suppe schlürfen. (Ähnliches gab’s vor rund eineinhalb Jahrzehnten bei Ferran Adrià, allerdings in mundgerechter kleinerer Ausführung und auf einem Löffel serviert.)

Auch die Formenvielfalt kennt wenige Grenzen – rund und eckig, gerollt, drapiert, gefältelt. In der alten Kaiserstadt Xian, berühmt geworden durch die Terracottasoldaten-Armee, werden Dim Sum in Form von Schwalben, Hähnen, Gänsen und Blüten angeboten. Und Frau Shin Pi Mei Wang Rong, Dim Sum-Meisterin im Nanxiang Steamed Bun Restaurant, belehrte uns, dass jede ihrer Teigtaschen exakt 24 Falten haben muss.

In einfachen Imbissstuben oder Teehäusern beschränkt sich die Auswahl meist auf ein halbes Dutzend „klassische“ Täschchen, wie Har Gau (mit Garnelen), Siu Mai (oben offen, mit Schweinefleisch und Garnelen) oder kleine Hefeteigknödel mit gegrilltem Schweinefleisch (Char Siu Bao). Dazu gibt’s gebratenen Kuchen aus Taro, der geschmacklich zwischen Maroni und Kartoffel angesiedelten Wasserbrotwurzel, gedämpften Rübenkuchen, den Reisbrei Congee und die für westliche Gaumen gewöhnungsbedürftigen Phoenix Claws, gebratene und in Sojasauce, Knoblauch, Chili und Ingwer marinierte und schließlich gedämpfte Hühnerfüße.

Essen und Essen gehen haben in Hongkong und in ganz China einen besonders hohen Stellenwert. Nicht umsonst bedeutet der gängigste Mittagsgruß übersetzt „Hast du schon gegessen?“. Auf Schritt und Tritt locken Kioske, Stände, Garküchen, Nudelshops, Teehäuser und Restaurants. Natürlich sind hier alle Küchen der Welt vertreten, schon rein geografisch hat aber die kantonesische die Oberhand und die „kleinen Köstlichkeiten“ namens Dim Sum eine besondere Tradition. Mit seinem Angebot in jeder Preisklasse geht Hongkong gut und gern als „Hauptstadt des Dim Sum“ durch – von der billigen Imbissstube, in der ab sechs Uhr früh deftige Schweinefleisch-Dim-Sum serviert werden, über unzählige Restaurants, in denen man um die Mittagszeit ohne mindestens eine Stunde in der Warteschlange nicht einmal einen Stehplatz bekommt, bis hinauf zum 3-Sterne-Dim-Sum-Menü – wobei hinauf im wahrsten Sinne des Wortes gemeint ist: Das elegante Tin Lung Heen liegt im 102. Stock des ICC-Wolkenkratzers und gehört zum Ritz-Carlton Hotel. Das in den Farben Rot, Schwarz und Terracotta gehaltene Restaurant präsentiert sich als moderner Asia-Tempel des Genusses, nennt sich stolz „höchstes Dim Sum-Lokal der Welt“ und besticht nicht nur mit der atemberaubenden Aussicht, sondern auch mit einem äußerst elaborierten Dim Sum-Menü.

In puncto Fingerfertigkeit besteht wenig Unterschied zwischen Herrn Wong vom Lin Heung Teahouse und dem ebenfalls auf jahrzehntelange Erfahrung zurückblickenden Meister Leung Tsang Hoi in der edelstahlblitzenden Küche des Ritz-Carlton. In blütenweißer Uniform bereitet er gerade Golden shrimp dumplings mit Bambussprossen und Spargel zu, eines seiner „signature dishes“: Blitzschnell streicht er ein Teigstück auf Millimeterdicke aus, legt Fülle darauf, klappt es zusammen und legt die Ränder in wie mit dem Zirkel abgemessene gleichmäßige Falten. Am Ende schneidet er den oberen Teigrand mit einer Schere gerade. Es folgt eine Sternstunde für den Gaumen, als wenige Minuten später die „goldenen“ Teigtaschen auf edlem Porzellan serviert werden. Die Menükarte umfasst über zwei Dutzend verschiedene Dim Sum, von denen neben dem Golden Dumpling die von Kabeljaurogen gekrönten Gemüse-Krabben-Täschchen, die gebackenen Schweinefleischklößchen mit Mandelkruste und der Baked abalone and roasted goose puff zu den kulinarischen Highlights zählen: eine Symphonie aus knusprigem Mürbteig, fein gewiegtem gebratenen Gänsefleisch und Abalone, der ebenso begehrten wie teuren Meeresschnecke. Dass die Desserts – vom delikaten Milchpudding mit schwarzer Trüffel über die geeiste Mangocreme mit Sago und Pomelo bis zu den traditionellen Eicremetörtchen – die Gaumenfreuden fortsetzen, versteht sich fast schon von selbst.

Weniger elegant, dafür umso lebhafter geht’s im Choi Fook Royal Banquet in Causeway Bay zu. Der enorme Speisesaal im 9. Stock ist, wie das volkstümlichere Lin Heung Teahouse, ebenfalls weitgehend touristen- und langnasenfrei. Die Gruppe um die Qigong-Lehrerin Hui Yuen Pik hat, wie jeden Morgen, den großen Tisch links hinten an der Fensterfront -besetzt. Täglich um halb acht Uhr früh treffen sie sich im nahen Victoria Park, um zu Klängen aus dem Kofferradio bei Qigong- und Tai Chi-Übungen Kraft zu sammeln, Seele und Lunge durchzulüften. Der tägliche Morgensport ist für sie ebenso Ritual wie das anschließende Dim Sum-Frühstück. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, Serviererinnen in dunkler Uniform stellen Speise um Speise auf die in der Mitte des runden Tisches montierte drehbare Glasplatte: schlichten Congee und Pak Choi-Gemüse neben knusprige Frühlingsrollen, chinesische Omelettes mit Frühlingszwiebeln und gebratene Hühnerfüße in Hoisinsauce zwischen Taro-Kuchen und gedämpfte Reisteigrollen mit Schweinefleisch. Dazu Tee in verschiedenen Sorten: Jasmin-, Schwarz- und Grüntee. Es wird geplaudert und gelacht, die Damen legen einander gegenseitig Leckerbissen in die Schalen, reichen die Sojasauce im Kreis und „prosten“ einander mit Tee zu.

Dim Sum gehören in Hongkong zur ersten Hälfte des Tages wie der 5-Uhr-Tee zum traditionellen Nachmittagsritual der Briten. Man muss mit den Vergleichen ja nicht so weit gehen wie die Welt am Sonntag, die Dim Sum einmal „die Weißwurst Asiens“ nannte, denn sie werde auch vorwiegend vormittags verzehrt und sei ebenfalls außen fest und innen weich