Teufelsfinger

In Spanien, Portugal und Teilen Südfrankreichs gilt die merkwürdige Entenmuschel als exquisite und wertvolle Spezialität. Um sie aus dem Meer zu holen, riskieren die Fischer Kopf und Kragen.

Es ist eine winzige Insel vor der Küste Portugals, nichts weiter als ein Häufchen unscheinbarer Felsen, an denen sich die Brandung bricht. „Die Insel nennt man Chico Chapa, nach einem Fischer, der dort einst sein Leben ließ“, sagt João Castro lakonisch und blickt dabei vom Ufer aus durch einen Feldstecher hinaus aufs Meer.

Viele der Inseln und Felsen vor der Stadt Sines seien nach Fischern benannt, die bei der Arbeit verunglückten, fährt der Meeresbiologe Castro fort. Nicht so ­jedoch jene, die er gerade mit seinem Feldstecher ins Visier nimmt. Sie ist die größte unter ihnen, wenn auch selbst nur ein paar Meter lang, und wird Percebeira genannt, weil man auf ihr ganz besonders viele der bizarren Meeresfrüchte findet, die nur dort wachsen, wo die Gischt auf die zerklüfteten Steinformationen schlägt. Und die die Portugiesen Percebes nennen.

„Auf Englisch heißen sie goose barnacles, und zwar weil Gänse Zugvögel sind, man sie folglich in Nordeuropa nie nisten sah und daher annahm, dass sie aus diesen Meerestieren schlüpfen, deren gepanzerter Teil wie ein Gänseschnabel aussieht“, amüsiert sich Castro. Dass sie vermutlich aus ähnlichen Gründen auf Deutsch Entenmuscheln heißen, wusste er bisher nicht, findet er aber gleichermaßen amüsant. „Vor allem, weil es keine Muscheln sind, sondern Krebse“, sagt er und blickt weiter durch das Fernglas in Richtung der kleinen Insel, wo sich inzwischen offenbar etwas tut.

Auf der Percebeira ist ein Mann zu erkennen, der mit einem Sack am Rücken ins Wasser springt und mit einem Bodyboard Richtung Ufer schwimmt. „Mit Booten dürfen die Fischer nicht hinausfahren, weil sie dann zu viele der Tiere mitbringen könnten und ihren Bestand gefährden würden. Das Gewerbe ist ziemlich strikt reguliert, es gibt festgelegte Fangzeiten und maximale Mengen, die gefischt werden dürfen“, betont der Wissenschaftler, während der Mann immer näher kommt, schließlich an Land geht und Sack wie Board aus dem Wasser zieht.

Der Fischer Jorge Perreira ist ein durchtrainierter Mittdreißiger, den Neoprenanzug füllt sein athletischer Körper gut aus, an einem Gürtel trägt der Percebeiro sein wichtigstes Werkzeug, eine Art verlängerten Meißel, die sogenannte Arrelhada, mit der er die Krebse von den Steinen kratzt. Seit etwa sieben Jahren fische er hier percebes, erzählt der Fischer; und ja, das Fischen diene ihm auch als sportliche Betätigung.

„Natürlich ist das Ganze nicht ungefährlich“, sagt er mit etwas Eitelkeit und öffnet den Netz-Sack, um seinen Fang zu präsentieren, „man muss das Meer schon kennen und genau einschätzen können, wann der richtige Moment ist, um in die Brandung hinabzusteigen.“ Unfälle würden dennoch immer wieder vorkommen, manchmal leichte, bisweilen schwerere und hin und wieder auch tödliche, fährt Perreira fort. Auch er sei schon mehrmals von der Brandung erfasst worden, habe sich etliche Verletzungen zugezogen, nur bewusstlos wurde er dabei noch nie.

Das Bewusstsein zu verlieren ist die große Angst der Percebeiros. Und die entscheidende Todesursache bei ihrer Arbeit. Wer bewusstlos ins Meer fällt, der läuft Gefahr zu ertrinken. Weswegen viele der Fischer in Zweiergruppen losziehen, um sich im Notfall gegenseitig aus dem Wasser zu ziehen. Manche verzichten aber darauf und fischen lieber alleine, auch, um ihre Fangplätze nicht freizugeben. Eine Redensart hier an der Küste besagt, dass man dem lieben Gott nicht den Rücken zuwenden darf, wenn man nach Luzifers Fingern fischt.

„Percebes leben in der Brandung, um sich vom Plankton zu ernähren, das sie aus der Gischt filtern, sowie zum Schutz vor Feinden“, sagt der Meeresbiologe João Castro, der die wunderlichen Tiere seit vielen Jahren erforscht. Tatsächlich sehen die Krebse ein wenig aus wie schwarze Finger. Ihren schnabelartigen Panzer tragen sie am Ende eines länglichen Muskels, den eine ledrige Haut umhüllt und der ein wenig an einen Miniatur-Elefantenfuß erinnert.

„Es sind Zwitter, mit den kleinen Fangarmen unter dem Panzer holen sie das Plankton aus dem Wasser, und durch den Muskel sind sie mit den Klippen verbunden“, sagt Castro. Und genau dieser Muskel ist es, der die Tiere zu einer begehrten Delikatesse macht, die man in Europa nur hier, in der Brandung des Atlantischen Ozeans an den Küsten Portugals, Spaniens und Teilen Frankreichs findet.

„Je nach Jahreszeit darf ein professioneller Fischer maximal zehn bis 15 Kilogramm ernten“, betont Castro. „Nimmt er mehr als das, kann seine Lizenz stillgelegt oder ihm gar entzogen werden.“ Zurzeit gibt es in der Region um Sines gerade einmal 80 Lizenzen, sie sind sehr begehrt, neue werden schon seit einigen Jahren nicht mehr vergeben. Häufig komme es zu Konflikten mit privaten Fischern, die brauchten gleichfalls eine Lizenz und dürften höchstens zwei Kilogramm fischen. Dennoch würden sie immer wieder von den Profis beschuldigt, weit mehr zu nehmen und ihren Fang unerlaubterweise auch zu verkaufen.

„In Nordspanien haben sie in den 1990er-Jahren neue Regeln aufgestellt, die den Privaten den Fang gänzlich verbieten“, fährt Castro fort, „das hat zu einigen Protesten geführt, aber inzwischen ist das System gut etabliert. Bei uns müsste sich die Politik zu solchen Entscheidungen erst durchringen, was auch deswegen schwer ist, weil viele Familien seit Generationen Percebes fischen und ein Verbot wohl nicht so einfach hinnehmen würden.“

Tatsächlich sind die Spanier nach dieser Delikatesse noch verrückter als die Portugiesen, die sie sich vor allem zu den Feiertagen am Jahresende leisten. In ­Madrid, dem mit Abstand größten Umschlagplatz, zahlte man vergangenen Dezember bis zu 250 Euro für ein Kilogramm der Meeresfrucht. Gelegen hat das an der damals außergewöhnlich rauen See vor der Küste. Zudem war in diesem Jahr die entsprechende Qualität nicht immer gegeben. Die spielt nämlich ebenfalls eine entscheidende Rolle.

„Besonders gut verkaufen lassen sich Tiere mit eher kurzem und dickem Muskel, jene mit dünnem und zu langem Muskel sind häufig voller Wasser und erzielen geringere Preise“, sagt der Fischer Perreira. Was genau die Ursachen für die Qualitätsschwankungen sind, kann auch der Meeresbiologe nicht erklären. „Wir wissen lediglich, dass sie sich an gewissen Stellen besser, an anderen weniger gut entwickeln, warum das so ist, wissen wir bis heute noch nicht.“

Selbstverständlich wäre es angesichts der Beliebtheit der Krebse interessant, einen Weg zu finden, um sie zu züchten. Auch gebe es schon Versuche in diese Richtung, allerdings nur mit teilweisem Erfolg. „Das Hauptproblem ist, dass sie mit anderen Lebewesen im Wettbewerb stehen um die Plätze an den Felsen“, erklärt Castro, „und gezüchtete Exemplare nicht kräftig genug sind, sich gegen Muscheln und Algen und sonstige Organismen durchzusetzen, die ihnen den Platz streitig machen wollen.“

Seinen Fang muss sich der Fischer Perreira erst genauer ansehen, die Krebse nach Größe sortieren, um zu wissen, wie viel er für ein Kilogramm bezahlt bekommen wird. Aber an die 50 Euro sollten es schon werden, sagt er. Verkaufen darf er sie nur an Markthändler, nicht direkt an Privatkunden oder Restaurateure, auch das eine Bestimmung, die dazu gedacht sei, Fischerei und Handel besser zu regulieren, wie der Meeresbiologe Castro einwirft.

Im Restaurant Cais Da Estação in Sines werden die Meeresfrüchte auf denkbar einfache Art zubereitet, nämlich nur wenige Minuten im Meerwasser gekocht. Das ist auch gut so, denn unter Kennern gilt es als Verbrechen, ihren intensiven Geschmack nach Meer allzu sehr zu verfälschen.

Um sie zu essen, muss man mit dem Fingernagel zwischen die Schale und den Ansatz der rauen Haut fahren und diese mit einer Drehbewegung abziehen. Darunter verbirgt sich der zarte orange-braune Muskel, der von Geschmack und Textur her an eine Mischung aus Shrimp, Krebs und Muschel erinnert. Vor allem aber, wie Liebhaber sagen, nach Brandung, Plankton, Gischt und Ozean schmeckt. Ein wahres Erlebnis also, das seinen Preis wert ist. Vor allem dann, wenn man bedenkt, dass Percebeiros wie Jorge Perreira ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um sie aus dem Meer zu holen.