Teuflische Paradeiser
Von Allergien, Phobien und Gästen mit ganz besonderen Bedürfnissen
Teuflische Paradeiser
Text: Eva Rossmann / Illustration: Georg Wagenhuber
Samstagabend. Das Lokal gesteckt voll. Adrenalin in der Küche auf Maximum, könnten wir es in elektrische Energie umwandeln, wir würden eine Starkstromleitung brauchen. Es sind Abende wie diese, für die es sich lohnt zu kochen.
Vorausgesetzt, man ist ein Küchenstressjunkie wie ich. Vorausgesetzt, die vibrierende Spannung bleibt im positiven Bereich. Wieder ein Sechsertisch draußen. Gut so. Hannes scheint acht Hände zu haben, Moritz schaut so cool drein, wie es nur ein Fünfzehnjähriger vermag, Christina richtet Desserts an und zaubert mit Eis, Hippen und Minzeblättchen kleine Kunstwerke. Die Dunstabzugshaube röhrt, die Spülmaschine dampft, Jolanda wischt sich den Schweiß von der Stirn, es brodelt und zischt. Der Bondrucker rattert, ich annonciere die nächsten drei Tische. Aufpassen, da haben wir À-la-carte-Bestellungen gemischt mit Überraschungsmenüs. Ich sehe auf die Uhr. Die Gruppe mit achtzehn Personen ist seit zwanzig Minuten da. Und fast so lange ist Buchinger bei ihnen. Wäre super, wenn er sie doch von einem gemeinsamen Menü überzeugen könnte.
Weitertun. Das Kind an Tisch 4 will Nudeln mit Paradeisersauce, aber ja nichts Grünes darauf. Ein leichtes Spiel. Teresa kommt mit einem Stapel leerer Teller und brüllt in die Küche, dass es Tisch 18 hervorragend geschmeckt habe. Jeaaa, das ist es, was wir brauchen! Ich grinse und lege ein Blättchen Basilikum auf den Teller vor mir. „Kind ohne Grün!“, schreit Hannes. Du liebe Güte, ein Moment der Unachtsamkeit und schon … Andererseits: Was wäre, wenn der Kleine einem Blatt Basilikum begegne? Weltuntergang? Ich zupfe die unschuldige Geschmacksdekoration wieder herunter. Müssen Eltern wirklich jeden Blödsinn ihrer Kinder unterstützen? Naja, vielleicht wollen sie auch bloß ihre Ruhe.
Buchinger kommt in die Küche und gleichzeitig rattert der Küchendrucker, als wolle er einen Roman loswerden. Die Achtzehn konnten sich nicht auf ein Menü einigen, sie haben à la carte bestellt und zwar mehr oder weniger alles, was unsere Carte so bietet. No Problem, heute schaffen wir alles! Es dauert jedoch nur wenige Augenblicke und es wird klar, dass das Blättchen Basilikum ein böser Vorbote gewesen sein könnte: Zwei der Gäste am großen Tisch dürfen absolut keinen Pfeffer haben, es handle sich um eine schwere Allergie, doziert Buchinger mit ausdruckslosem Gesicht und malt auf die Bons zu ihren Gerichten ein großes P mit Rufzeichen. Eine Frau hat eine Laktoseunverträglichkeit, sie hat den großen Salat mit Fischen und das Rind auf Schwammerlsauce bestellt. Hannes darf nur nicht vergessen, auf den Schuss Obers zu verzichten. Und – Buchingers Blick gleicht dem eines Pokerspielers – der Gast, der sich für unsere klare Gemüsesuppe und den vegetarischen Zwiebelrostbraten entschieden hat, darf auf keinen Fall irgendetwas mit Zwiebeln essen. „Ein Witz“, schreie ich und spüre, wie sich das Adrenalin in eine ganz böse Richtung umpolt. Buchinger hat unter anderem in Frankreich gekocht. Und dort, er erzählt es nach meinem Geschmack etwas zu häufig, haben alle nur „Oui, Chef!“ gerufen. Sonderwünsche von Gästen sind nicht zu kommentieren, von mir schon gar nicht, soll ich doch sowas wie ein Vorbild für die anderen in der Küche sein, und außerdem koste es nur unnötige Energie. Bevor er noch etwas Derartiges sagen kann, füge ich so ruhig wie möglich an: „Und was ist mit den Jungzwiebeln im Gemüsefond? Und den Pfefferkörnern im Jusansatz?“ – „Kein Jus! Und ihr werdet ja wohl einen À-la-minute-Gemüsefond zusammenbringen!“ Ich sehe, wie sich Hannes auf die Lippen beißt. Super, will ich sagen, vor allem heute, wo wir eh fast nichts zu tun haben! Welche Schwachköpfe … sollen daheimbleiben und …, aber irgendwie gelingt es mir, den Brocken Lava hinunterzuschlucken, auch wenn ich daran beinahe verglühe. Die Kraft auf das Wesentliche lenken. Mist! Beinahe wären mit die überbackenen Schnecken im Salamander verbrannt!
Aber was, wenn doch irgendwo, unentdeckt, ein Pfefferkorn lauert, sich in der Küche auf den falschen Teller schleicht und von dort in den hochallergischen Körper? Atemnot, Röcheln, allergischer Schock, Zusammenbruch, ein Luftröhrenschnitt … wer könnte ihn … könnte ich so was … Ärzte, wahrscheinlich sind Ärzte unter den Gästen … Konzentration!!! Da darf eben kein Pfefferkorn sein. Und was, wenn es gar nicht viel ausmachen würde? Wenn irgendso ein Spinner einfach keinen Pfeffer mag und deswegen unsere Küche terrorisiert? Denn dass gleich zwei an einem Tisch an Pfefferschockzuständen leiden könnten, ist schon eigenartig, oder? So eine verdammte Allergie ist doch nicht ansteckend, was? Wobei eineiige Zwillinge …
„Du brabbelst vor dich hin“, grinst Buchinger. „Wie eine uralte Köchin.“ Ich will schon auffahren, aber verdammt, ich sollte den Blödsinn wirklich lassen. Wir packen das schon. Ich grinse zurück.
Nie werde ich erfahren, wie ernst die Allergie der beiden Pfefferverweigerer zu nehmen war. Den vegetarischen Zwiebelrostbraten ohne Zwiebeln fand ich etwas fad, aber der Gast war hingerissen. Es ist eine der Fragen, die ich beim Buchinger in der Küche nicht stellen darf, aber ich habe ja auch ein Leben außerhalb des Gasthauses: Ich möchte allzu gern wissen, ob die rapid steigende Anzahl an Allergien, Lebensmittelunverträglichkeiten und Chemikaliensensibilitäten (das ist der allerneueste Trend: Menschen halten Putzmittel, Duftkerzen, Parfüms oder auch auf Gas gekochtes Essen nicht aus. Nicht, dass es ihnen einfach – wie auch mir Duftkerzen – einfach stinkt, ihnen wird offenbar kotzübel, schwindlig, kollabrös) tatsächlich geheimnisvolle organische Ursachen hat oder ob es einfach immer mehr Menschen gibt, die sich nach einer besonderen Form von Aufmerksamkeit sehnen.
Im Internet gibt es jedenfalls schon eigene Seiten, auf denen man Kärtchen ausfüllen kann, die man dann ins Restaurant mitnehmen und dem Personal übergeben soll. Vor allem bei einer größeren Anzahl von Unverträglichkeiten und allergieauslösenden Stoffen sei das von Vorteil, wird geraten. Was, wenn uns in näherer oder fernerer Zukunft die meisten Gäste mit dieser Visitenkarte der besonderen Art beglücken? Wir kochen so gut wie alles à la minute, da kann man schon das eine oder -andere weglassen, ersetzen oder auch dazugeben – aber es kostet Zeit, oft auch Geschmack, Spontanität ebenso wie automatisierte Abläufe. Wer bei einem knallvollen Lokal an jede einzelne Zutat in jeder Speise denken muss, der wird irre. Und was ist dann mit Lokalen, die auf tiefkühlfrisch Fastfertiges und abgepackt Vorgemischtes setzen? Es soll Köche geben, die weder einen Hochschulabschluss in Chemie noch einen in angewandter Literatur haben. Beinahe witzig, dass Internetforen Allergikern raten, bei Glutamatunverträglichkeit Chinarestaurants zu meiden. Ganz abgesehen davon, dass ich chinesische Lokale kenne, die ohne Glutamat auskommen: Selbst in einer sehr beliebten und allseits verwendeten vegetarischen Gemüsewürze ist Glutamat drin. Mit ein Grund übrigens, warum wir unsere Gemüsewürze selbst herstellen. Aber da nicht nur viele Köche, sondern auch viele Gäste das Kleingedruckte nicht kennen, halten sich Anfälle und Zusammenbrüche trotz Glutamat-Pest offenbar eh in Grenzen.
Wobei ich gegenüber Menschen mit derartigen Krankheiten auch nicht ungerecht sein will. Ist schlimm, zu wissen, dass einem bei der kleinsten Dosis von Petersilie die Luftröhre zuschwillt. Und: Ich habe zwar keine Allergie, aber ich reagiere übersensibel auf Szechuanpfeffer. Die Zunge wird bamstig und die Lippen fühlen sich an, als hätte mir jemand Botox verabreicht. Mehr ist es nicht, es geht auch wieder recht schnell vorüber, aber es ist eine Tatsache. Und ich bin ganz sicher, dass ich nicht bloß um Aufmerksamkeit buhle – ich habe davon noch nie in einem Lokal erzählt, Szechuanpfeffer ist bei uns ohnehin selten und meine Überreaktion auszuhalten.
Von einem anderen Vorurteil wurde ich inzwischen auch schon geheilt: Nämlich dass Menschen mit Unverträglichkeiten überhaupt eher genussfeindlich sind. Wir hatten zwar noch niemanden mit einem Internet-Allergiekärtchen, aber sehr wohl einen Gast, der uns vorab per E-Mail eine ganze Liste an Produkten geschickt hat, die er nicht essen darf. Wir haben uns bemüht und sie war sehr zufrieden und kam wieder. Und hat -gefragt, ob wir ihre Liste noch hätten. Ich gebe zu, eingerahmt hatten wir sie uns nicht, aber ich habe ihre E-Mail wiedergefunden und wir zauberten wieder Verträgliches. Erst beim dritten Besuch ergab es sich, dass ich an ihren Tisch kam. Ich habe, ich gebe es zu, nach einer blassen Wassertrinkerin gesucht. Ich fand eine lustige Frau in den Dreißigern mit einem doppelten Himbeerbrand vor sich. Wein dürfe sie keinen trinken, aber zum Glück falle Schnaps nicht unter ihre idiotischen Unverträglichkeitsreaktionen. Man müsse sich eben mit seinem Körper arrangieren – und sie sei in einem medizinischen Programm, weil es so viel gäbe, dass sie sehr gern essen würde.
Ein Zugang, der einer anderen Gruppe von Gästen mit besonderen Bedürfnissen fremd ist: den Phobikern. Die können nicht und streben schon gar nicht an, die wollen nicht, die hassen … zum Beispiel Paradeiser. Während Ferdinand, der allsonntäglich unser Surschnitzel mit gemischtem Salat isst, einfach zufrieden ist, wenn er keiner dieser roten Früchte begegnet, gibt es da auch schwierigere Fälle. Beim ersten Mal, als Frau Doktor mit ihrer reizenden, betagten Mutter zu uns kam, hieß es: Ja keine Paradeiser auf ihr Essen!!! Es war auch damals viel zu tun, ich ließ auch tatsächlich im sautierten Sommergemüse die Paradeiser weg, aber beim Anrichten, quasi im allerletzten Moment, habe ich ihren Fisch mit einer frittierten Paradeiserschale geschmückt. Das Gericht kam umgehend zurück und auf meine eher ungehaltene Frage, ob die denn das depperte Paradeiserschalenstück nicht einfach vom Teller geben könnte, erhielt ich die Antwort: „Sie kann das nicht essen, wenn ein Paradeiser daraufgelegen ist!“ Frau Doktor wurde dennoch zum Stammgast auf Tisch 13. Sie war nicht nur Erzfeindin des Paradeisers, sondern auch Vegetarierin, die ihren Salat ausgesprochen mild mag und alles mit einem Hauch von Schärfe ablehnt. Sie entwickelte ein Faible für einige wenige Gerichte, die wir auch nicht verändern durften. Unser Ehrgeiz, ihr Anderes und Neues (natürlich paradeiserfrei, mild und vegetarisch) anzubieten, wurde meistens huldlos enttäuscht. Während Herr Walter die beiden Damen freundlichst umschwärmte (es hat nicht bloß damit zu tun, dass Frau Doktor Bankerin war und über den gezielten Einsatz von Geld gut Bescheid wusste), war Buchingers Verhältnis zu ihnen ein wenig zwiespältig. Vor allem, als Frau Doktor ihn wissen ließ: „Sehen Sie, Herr Buchinger, inzwischen mach’ ich mir Ihre Speisekarte selbst.“ Gescheitert ist die mehrjährige Beziehung jedoch daran, dass eines Mittags Tisch 13 nicht verfügbar war, warum es so kam, wäre einen eigenen Aufsatz wert, auf alle Fälle verließ Frau Doktor nolens volens, gefolgt von ihrer betagten Mutter, wütend das Lokal. Man richtete sich Unfreundlichkeiten aus, Buchinger strich alle bereits getätigten Reservierungen, und ein Telefonat, das dann doch wieder alles ins Lot bringen sollte, brach ab – weil die Batterie des Schnurlosteils in der Küche den Geist aufgegeben hat, während Frau Doktor wohl noch immer annimmt, dieser Buchinger habe einfach den Hörer hingeknallt. Die Sondertaste, die ich damals auf unserer Boniermaschine angelegt habe, gibt es noch immer: „Keine Paradeiser!!!“
Eva Rossmann arbeitete als Journalistin, ehe Sie mit den Mira Valensky-Krimis zur Bestsellerautorin wurde. Daneben moderiert Sie hin und wieder die ORF-Diskussionssendung Club 2 und arbeitet als Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus Zur Alten Schule, von wo Sie für A la Carte regelmäßig aus dem Küchenalltag berichtet.