Tolle Knolle

Tolle Knolle Von wegen banal. Österreichs Kochelite hat Erdäpfel nicht nur als Beilage, sondern auch als Solitär für sich entdeckt. Text: Claudia Schemerl-Streben | Fotos: Stephanie Golser Montagvormittag, 7 Uhr. Christa Hobiger tourt mit ihrem Kleinbus und einer Tonne Fracht im Gepäck durch Wien. Erste Station: das Restaurant Le Ciel. Die Bäuerin parkt vorm Lieferanteneingang…

Tolle Knolle

Von wegen banal. Österreichs Kochelite hat Erdäpfel nicht nur als Beilage, sondern auch als Solitär für sich entdeckt.

Text: Claudia Schemerl-Streben | Fotos: Stephanie Golser

Montagvormittag, 7 Uhr. Christa Hobiger tourt mit ihrem Kleinbus und einer Tonne Fracht im Gepäck durch Wien. Erste Station: das Restaurant Le Ciel. Die Bäuerin parkt vorm Lieferanteneingang und überreicht Küchenchefin Jacqueline Pfeiffer zwei Kisten der kleinen, weiß-fleischigen Erdäpfelsorte Cyclame, aus der wenige Stunden später ein cremiges Püree entsteht. Zehn Autominuten entfernt klaubt Meinl am Graben-Chefpatissier Josef Haslinger aus den Gemüsekörben des Delikatessengeschäfts die schönsten mehligen Exemplare, die er einen Stock höher in der Backstube gemeinsam mit Topfen zu einem flaumigen Knödelteig verarbeitet. Zeitgleich greifen die Betreiber des Slow-Food-Ladens Die Burgermacher zum Messer und schnitzen im Akkord aus der blau-lila-marmorierten Sorte Blue Salad Potato unregelmäßige Stifte für Pommes frites.

Bis zu 40 verschiedene Erdäpfelsorten kultiviert die Waldviertler Demeter-Landwirtin Christa Hobiger in einer Höhe von 681 Metern auf drei Hektar Fläche. Zur Erntezeit zieht sie runde, längliche, große, kleine, glatte oder stark gekrümmte Knollen aus der Erde – jede einzelne ist ein Unikat. Wie etwa runde Barbara mit gelb-lila gescheckter Schale und gelbem Fruchtfleisch, lang gezogene Bamberger Hörnchen mit gelb-rosaroter Haut, cremefarbenem Innenleben und nussigem Aroma oder die in ihrer Form an den Edelpilz erinnernde Trüffel mit erdigem Geschmack, schwarz-blauer, dicker Schale und dunkel-violettem Fleisch, das teilweise mit weißen Stellen versetzt ist. Violette Erdäpfel, die ihr ein Bauer vor 17 Jahren vorbeigebracht hat, waren es auch, die Hobigers Interesse an den optisch wie aromatisch wertvollen Raritäten geweckt haben. Einen Markt für die färbigen Exoten gab es damals allerdings nicht. Hobiger verfütterte die ersten Erträge an ihre Schweine. Heute hat die Nischenkultur ihre Fangemeinde: Vor fünf Jahren schloss sich die Landwirtin gemeinsam mit 18 Bauern und gastronomischen Betrieben zur Erdäpfelregion Lainsitztal (=Erpfi) zusammen, um vergessene Raritäten wiederzubeleben. Die Übung gelang: Heute gilt Wien als Hauptumschlagplatz für die seltenen Sorten aus dem Waldviertel. Angefahren werden die Naturkostläden Aus gutem Grund in Donaustadt und St. Josef in Neubau, Restaurants wie Österreicher im MAK, Aubergine, Meinl am Graben und Le Ciel, in dem sich Küchenchefin Jacqueline Pfeiffer für ihr Püree auf die außen rot und innen cremefarbene Sorte Cyclame eingeschworen hat, obwohl das kleinwüchsige Exemplar einen mühevollen Schälaufwand mit sich bringt. Selbst über die Grenze wird geliefert: Regelmäßige Bestellungen gibt der deutsche Spitzenkoch Heinz Winkler aus Aschau auf. Ebenfalls am Anfahrtsplan der Erpfibauern steht das Restaurant der Münchner Luxusherberge Bayerischer Hof.

Die Haupterntezeit beginnt für Hobiger Mitte September und endet Mitte Oktober. Die ersten Exemplare werden im Juli ans Tageslicht befördert. Vergleichsweise spät, denn im Unterschied zum Weinviertel wachsen die stark zehrenden Erdäpfel im kühleren Waldviertel langsamer, die Vegetationszeit kann bis zu fünf Monate andauern. „Die Böden sind karger, aber mineralstoffreicher. Das bedeutet zwar weniger Ertrag, dafür aber konzentriertes Aroma.“ Während man bei konventionellen Sorten aus Bioanbau mit rund 23.000 Kilogramm pro Hektar Ernte rechnen kann, ist die Ausbeute bei Raritäten teilweise auf 2.000 Kilogramm begrenzt. „In einem wetterbedingt schlechten Jahr bekommt man von einer eingesetzten Trüffel sogar nur drei heraus.“ Spezialitäten wie Blaue Elise, Salinka und Pinki wachsen bei Hobiger nebeneinander unter freiem Himmel und ohne Einsatz künstlicher Bewässerung. Erkennen kann man die jeweiligen Sorten an den unterschiedlichen Höhen, in die ihr krautiges Blattwerk mit weißen, violetten oder rosa Blüten ragt. Während neu gezüchtete Massensorten eine einheitlich niedrige Größe erreichen, variiert die Höhe bei Hobigers Spezialitäten zwischen 40 und 150 Zentimetern. Die rund-ovale, rosa- bis rotfleischige Sorte Rote Emma etwa gibt sich zusätzlich durch einen violett-grünen Stielansatz zu erkennen, sodass sich die Landwirtin eine Markierung der einzelnen Reihen in ihren Parzellen ersparen kann. Die braucht auch der Erdäpfelkäfer nicht, der sich als Feinschmecker geoutet hat und sich bevorzugt von Erdäpfelraritäten ernährt. Er setzt seine Eier auf der Unterseite der Blätter ab, aus denen innerhalb kürzester Zeit Larven schlüpfen, die die Pflanze sukzessive abfressen und damit eine gesamte Ernte vernichten können. Als Gegenmittel marschiert Hobiger auf die Felder und schüttelt die Käfer in Körbe oder spritzt den in der Demeterlandwirtschaft zugelassenen Bacillus Thuringiensis, der bei den Larven Durchfall auslöst und sie damit unschädlich macht.

Den Tod für Erdäpfel kann aber auch falsche Lagerung bedeuten. Bei einer Temperatur zwischen vier bis acht Grad, Dunkelheit, guter Durchlüftung und konstanter Luftfeuchtigkeit von ca. 80 Prozent bleibt die Konsistenz über den ganzen Winter knackig und das Gemüse beginnt nicht zu keimen. Bedingungen, die im Supermarkt nicht erfüllt werden können: Die Ware ist grellem Licht ausgesetzt und wird durch warme Temperaturen überstrapaziert. Die Folge: Die Erdäpfel setzen den giftigen Bitterstoff Solanin frei – identifizierbar durch unansehnliche grüne Stellen auf der Schale – und mutieren zu schrumpeligen Knollen, die austreiben und ungenießbar sind. Einige Sorten verlieren aber sogar trotz optimaler Lagerung ihren kulinarischen Wert. Während festkochende Exemplare wie Pink Fir Apple im Frühling noch genauso gut schmecken wie im Herbst, behält die Linzer Delikatesse mit ihrer speckiger Kocheigenschaft nur bis Weihnachten ihre Idealkonsistenz und wird ab dem Frühjahr im Kern wassrig. Ein Manko, das man zum Teil auch bei den Heurigen in Kauf nehmen muss, weil sich die Stärke erst über einen längeren Vegetationszeitraum bildet.

Engpässe spürt in der Sommerzeit auch Paradewirt Josef Floh aus Langenlebarn, der von Juni bis Juli kein Püree serviert: „Die Erdäpfel sind nicht verarbeitbar, der Wasseranteil ist mir einfach zu hoch.“ Den Rest des Jahres lässt Floh aber keine Woche vergehen, in der er nicht von einem seiner fünf Lieferanten mit Standard- und speziellen Sorten wie Mühlviertler Mehlige, Rosa Tannenzapfen oder Erika eingedeckt wird. Diese landen als veredelte Beilage oder als Hauptakteur am Teller, wie etwa im Gericht „Anabelle“, für das er die gleichnamige goldfleischige, glattschalige Knolle mit Rapsöl, Gemüsefond und Bohnenkraut schmort und mit glasierter Steckrübe und Kornblume am Teller anrichtet. Vor mehr als fünf Jahren, noch bevor seltene Gemüsesorten salonfähig wurden, begann sich der kochende Wirt für Raritäten wie Ochsenherzparadeiser, Malabarspinat, F1-Bolero-Karotten, Urgetreide und seltene Erdäpfelsorten zu interessieren, machte Produzenten ausfindig und ließ sich in regelmäßigen Abständen damit beliefern, um Verarbeitungsmöglichkeiten auszuloten. Heute geht er sogar so weit, in seiner Speisekarte eine ganze Seite Gerichten zu widmen, für deren Zubereitung ausschließlich Zutaten aus einem Umkreis von 66 km rund um seine Gastwirtschaft verwendet werden. Eine Philosophie, die Floh nicht nur bei Fleisch, Fisch und Gemüse, sondern selbst bei Ölen, Essig und Nüssen kon-sequent umsetzt. Das alles wäre freilich nicht möglich, hätte sich das Netzwerk an Produzenten mit Hang zum Idealismus in den letzten Jahren nicht verdichtet: Während Floh zu Beginn etwa gerade einmal zwischen sieben unterschiedlichen Erdäpfelsorten wählen konnte, sind es heute an die dreißig. Pro Woche verarbeitet er an die 70 Kilogramm Erdäpfel – was nicht sofort verarbeitet wird, landet im temperierten Lagerraum. Und vielleicht bald im Öko-Kühlschrank, einem Erdkeller, den der Gastronom bauen will, um das Gemüse durch den direkten Kontakt mit dem Erdreich mit natürlicher Luftfeuchtigkeit und Temperatur versorgen zu können.

Ambitioniert gibt sich auch der Küchenchef des alpinen Gourmet-tempels Griggeler Stuba Thorsten Probost, der heuer erstmals in Eigenregie Erdäpfelraritäten kultiviert hat. Seine zwei Anbauflächen: 300 Quadratmeter Acker auf 1500 Metern Seehöhe im Klostertal und zehn 400-Liter-Kübel direkt vor der Oberlecher Restauranttür. Initialzündung für sein Projekt war eine radikale Umstellung auf eine zucker-, laktose- und fast zur Gänze glutenfreie Küchenlinie. „Was man heute an Erdäpfeln kriegt, ist ernährungsphysiologisch gesehen ein Supergau für den Körper. Als Alternative habe ich mich auf Erdäpfelsorten konzentriert, die weniger Stärke enthalten.“ Fündig wurde Probost bei einer Bäuerin in Litschau, die ihm für die ersten Versuche Saatgut von drei unterschiedlichen Sorten zur Verfügung gestellt hat, die in Bergregionen gut gedeihen. In seinen Kübeln entwickeln sich seit-her kleine Setzlinge der speckigen Pinki, der blau marmorierten, vorwiegend festkochenden Blauen Schweden und der gelbfleischigen, mehligen Muresan aus Rumänien zu prächtigen Knollen. Um Schädlinge muss sich Probost praktischerweise keine Sorgen machen, „weil es ab einer Höhe von 1.400 Metern keine gibt“. Dafür macht sich der Koch, der sich in Zukunft autark mit Erdäpfeln versorgen will, schon über das kommende Anbaujahr Gedanken und will eine Heizung bauen: Dazu werden auf 500 Quadratmetern Fläche Heizstangen im Erdreich verlegt, die über Hackschnitzelverwertung erwärmt werden und damit verhindern sollen, dass die Wurzelballen auf 1.700 Metern Höhe frieren, denn „bei uns kann es bis Mitte Juni Schnee geben“.

Auf glutenfreie Verarbeitung setzt auch Josef Haslinger. Als Zugeständnis an die steigende Zahl an Allergikern hat der Chefpatissier des Gourmetsupermarkts Meinl am Graben für die Zubereitung eines Drittels seiner Mehlspeisen Weizen-, Dinkel- und andere glutenhältige Mehle vornehmlich durch Nüsse ausgetauscht. Einen Kleberersatz stellen aber auch Erdäpfel dar, die von Haslinger nicht nur zu Kuchen verarbeitet, sondern auch klassisch für handgewuzelte Mohnnudeln oder süße Knödel eingesetzt werden, die man im Restaurant nebenan bestellen kann.

Als Verfechter der klassischen Küche versteht sich auch Manfred Buchinger, passionierter Wirt im Gasthaus Zur Alten Schule, der Schnickschnack seit seinem Abschied von der Wiener Spitzengastronomie satt hat. Bei ihm entstehen aus Spezialsorten, von denen er pro Woche fünf Kilogramm persönlich von Weinviertler Bauern abholt oder geliefert bekommt, blaue Pürees, klaren Suppe mit goldgelben Stiften, rot-weiß gesprenkelte Chips oder hellgelbe Buttererdäpfel. Zu seinen Lieblingssorten zählt die aus Finnland stammende Mandelkartoffel, eine klein wachsende Sorte mit dezentem Nusston, die er dämpft, schält, kurz stampft und mit Butter und etwas Salz serviert. „Mehr darf man gar nicht machen, sonst geht das feine Eigenaroma verloren.“ Versorgt wird Buchinger mit der Erdäpfelrarität unter anderem von Christof Schramm aus der neun Kilometer entfernten Ortschaft Großengersdorf, der die dünnschalige, empfindliche Sorte von Hand ausgräbt. Seit drei Jahren zählen seltene Sorten zum Repertoire des jungen Erdäpfelbauern: Bei einer Exkursion in Schweden wurde er erstmals mit Besonderheiten wie der rosa-gelb gefleckten King Edward konfrontiert und reservierte von der Vielfalt fasziniert auf seinen zehn Hektar großen Erdäpfel-Feldern – auf denen vor allem die fürs Weinviertel berühmte Ditta gedeiht – einen halben Hektar für außergewöhnliche Knollen wie Shetland Black, Highland Burgundy Red, Blaue Elise und Rote Emma, die er entweder persönlich bis vor die Tür seiner Kunden liefert oder per Versand in ganz Österreich verschickt.

Einen hohen Stellenwert nehmen aromatische Standard- und seltene Sorten auch bei Extrem-Regionalist und Steirereck-Küchenchef Heinz Reitbauer ein. Aus der würzigen Adretta gewinnt er den puren Geschmack, in dem er sie mit der Schale im Rohr auf Meersalz gart. Das ausgekratzte Innenleben der mehligen Sorte veredelt er bevorzugt mit Sojasprossen, Ochsenmark und Rauchsalz. Der tiefgelben Linda wird der Saft entzogen, aus dem ein eindrucksvolles Gitterkonstrukt entsteht. Gegrillte und knusprige Agria fusioniert er mit gepfeffertem Erdäpfelfond, gekochten Stangenbohnen und Limonenöl und violette Trüffelerdäpfel werden gedämpft, in Getreide gewälzt und mit Steinpilzen, Kressewurzeln und Brombeeren serviert. Spannend wäre wohl auch eine Kreation mit der goldgelben, subtil süßlich schmeckenden Sorte La Bonnotte, die mit einem Preis bis zu 450 Euro pro Kilogramm als die teuerste der Welt gehandelt wird. Anfang Februar werden die Setzlinge auf der französischen Atlantikinsel Noirmoutier von Hand in den mit Algen gedüngten Boden versenkt und Anfang Mai in gerade einmal Kirschengröße Stück für Stück geerntet. Die Meeresgischt und das Jod, das die Algen im Boden freisetzen, verwandeln die zarte Knolle zur begehrten Delikatesse bei der französischen Kochavantgarde. Auf heimischen Böden würde die Rarität wohl kaum eine derart komplexe Geschmackscharakteristik entwickeln. „Mittlerweile hat sich bei den Bauern herumgesprochen, dass es die Sorte allein eh nicht bringt“, scherzt Buchinger. „Setzt man aber die richtige Sorte in den richtigen Boden, ist alles leiwand.“

Adressen mit Fokus auf Erdäpfel-Raritäten

Steirereck

Am Heumarkt 2A

1030 Wien

T 01-713 31 68

www.steirereck.at

Buchingers Gasthaus Zur Alten Schule

Wolkersdorfer Straße 6

T 02245-825 00 

www.buchingers.at

Gastwirtschaft Floh

Tullner Straße 1

3425 Langenlebarn

T 02272-628 09

www.derfloh.at

Meinl am Graben

Graben 19

1010 Wien

T 01-532 33 34

www.meinlamgraben.at

Griggeler Stuba
im Burg Vital Hotel

Oberlech 568

6764 Lech am Arlberg

T 05583-31 40

www.burgvital.com

Le Ciel 
Im Grand Hotel

Kärntner Ring 9

1010 Wien

T 01-515 80 9100
www.leciel.at


ERDÄPFEL-Bezugsquellen

Lainsitztaler Erpfi-Bauern

Harmannsteiner Straße 120

3922 Großschönau

T 02815-70 03

www.erpfi.at
Ab-Hof-Verkauf gegen Voranmeldung und Online-Verkauf von ca. 40 verschiedenen Raritäten wie Blaue Elise, Bamberger Hörnchen, Barbara, Shetland Black, Rote Emma und Roseval

Christof Schramm

Erdäpfelbauer aus dem Weinviertel

2212 Großengersdorf

Hauptstraße 163

T 02245-886 41

www.myproduct.at
www.kartoffelhof.at
Spezialiäten wie Blue Salad Potato, Rote Emma, Highland Burgundy Red, Mandelerdäpfel und Blauer Schwede

Meinl am Graben

Graben 19 

1010 Wien

T 01-532 33 34
www.meinlamgraben.at
Ab Herbst ist die Gemüseabteilung des Delikatessengeschäfts mit einer Erdäpfelvielfalt aus dem Lainsitztal und dem Weinviertel bestückt.