Toyota und Tiradito

Text von Anna Burghardt

Die Nikkei-Küche kommt. Das bedeutet Chilistreifen auf Sushi, Misosuppe mit pinkem Mais, Yucca-Tofu mit Koriander. Eine Geschichte über japanische Auswanderer, Zutatenersatz und Fusionscocktails. Und was haben eigentlich Autofirmen damit zu tun?

Die Austauschschüler sind gelb und sauer, grün und scharf, braun und salzig. Und sie kamen, um zu bleiben. Die Austauschschüler mit den Namen Yuzu, Wasabi und Miso sind drei Protagonisten der Nikkei-Küche. Also jener heutigen Trendküche, die japanische Auswanderer in Südamerika, vor allem in Brasilien und Peru, entwickelt hatten und die schon längst nach Europa übergeschwappt ist. Nikkei – das bedeutet Gerichte wie Tuna-Tiradito, Maki aus Quinoa oder Arroz con Pollo mit Miso.

Die Wurzeln der Nikkei-Küche finden sich um 1870, als die ersten Japaner, Nikkeijin genannt, auswanderten. Mit der Meiji-Restauration war eine Erneuerung der japanischen Gesellschaft einhergegangen, eine Öffnung Japans. Noch heute lebt in Brasilien die größte japanische Community außerhalb Japans, und mit Alberto Fujimori hatte Peru in den 1990ern den weltweit ersten asiatischstämmigen Präsidenten außerhalb Asiens.

In Südamerika angekommen, mussten sich die Nikkeijin mit einer teils völlig gegensätzlichen Esskultur arrangieren. Während etwa in Brasilien die Küche von Fleisch dominiert war, kannten die Japaner kein Rindfleisch – erstaunlich angesichts der heutigen Besessenheit rund um Kobe-Beef und andere Qualitäten. In Japan hatte man nämlich erst 1868 begonnen, Schlachtungen und Fleischverarbeitung zu etablieren. Davor waren Rinder lediglich als Arbeitstiere gebräuchlich, man sah sie aber, unter anderem aus religiösen Gründen, nicht als Milch- oder Fleischressource. Aufgrund des für Japaner völlig neuen Rindfleischs nun aber von einem kulinarischen „clash of cultures“ auszugehen, wäre falsch. Die japanische und vor allem die peruanische Küche hatten nämlich auch einiges gemeinsam – was die Nikkei-Küche zu einer besonders logischen Diasporaküche, also einer historischen Fusionsküche, macht. Reis etwa war da wie dort unverzichtbar – wenngleich sich die Reispurismus gewohnten Japaner damit konfrontiert sahen, dass die Körner in ihrer neuen Heimat in scharfen Fleischbrühen gegart wurden. Heute zählen Ideen wie Nigiri-Sushi aus rotem Hochlandreis zu zentralen Nikkei-Gerichten.

Die wohl wichtigste Zutat der peruanisch-japanischen Fusionsküche ist allerdings Fisch. Beide Länder liegen am Pazifik, kennen ähnliche Fischarten – und, vor allem, kennen die Kultur, rohen Fisch zu essen. Ceviche, also zitrussäuregegarter kalter Fisch, in Peru, Sashimi und anderes in Japan. In der Nikkei-Küche finden diese beiden Traditionen vor allem im Tiradito zusammen: gesäuertem Fisch, der aber nicht wie bei der Ceviche üblich in Würfel geschnitten, ­sondern in Sashimi-Manier in Scheiben aufgelegt wird. In Varianten wie Jakobsmuschel-Tiradito mit Yuzu und Frühlingszwiebeln, Wolfsbarsch-Tiradito mit Limetten, Shiitakepilzen und Nussmilch oder Red-Snapper-Tiradito mit pinkem Mais, Algenstreifen und Mango-Chili-Sauce.

Die Nikkeijin brachten ihre Kochtraditionen mit, mussten aber für viele Zutaten Ersatz finden. So auch für die traditionelle japanische Schärfequelle Wasabi, die in Südamerika nicht verfügbar war. Fortan verwendeten die japanischen Auswanderer Chilis. Von denen es unzählige Sorten gibt, typisch peruanisch sind etwa Aji Amarillo oder Aji Rocoto. Heute sind Nikkei-Sushi auf den ersten Blick oft daran zu erkennen, dass darauf Chilistreifen liegen. Auch bei Früchten gab es regen Austausch: Die Japaner führten nicht nur die Kaki ein, sondern auch die Yuzufrucht, und in Brasilien wurde die japanische Mandarine als „poncã“ eingebürgert. Die Nikkeijin brachten auch japanisches Streetfood mit: Heute sind die Teigtäschchen Gyoza oder die Tintenfischbällchen Takoyaki in Brasilien allgegenwärtig.

Die große Zahl der neuen japanischen Bürger in Südamerika führte dazu, dass es dort bald Manufakturen geben sollte, die Tofu, Sojasauce, Miso oder Udonnudeln herstellten. Japanischstämmige Landwirte brachten mit ihrem Sinn für Effizienz, wenn man so will, Ordnung in den Anbau von unzähligen autochthonen Gemüsesorten, machten sich zahlreiche südamerikanische Sorten zu eigen und integrierten sie in ihre Alltagsküche – etwa bei Tempura mit violetten Erdäpfeln.

Während die Nikkei-Küche, die freilich noch nicht diesen geradezu markenartigen Namen trug, bis dahin fast ausschließlich zuhause ihren Platz hatte, begann sie in den 1970ern langsam auch in der Restaurantszene zu sprießen. Und daran sind Firmen wie Toyota, Mitsubishi oder Panasonic nicht unbeteiligt: Sie errichteten in Südamerika Fertigungsstätten und brachten auch gleich eine große Zahl an japanischen Arbeitern mit. Arbeiter, die möglichst ohne Kulturschock verköstigt werden wollten. Die Firmen siedelten in Südamerika also auch gleich japanische Köche an und Manager initiierten Restauranteröffnungen. In einem der ersten japanischen Restaurants in Peru sollte denn auch Nobu Matsuhisa kochen, der Begründer der Nobu-Restaurants und einer der Väter der modernen Nikkei-Küche: Er wurde 1973 eingeladen, von Japan nach Lima zu übersiedeln, wo er 24-jährig sein erstes Lokal eröffnete. Auch Matsuhisa ­hatte Schwierigkeiten, viele seiner gewohnten Zutaten zu finden (auch wenn die bisherigen Auswanderer die Versorgung mit Dingen wie Seidentofu oder Miso schon erleichtert hatten). Der Import japanischer Produkte war noch nicht so einfach wie heute, und er war wie andere japanische Chefs gefordert, eine neue, eine ­japanisch-peruanische Linie zu ­finden. Mit der von der Industrie ­initiierten zweiten großen Auswandererwelle in den 1970ern und 1980ern hatte also auch die Nikkei-Küche wieder einen Höhepunkt.

Der dritte Höhepunkt kündigt sich jetzt an. Und zwar nicht nur in Lima, wo etwa das Maido, das Mesa 18 oder das Costanera700 für Furore sorgen, sondern auch in Europa und Nordamerika, wo immer mehr Nikkei-Lokale eröffnen. Nachdem die Nikkei-Küche als solche schon ausreichend definiert ist – soll heißen: Sie konnte ausreichend lange historisch wachsen, hatte genug Zeit, sich zu bilden –, müssen die Betreiber und die Küchenchefs nicht unbedingt japanischen und südamerikanischen Background haben, um sie gekonnt umzusetzen. Man kann die Nikkei-Küche auch analysieren und nach eigenen Ideen umsetzen. Damit haben die Brüder Ruhm im vierten Wiener Bezirk begonnen. Im Dining Ruhm kocht Marcel Ruhm, der schon im Nobu auf Mykonos gearbeitet hat, Dinge wie Tuna-Tataki mit Jalapeño-Dressing und in Reiswein marinierten Algen, sein Bruder Sascha erklärt den Gästen die Nikkei-Idee. Ganz dem Thema Nikkei gewidmet ist das Nikkei Nine im Hamburger Luxushotel Vier Jahreszeiten, das seit der Eröffnung Ende 2016 täglich ausgebucht ist – mit zwei Seatings. Küchenchef ist der US-Amerikaner Ben Dayag; er hat sich nicht nur in die Zutaten der Nikkei-Küche eingearbeitet, sondern sich auch mit der Geschichte dieser Diasporaküche beschäftigt. Dayag ergänzt Miso-Black-Cod, das Signature Dish von Nobu Matsuhisa, mit der Latino-Kräutersalsa Chimichurri, füllt Maki mit Wolfsbarsch-Koriander-Ceviche und belegt Maki mit Aal und Königskrabbe ebenfalls mit Chimichurri und gelben Chilistreifen. Die Weinkarte des österreichischen Sommeliers Marcel Ribis hält diverse Naturweine zum Puffern von Chili und Jungzwiebeln parat sowie viele offene Sakes.

In London steckt der australisch-österreichische Gastronom Kurt Zdesar hinter dem 2013 eröffneten Chotto Matte; Zdesar war einer der wichtigsten Mitarbeiter von Nobu Matsuhisa und lernte so die Nikkei-Küche kennen. Küchenchef ist Michael Paul. Das Chotto Matte serviert zahlreiche Gerichte, die gleichermaßen typisch peruanische als auch typisch japanische Elemente aufweisen – Zutaten wie Kochtechniken: Tostaditas mit Shiitakepilzen und Yuzu, Nikkei-Gyoza (artig gefaltete Teigtäschchen mit Garnelen, Aji Amarillo und Maniok), Rindfleisch-Tataki mit Passionsfrucht und Nashibirne oder, natürlich, diverse Tiraditos wie rohe Wolfsbarschscheiben mit Paradeisern, Koriander und Yuzu. Ein weiterer Schwerpunkt gilt im Chotto Matte der Cocktailkultur. In diesem Punkt ist die japanisch-peruanische Fusion generell besonders stark sichtbar: Beide Länder haben eine Nationalspirituose, Pisco beziehungsweise Sake, beide Länder kennen spezifische Zitrusfrüchte als saures Element, und wenn „Japanese Bartending“ mit seinen eigenen Techniken auf südamerikanische Zutaten trifft, kann nur etwas Spannendes herausschauen. Der Sake sour, eine ­Abwandlung des Pisco sour mit Eischnee, ist als sehr einfacher Nikkei-Drink nur der Anfang. Als im ­Shiki bei der Wiener Staatsoper der japanische Gastkoch Kazuhiro Soyano eine Woche lang Nikkei-Küche zeigte, waren auch Nikkei-Drinks fix am Start: zum Beispiel ein kirschblütenrosa Cocktail aus Sake, peruanischem Bitter und Chili.

In Barcelona eröffnete Albert Adrià 2013 das Pakta, ein optisch eher japanisch ausgerichtetes Lokal, das auch in der Küche eher zartere japanische Schlagseite zeigt als eine furiose lateinamerikanische. Tofuhaut wird hier mit Seeteufelleber und einem Gelee aus „leche de tigre“ serviert, der klassischen Ceviche-Marinade, Thunfisch säuert man mit Tamarinde zur Ceviche. Ein besonders schöner Nikkei-Gang sind die Causa-Sushi mit Königskrabbe und Rocoto-Chili-Sauce. Causa ist peruanische Hausmannskost: Bällchen, Törtchen oder Rollen aus Limetten-Chili-Erdäpfelpüree werden bedeckt oder gefüllt mit Avocado, Huhn oder Garnelen – die Variationsmöglichkeiten sind vielfältig. In der Nikkei-Küche wird also statt Sushireis diese Erdäpfelmasse genommen, um etwa Nigiri-Sushi daraus zu formen, die mit rohem Fisch belegt werden.

Causas findet man auch im Sen Sakana, das im Vorjahr unter regem Medieninteresse in New York eröffnet hat, wo auch schon die Kette Sushi Samba mit brasilianisch-japanischer Fusion erfolgreich ist. Im Sen Sakana bezieht sich die Küche also auf die Ähnlichkeit der peruanischen Causas mit japanischen Onigiri, handlichen gefüllten oder belegten Reispäckchen, formt Onigiri aus violettem Erdäpfelpüree und belegt sie mit Lachs und Lachsrogen. Pimientos de Padrón, die kleinen grünen Grillpaprika, werden mit Bonitoflocken gewürzt, Teriyaki-Spießen bedeckt man mit „Aji Panca Amakara“-Sauce, und Yucca-Käse-Kroketten werden von geriebenem Daikon-Rettich flankiert.

Im Ají, wie das Pakta ebenfalls in Barcelona, mariniert man Oktopus in Sake und serviert ihn auf Püree aus violettem Mais, parfümiert peruanischen Kondensmilchkuchen mit Yuzuschale und füllt Quinoa-Maki mit Koriandergrün und Frischkäse. Das zeigt: Was heute als Californian Sushi gilt, also komplett undogmatische Varianten wie Inside-out-Maki mit Frischkäse (in Peru Queso), Yuzu und Trüffel, hat seinen Ursprung in der ­Nikkei-Tradition.

Dining Ruhm, Wien
www.diningruhm.at

Pakta, Barcelona
www.en.pakta.es

Ají, Barcelona
www.restaurantaji.com

Sen Sakana
28 W 44th St, New York, NY 10036
Tel.: +1/212/221-9561

Sushisamba
London EC2N 4AY
www.sushisamba.com

Chotto Matte, London
www.chotto-matte.com

Maido, Peru
www.maido.pe

Costanera 700, Peru
www.costanera700.pe

Nobu Restaurants
www.noburestaurants.com