Triploide Austern

Genauso wie Kaviar oder Hummer steht die Auster als Sinnbild für luxuriöse Lebensmittel. Doch vor allem in Frankreich ist sie auch ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor. Und genau das könnte ihr in naher Zukunft zum Verhängnis werden.

Text von Georges Desrues/Fotos von Georges Desrues

Man ist ein wenig ratlos, wenn man am Austernstand von Guillaume Cinquin steht und dort ein Schild mit der Aufschrift liest: „Natürliche bretonische Austern, geboren und aufgezogen im Meer.“ Ja, aber sind denn nicht alle Austern „natürlich“? Und werden sie nicht sowieso im Meer geboren und aufgezogen? „Leider glauben das sehr viele Leute“, sagt der Austernzüchter und schickt ein etwas bitteres Lachen hinterher, „die Verbraucher meinen, dass es für die Erzeugung einer Auster lediglich die Arbeit des Züchters braucht. Und die der Gezeiten. Aber diese Zeiten sind vorbei. Heute stammen etliche unter ihnen aus dem Labor.“

Tatsächlich gilt die Auster bei zahlreichen Verbrauchern bis heute als eines der wenigen ökologisch völlig unbedenklichen Lebensmittel aus dem Meer. Da sie gezüchtet und nicht gefischt wird, bedroht ihr Konsum auch keine Bestände durch Überfischung. Von artfremder Haltung kann in ihrem Fall keine Rede sein. Und da sie sich von dem ernährt, was sie aus dem Wasser filtert, braucht sie auch keine zugesetzte Nahrung. Wodurch sie im Unterschied etwa zu einigen Fischzuchtanlagen nicht die Umwelt belastet durch Fischfutterverbrauch beziehungsweise Konzentration von Exkrementen.

Doch schon vor einigen Jahren hat das Französische Institut für Meeresforschung Ifremer (Institut français de recherche pour l’exploitation de la mer) damit begonnen, sogenannte Vier-Jahreszeiten-Austern im Labor zu züchten. Und zwar in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Denn im Austern-Land Frankreich wusste bisher so gut wie jedes Kind, dass man die Schalentiere nur in den Monaten mit „r“, also von September bis April, essen soll.

Grund für die Saisonalität der Auster ist der Fortpflanzungszyklus der Tiere, der bedingt, dass sie in den übrigen wärmeren Monaten Fischmilch produzieren und somit eine „milchige“ und fettere Konsistenz sowie einen bitteren Geschmack aufweisen, was beides nicht jedermanns Sache ist. Gleiches gilt für solche unter ihnen, die in Folge ihre Eier abgelegt haben und danach etwas abgemagert und verkümmert in ihren Schalen liegen.

Nun ist es aber so, dass gerade in den Sommermonaten viele Franzosen ­ihren Urlaub am Meer verbringen und diesen gerne mit ausgiebigen Austern-Gelagen aufpeppen wollen. Um sie zu befriedigen und um im Gleichschritt den Austernabsatz in den Monaten ohne „r“ anzukurbeln, hat sich das Institut für Meeresforschung etwas einfallen lassen und die sogenannte triploide Auster entwickelt.

Dabei handelt es sich um eine Auster, die dahingehend manipuliert wurde, dass sie fortan nicht mehr zwei, sondern drei Chromosomensätze enthält. Wodurch sie unfruchtbar bleibt und im Sommer auch nicht die unter Liebhabern so gefürchtete Milch entwickelt. Geschweige denn nach getanem Eierablegen verkümmert.

Dazu wurde in einem ersten Schritt und durch Einsatz von Chemie eine männliche tetraploide (vier Chromosomensätze) Auster entwickelt, die man mit einer ­diploiden weiblichen Auster gepaart hat. Woraus die ­triploide und sterile Auster entstand. Ein Segen für die gesamte Branche – möchte man meinen. Denn was als Geschenk an die Austernzüchter gedacht war, stößt ­einigen von ihnen bitter auf. Darunter auch Cinquin. „Gewählt habe ich diesen Beruf, um draußen in freier Natur zu sein und ein völlig unbedenkliches, naturnahes Lebensmittel zu erzeugen. Und nicht ein genmanipuliertes Produkt, dessen Auswirkungen kaum jemand abschätzen kann“, klagt der 36-Jährige.

Ob es sich bei dem biotechnologischen Eingriff jedoch tatsächlich um eine „genetische“ Manipulation handelt, wie der Austernzüchter es darstellt, bleibt dahingestellt. Andere sprechen eher davon, dass die Genetik der Auster verändert wurde. Was zwar ähnlich klingt, aber doch einen wesentlichen Unterschied ausmachen soll. Denn offenbar habe es die triploide Auster schon zuvor auch in freier Natur gegeben. Den Wissenschaftlern sei es somit lediglich gelungen, deren Eigenschaften durch konventionelle Eingriffe an diploide Exemplare weiterzugeben.
Doch das Problem liegt sowieso nicht in der Frage allein, ob die Tiere nun als genmanipuliert bezeichnet werden können oder nicht.

„Hauptproblem ist, dass die triploiden Austern nicht als solche gekennzeichnet werden müssen. Und der Konsument folglich keine Ahnung davon hat, dass das, was er da kauft, ­weniger natürlich ist, als er annehmen würde“, ­beanstandet Cinquin, der seine Austern aus genau ­diesem Grund und wie mittlerweile zahlreiche gleichgesinnte Kollegen als „natürlich“ und „im Meer geboren“ anpreist.

In der Tat ist es für den Laien kaum möglich – selbst wenn es sich um einen Auskenner handelt und er häufig Austern isst –, mit freiem Auge einen Unterschied zwischen den beiden Varianten zu erkennen, geschweige denn ihn zu erschmecken. Was wohl ein weiterer Grund dafür ist, dass sich zahlreiche Züchter haben überzeugen lassen, umgestiegen sind und inzwischen ausschließlich die ganzjährig einheitlichen Triploiden anbieten; und auch etliche Wirte, Küchenchefs und sogar ausgezeichnete Spitzenköche vermehrt darauf zurückgreifen. Ausschließlich mit der Labor-Auster arbeitet unter anderen auch der prestigereiche Zuchtbetrieb Gillardeau. Einer der wenigen, dem es gelungen ist, seine Austern zu „branden“ und als Gillardeau-Auster auch in der österreichischen Spitzengastronomie zu vertreiben.

Zwischen jenen Austernzüchtern, die wie Cinquin konventionell arbeiten, und solchen, die auf die im Labor entwickelten Austernsetzlinge zurückgreifen, ist inzwischen ein heftiger Streit ausgebrochen. Zusätzlich angeheizt wurde dieser durch einen vor wenigen Wochen erschienen und in Frankreich viel beachteten Dokumentarfilm mit dem Titel L’huître ­triploïde, authentiquement artificielle („Die triploide Auster, auf authentische Art künstlich“), der die beiden Gruppen mit ihren jeweiligen ­Argumenten gegenüberstellt.

„Mit dem Film wollten wir zeigen, welche Spannungen herrschen im Milieu der französischen Austernzucht“, sagt Grégoire de Bentzmann, einer der Macher des Films. „Wir wollten den ­traditionellen Züchtern, die mittlerweile in der Minderheit sind, eine Plattform bieten, um ihre Argumente vorzubringen. Und den Verbraucher darüber aufklären, was sich tatsächlich hinter der vermeintlich natürlichen Meeresfrucht verbirgt.“

Im Film erfährt man unter anderem, dass neben ihrer ganzjährig gleich bleibenden Qualität als weiterer Vorzug der triploiden Auster gilt, dass sie, da sie ihre Energie nicht für die Fortpflanzung verbraucht, auch schneller wächst und somit früher geerntet werden kann. Nämlich nach bereits zwei Jahren im Gegensatz zu den drei bis vier Jahren, die ihre konventionelle Artgenossin braucht.

Traditionelle Züchter indessen weisen darauf hin, dass die triploiden Tiere wissenschaftlich nicht ausreichend erforscht sind. Womit das Vorsorgeprinzip nicht eingehalten werde; und somit ihre Aufzucht sowie deren Auswirkungen auf die Umwelt unberechenbar blieben beziehungsweise zur Bedrohung ausarten könnten. Das erinnert dann doch wieder an genmanipulierte Pflanzen, gegen die gleichfalls wiederholt die Kritik eingebracht wird, dass sie ausgepflanzt wurden, noch bevor man ihre Effekte auf Natur und menschliche Gesundheit genau abschätzen konnte.

Doch welche Risiken birgt die im Labor entwickelte Auster tatsächlich? Zum einen warnen Kritiker vor der möglichen Kontaminierung ihres maritimen Umfelds. So sei es durchaus möglich, dass Exemplare der vom Meeresforschungsinstitut entwickelten und sehr wohl fruchtbaren tetraploiden Austern „ausbrechen“ beziehungsweise verloren gehen und sich in freier Natur mit natürlichen Austern paaren könnten. Was für die Bestände an natürlichen Austern mittelfristig verheerende Auswirkungen haben würde.

Zum anderen sei es auch keinesfalls ausgeschlossen, dass es einigen ­Exemplaren der triploiden und vermeintlich sterilen Austern sehr wohl gelingen könnte, sich fortzupflanzen. Um sich in Folge gleichfalls mit ­diploiden zu paaren, was bei Letztgenannten zu einer genetischen Schwächung und sonstigen noch unbekannten Folgen führen könnte.

Ein weiteres, gröberes Problem für die Austernzüchter ist, dass ihre Austern seit nun schon einigen Jahren immer weniger resistent sind gegen Krankheiten. So hat sich beispielsweise ab dem Jahr 2008 ein Virus ausgebreitet, das inzwischen für eine Sterberate von 50 Prozent unter den Austern in ausnahmslos allen Zuchtgebieten Frankreichs sorgt.

Im Jahr 2013 schließlich wurde zudem eine Bakterie entdeckt, die sich gleichfalls rasant und verheerend über die Austernbänke im ganzen Land ausbreitet. Für viele der traditionellen Züchter besteht kein Zweifel, dass die Schwächung der Widerstandskraft ihrer Tiere mit der Einführung der triploiden Austern in Zusammenhang steht.

„Das Problem war von Anfang an die Gier“, findet auch Züchter Cinquin. „Es ist doch schon ein glatter Wahnsinn, Millionen Austernlarven in einen Plastik­eimer in einem Labor zu pferchen. So etwas kann doch gar nicht gut gehen.“ Er selbst habe ab 2008 einige sehr schwere Jahre durchlebt, mit der hohen Sterbe­rate unter seinen Tieren inzwischen jedoch zu leben gelernt. Umsteigen auf die triploide Auster komme für ihn jedenfalls nicht in Frage.

„Ich kann darauf verzichten, dass mir jemand mein Produkt erzeugt, das wird mir doch vom Meer gegeben“, sagt Cinquin. Aber wie es in Zukunft weitergehen soll, das wisse er nicht. Noch dazu, wo rund um seine eigenen Austernbänke etliche Nachbarn schon vor Jahren auf die Labor-Austern umgestiegen seien und mittlerweile mit höheren Sterberaten zu kämpfen hätten als er selbst. „Die Auster ist ein saisonales ­Lebensmittel, ein Luxusprodukt, das zwar für die ­Feiertage bestimmt ist, sich aber dennoch jeder leisten kann. Und genau das sollte sie auch bleiben. Was es also dringend braucht, ist eine Rückkehr zur Vernunft“, findet der Züchter. „Und außerdem endlich eine verpflichtende Kennzeichnung der Triploiden“, fügt er an. Und spricht damit wohl etlichen Verbrauchern und Austernliebhabern aus der Seele.

Frankreich ist der mit Abstand größte Produzent von Austern in Europa. Der überwiegende Teil der Produktion entfällt auf Austern der Sorte Crassostrea gigas oder Pazifische Felsenauster, die, wie ihr Name sagt, aus dem Pazifik stammt. In Frankreich eingeführt wurde sie in den 1970er-Jahren, als diverse Krankheiten die damals noch intensiv gezüchtete autochthone ­Europäische Auster (Ostrea edulis) dezimierten. Letztgenannte ist flacher und runder als die aus Japan ­importierte und wird heute nur mehr als exklusiveres ­Nischenprodukt und unter anderem unter dem Namen „Belon“ vermarktet. Die triploide Auster, die mit drei anstatt mit nur zwei Chromosomensätzen ausgestattet ist, wurde um das Jahr 2008 im großen Stil eingeführt. Heutzutage besteht schätzungsweise die Hälfte der in Frankreich erzeugten Austern aus Triploiden, deren Larven nicht, wie über Jahrhunderte üblich, im Meer gesammelt, sondern im Labor gezeugt werden. Gegenüber den natürlichen Austern, deren Qualität von den Jahreszeiten, dem Wetter, den Gezeiten und ihrem jeweiligen Terroir abhängt, haben Triploide den Vorteil, dass sie das ganze Jahr hindurch und allerorts von gleichbleibender Qualität sind. Zudem wachsen sie schneller und sind somit wirtschaftlich einträglicher.