Überleben im Burgenland

Zum Bestehen in freier Wildbahn braucht man eigentlich nur Dreierlei: einen Spitzenkoch, einen Fotografen und einen Kabarettisten.

Text von Thomas Maurer Fotos von Ingo Pertramer

Prolog

Die Idee war, wie alle großen Ideen, im Kern simpel.

Und sie erblickte, wie viele große Ideen, an einem Wirtshaustisch das Licht der Welt; ein Licht, das, wie in solchen Fällen häufig, jene heimelige Rottönung hatte, die sich zwei mit gutem Wein auf optimale Betriebstemperatur angeglühten Köpfen verdankt.

Der Wirtshaustisch stand in der Taubenkobel-Greißlerei, der eine Glühkopf gehörte Walter Eselböck, der andere war meiner und die Idee folgende: Wir sollten uns für eine spektakuläre A la Carte-Reportage zusammentun, die wir „Überleben im Burgenland“ nennen würden. Hinaus ins wilde Burgenland würden wir ziehen und von dem leben, was Mutter Natur in ihrer pannonischen Ausprägung für jene bereithält, die ihre Gaben zu erkennen und zu nutzen verstehen.

Also für uns, zum Beispiel.

Nicht umsonst ist schließlich Walter der gefeierte wildpflanzenaffine Radikalregionalist, der er nun einmal ist, und auch meine Jugendjahre als Pfadfinder versprachen so, nachträglich einen tieferen Sinn gehabt zu haben.

Wichtig dabei wäre aber jedenfalls, da waren wir gleich einig, nur ja keinen halblustig gepflegten kulinarischen Kräuterpflückausflug für fadisierte urbane Feinspitze zu veranstalten, sondern das Thema angemessen radikal und kompromisslos anzugehen: Am besten (aber für berufstätige Familienväter natürlich leider unrealistisch) wäre es, überhaupt gleich zwei bis drei Wochen zwischen Neusiedler See und Leithagebirge zu überleben; drei, vier Tage sollten es aber jedenfalls sein, sonst könne man das Ganze ebensogut gleich bleiben lassen.

Wenn schon, dann richtig.

Lediglich das um drei Uhr früh spontan nicht lösbare Problem, keinen Fotografen dabeizuhaben, hielt uns in jener historischen Nacht davon ab, sofort und vom eigenen Überschwang mitgerissen mit einem Schlafsack unterm Arm in den burgenländischen Jänner zu stürmen („Im Frühling kann das ja, simma uns ehrlich, ein jeder!“ war unser gemeinsames Credo).

Ersatzhalber stillten wir unsere frisch angefachte Unternehmungslust noch mit einer Exkursion in die menschenleeren nächtlichen Weiten der Taubenkobel-Küche, wo es uns, ganz auf uns allein gestellt, tatsächlich gelang, mit bloßen Händen noch eine Flasche Wein und einen kleinen Imbiss zu erbeuten.

Ein gutes Omen, auch da waren wir uns einig.

Das Abenteuer

Kaum 16 Monate später ist es dann auch schon tatsächlich so weit.
Zwar herrscht – ein bedauerlicher Wermutstropfen hinsichtlich der projektierten Radikalvariante – strahlendster, in frischestem Grün strotzender Frühling. Aber wer nicht fähig ist, sich veränderten Umständen geschmeidig anzupassen, der wird in der Wildnis ohnehin nicht alt.

Obendrein wurden wir von den Schwierigkeiten, einen gemeinsamen Termin für Walter, Ingo Pertramer und mich zu finden, bereits in der Planungsphase dazu gezwungen, unser kulinarisches Überlebenstraining auf gerade einmal eine einzige Übernachtung zusammenzustreichen. Aber schließlich zählt nicht die schnöde Menge, sondern die Qualität von Erlebnissen.

Auch der an sich stimmige Gedanke, die Anreise nach Schützen aus Gründen der Einstimmung darauf, fürderhin auf die eigenen Kräfte reduziert zu sein, zumindest mit Fahrrädern zu absolvieren, konnte leider aus Zeitgründen nicht umgesetzt werden. Immerhin komme ich mit dem am Steuer seines komfortablen Autos sitzenden Ingo überein, für die Dauer der Anreise die Klimaanlage auszuschalten.
Die im Heck verstauten Zelte und Schlafsäcke sind notwendige Kompromisse.

Wenn schon kaum 36 Stunden zur Verfügung stehen, um unter extremsten Bedingungen zu überleben, wäre es, so reizvoll der Gedanke auch sein mag, schlicht unvernünftig, noch extra Zeit für das Fertigen von Weidenbiwaks und das Flechten von Schlafmatten aus Wildgräsern zu opfern.

Vor dem Taubenkobel, dem letzten Vorposten der Zivilisation, den wir für lange Zeit zu sehen planen, wartet bereits, unweigerlich an die Helden Karl Mays erinnernd, die hochgewachsene, wettergegerbte Gestalt Walter „Walt“ Eselböcks, unseres Scouts und Fährtenlesers.

Von seinem geschulten, das Buch der Natur enträtselnden Blick wird unser beider Wohlergehen nun abhängen; seine nervigen Trapperhände werden uns nähren. Ich beschließe, ihn, als Reverenz an seine bürgerliche Existenz als Meisterkoch, von nun an im Geiste „Old Meisterhand“ zu nennen.

Der Waldläufer hebt gemessen grüßend die Rechte und spricht feierlich: „I muss mir noch überlegen, was wir heut genau machen sollen. Wollt’s was frühstücken derweil?“

Ingo und ich zweifeln keine Sekunde, dass man beim Überleben in der Wildnis gut daran tut, den Anordnungen des diensthabenden Survivelexperten bedingungslos zu folgen, mögen sie auch als höfliche Fragen getarnt sein.

Als wir uns eben über unsere knusprigen Eier hermachen, tritt Eveline Eselböck auf den Plan, die Hausherrin und Gattin unseres Anführers.

„Was macht’s denn ihr da?“, fragt sie. „Ich hab ’glaubt, ihr seid’s im Wald?“

In der Küche des Etablissements beobachten wir dann mit scheuer Bewunderung, wie Walter mit traumwandlerisch sicheren Griffen die wenigen Utensilien zusammensammelt, die uns das Überdauern in der gnadenlosen Natur möglich machen sollen. Nur das Nötigste wird eingepackt: eine Pfanne, eine Kasserole, Öl, Essig, Salz, Zucker und zwei mit einer blassgelben Flüssigkeit gefüllte Einsiedegläser, deren Zweck uns Stadtkindern unklar bleibt; zumindest bis Alain Weissgerber, Walters Schwiegersohn und gleichberechtigter Mitkoch, überraschend um die Ecke biegt: „Was machst denn mit dem Backteig, bitte?“, fragt er. „Ich hab ’glaubt, ihr macht’s auf Naturburschen?“

„Und was glaubst, womit ich sonst die Hollerblüten rausbacken soll?“, weist Old Meisterhand das vorlaute Greenhorn würdevoll zurecht, worauf dieses beschämt schweigt.

Doch nun beginnt es wirklich, unser Freiluft­abenteuer.

Wir brechen – zugegebenermaßen in Walters geräumigem Allradfahrzeug, aber was will man machen, die Zeit drängt, und zu Fuß gehen würde einfach zu lange dauern – auf, um die erste Wildpflanze zu ernten: Bachkresse, eine ausladende, hocharomatische Pflanze, die in großen Mengen an einem ­nahegelegenen Wasserlauf wuchert und auch immer wieder im Menü des Taubenkobels auftaucht.

Und weil im Urmenschen-Modus befindliche Überlebenskünstler wie wir grundsätzlich jede Proteinquelle nutzen, sammeln wir auch die kleinen, auf der Kresse sitzenden, spitzbehausten Schnecken ein.

Ingo und ich setzen unsere gelehrigsten Minen auf und verlangen, näheres über die Schnecken zu erfahren.
Exakt die hätte er zwar auch noch nie gegessen, räumt Walter ein, aber letztlich sei eine Schnecke, zumindest wenn sie keine Nacktschnecke sei, im Prinzip eine Schnecke und jedenfalls essbar.

Die Tatsache, dass wir uns an einem Wasserlauf befinden, erinnert unseren Guide an den Umstand, dass ein solcher im Umland von Oggau, wo wir lagern werden, fehlt.

Hier ist nun Einfallsreichtum, Reaktionsschnelligkeit und Improvisationsvermögen gefragt, und so schlagen wir uns kurz entschlossen zum vor erst drei Monaten eröffneten Schützener Adeg-Laden durch, um ein Sechserpaket mit Eineinhalb-Liter-Flaschen Wasser zu erstehen. Weil wir schon da sind, packen wir auch gleich noch Klopapier ein, Gläser aber, so befinden wir einhellig, bräuchten wir nicht, schließlich sei die Natur kein Hotel.

Bei allem komfortverachtenden Abenteurermut ist Walter dann aber doch zu verantwortungsvoll, um uns ohne ein einfaches Desinfektionsmittel für den Fall von Verletzungen oder Verstimmungen des Verdauungstraktes die Grenzen des besiedelten Gebietes überschreiten zu lassen. Und so werden im Zuge eines Abstechers in den Verkaufsraum der Taubenkobel-Greißlerei noch drei von ihm nach kritischer Musterung für tauglich befundene Flaschen Wein dem Gepäck hinzugefügt.

Barbara, die Tochter von Walter und Eveline und Frau von Alain, bricht überraschend mit der schockierenden Plötzlichkeit eines angreifenden Grizzlys hinter einem Regal hervor: „Was macht’s ihr in der Greißlerei, bitte?“, fragt sie. „Hat’s net geheißen, ihr tuts heut irgendwo draußen zelteln?“

Von der anderen Seite taucht obendrein abermals Eveline auf. „Na hallo!“, sagt die charmante Chefin des Taubenkobels. „Wieso seid’s denn ihr schon wieder da?“

Wenig später sieht uns die gnadenlos sengende Maisonne meterweit von jeder befestigten Straße entfernt ernten, woran unwissende Zivilisationskrüppel einfach vorbeigehen würden: Spitzwegerich und Labkraut zum Sautieren, junge Schilfstengel, deren grüne Ansätze man einfach so knuspern kann, die feinen blauen Blüten von Nessel und wildem Salbei, die fast schon üppig süßen weißen Blüten der Akazien sowie, als kulinarisches Experiment, die dicken, weich behaarten Stengel einiger sehr großer Disteln, die wir – schließlich sind ja Artischocken auch nicht viel was anderes – zu schälen und zu ­garen beabsichtigen.

Mit den wachen Augen des Waldläufers begutachtet Walter die ­Ausbeute unserer Sammlertätigkeit. Seine Zufriedenheit mit unseren Lernfortschritten hüllt er, wie es von Alters her die Manier weiser Lehrmeister ist, in eine rhetorische Frage: „Soll ma amal was trinken?“

Und so landen wir, nachdem wir uns unterwegs noch auf einen Lagerplatz für die Nacht geeinigt haben, in Ermangelung eines erreichbaren Wasserloches im „Gut Oggau“-Heurigen. Ein Mann nähert sich unserem Tisch. „Zounds!“, entfährt es mir nach Westmannsart, als ich ihn erkenne: Ein glücklicher Zufall will, dass der Mann, der die wunderbaren hiesigen Weine macht, kein anderer als Walter Eselböcks Schwiegersohn Eduard Tscheppe ist! Auch er erkennt sei­nerseits uns: „Da schau her!“, sagt er grüßend. „Solltet’s ihr nicht irgendwo da draußen Hollertriebe und ­wilde Karotten sammeln?“

Dann aber besinnt er sich darauf, dass im Grenzland zur Wildnis eine uralte Gastfreundschafts­tradtion gebietet, müden Wanderern einen Labetrunk zu kredezen. Auch den nicht minder ehrwürdigen Brauch, bei passender Gelegenheit obendrein eine ordentliche Portion Blunzen auf den Tisch zu bringen, hält er erfreulich hoch in Ehren.

Gemeinsam mit der Blunzen kommt die Frage auf den Tisch, ob wir uns nur als Sammler oder auch als Jäger profilieren sollen. Walter macht Andeutungen dahingehend, dass die beliebten Ruster Jungstörche in ihren malerischen Nestern seiner Einschätzung nach gerade ungefähr hühnergroß sein müssten. Gott sei Dank tritt, noch ehe wir das Für und Wider dieses Fingerzeigs abwägen können, auch Walters Tochter Steffi an den Tisch und sagt: „Aha. So schaut das also aus, wenn ihr auf Pioniere macht’s? Und warum stehen da überhaupt am helllichten Nachmittag so viele Weinflaschen herum?“

Zeit, das Basislager zu errichten und endlich zu kochen.

Der quälendste Hunger ist zwar durch Brot und Blunzen gestillt, aber andererseits kann gegen den Hunger essen bekanntlich jeder Depp.

Kaum am Lagerplatz angekommen (wir haben das Auto wohlweislich so abgestellt, dass es auf den Fotos nicht den erhabenen Eindruck völliger Abgeschiedenheit trüben wird), erlebt unsere Expedition einen herben Rückschlag: Ich hatte zwar die Umsicht, zwei Zelte zu besorgen, die Umsicht, zu kontrollieren, ob auch beide über nützliche Details wie Heringe, Überzelte und ausreichend Stützstreben verfügen, hatte ich leider nicht.

Dennoch gelingt es uns, zwei Gebilde zu formen, die nicht nur auf den Bildern wie Zelte wirken, sondern uns sogar ein Übernachten erlauben sollten, immer vorausgesetzt, es regnet nicht.

Während dieser Tätigkeit bergen wir den noch recht frischen Leichnam einer Maus. Und obwohl im Urmensch-Modus befindliche Überlebenskünstler wie wir eigentlich grundsätzlich jede Proteinquelle nutzen, schleudern wir sie dann doch unter mädchenhaftem Kreischen in eine Hecke.

Dafür schmecken die am Bach gesammelten Schnecken tatsächlich, in Salzwasser gegart, gar nicht übel, die Gehäuse sind, jetzt im Mai, noch so dünn, dass man sie wie bei kleinen Shrimps einfach mitknuspern kann. Und die geschälten, sautierten Distelstengel erweisen sich sogar als ausgesprochene Entdeckung. Dennoch sind wir dankbar, dass Walter die vorausschauende Kaltblütigkeit hatte, ausreichend Backteig für die ringsum wachsenden Hollerblüten mitzunehmen.

Wir sind satt, und das Leben könnte schön sein, wenn nicht eine kurze Bestandsaufnahme überraschend ergebe, dass sämtliche mitgebrachten Weinflaschen inzwischen leer sind, sogar die eine, die uns Edi Tscheppe zusätzlich mitgegeben hat.

Eigentlich könnten wir uns nun nach einem Tag voller Strapazen erschöpft in den tiefen, traumlosen Schlaf der körperlich rechtschaffen Erschöpften fallen lassen. Wären da nicht die dunklen Wolken, die sich am Horizont zusammenballen und mit finsterer Entschlossenheit in Richtung unserer heringsarmen, überzeltlosen Zelte vorrückten.

Einmal mehr sind es die Kaltblütigkeit und Ortskenntnis unseres Führers und Pfadfinders, die uns retten. Unter seiner Anleitung gelingt uns die Rückkehr ins nahegelegene Gut Oggau buchstäblich in letzter Minute, bevor uns lästiges Nasswerden die Freude am nun temperamentvoll losbrechenden Gewitter unweigerlich verdorben hätte.

Im Trockenen aber, gestärkt durch ein Glas Wein und einen späten Imbiss, können wir das naturromantisch erhabene Schauspiel von Blitz, Donner und Regenguss auch aus ästhetischer Warte genießen.

Beeinträchtigt wird unsere wohlverdiente Abendrast lediglich durch einen erfolgreichen Überraschungsangriff von Eveline und Barbara Eselböck, die offenbar im Taubenkobel Schichtende haben und uns plötzlich, begleitet von Ausrufen wie „Das gibt’s ja net!“, „Na ihr seid’s schöne Helden!“ und „Geniert’s euch ihr gar net?“ zu umzingeln beginnen.

Prompt fallen uns auch Steffi und Eduard in den Rücken und stacheln die Schmählust der beiden mit einer manipulativen, grob verkürzten Darstellung unserer nachmittäglichen Heurigenrast noch zusätzlich an.

Ingo und ich nehmen uns ein Beispiel an Old Meisterhand und ertragen die Lästerungen stoisch würdevoll wie an den Marterpfahl geratene Apachen.

Diese Taktik trägt Früchte, und schon ein paar Gläser Wein später behandelt man uns mit dem nachsichtigen Respekt, der erschöpften Survivalveteranen gebührt. Walter wird von seiner Squaw nach Hause expediert; Ingo und mich quartiert man pragmatisch in die unweit gelegene Fahrradpension „Drahteselböck“ ein, wo wir dann, nicht ganz schwindelfrei, aber glücklich, nach einer heißen Dusche unter die kühlen, frischgebügelten Laken schlüpfen.

So lässt sich die Wildnis ertragen.

Man muss sie nur zu nehmen wissen.

Epilog

Das Frühstück am nächsten Morgen verläuft äußerst einsilbig. Das gemeinsam durchgestandene Überlebensprogramm hat Walter, Ingo und mich offenbar so zusammengeschweißt, dass wir keiner überflüssigen Worte mehr bedürfen. Mit tief nachdenklichen Mienen begeben wir uns an die Überreste unseres Lagerplatzes, mit kranichhaft bedächtigen Bewegungen räumen wir ihn auf: geschwächt, aber nicht geschlagen. An der Aufgabe gewachsen.

Doch nun gilt es, Abschied zu nehmen.

Auf dem Rückweg erklärt Ingo, sich die Bilder schon ein bisschen durchgesehen zu haben, und die würden eigentlich tadellos den Eindruck erwecken, wir hätten gezeltet und uns wie ursprünglich ausgemacht von dem ernährt, was die Natur bietet.
Ich begrüße das, kündige aber an, den Text so zu verfassen, dass er ein von der Bildstrecke abweichendes, dafür aber wirklichkeitsgetreueres Bild liefert.

Immerhin könnten wir dann, so führe ich weiter aus, wenn uns Leute auf den Artikel ansprechen, problemlos zwischen denen, die tatsächlich den Text gelesen haben, und denen, die nur die Bilder anschauen, unterscheiden.
„Das ist gut“, sagt Ingo und betätigt den Einschaltknopf der Klimaanlage, „so mach ma’s.“