Wo der Schein gerne trügt

In der Mode- und Designmetropole Mailand lohnt stets ein zweiter Blick hinter die Fassade. Da verbergen sich sowohl hinter düsteren Mauern als auch in anonym ­wirkenden Neubauten die trendigen Verheißungen.

Foto von Photecnica Srl / Andrea Di Lorenzo
Text von Georges Desrues
Das Camparino am Eingang der Galleria Vittorio Emanuele II gilt als eine der schönsten Tagesbars Italiens.

Das Grätzl rund ums Restaurant Ratanà weckt Erinnerungen an das Mailand aus dem neorealistischen Kino der Nachkriegszeit – an eine dieser zahlreichen Szenen, die verloren wirkende Zuwanderer aus dem ländlichen Süditalien vor der Kulisse der rasant wachsenden Stadt und ihrer zahlreichen Baustellen zeigen. Nur, dass hier heute nicht düstere Wohnbauten für zugewanderte Fa­briksarbeiter entstehen, sondern glitzernd-gläserne Bürotürme für Banken, Start-ups und IT-Betriebe. Und dazwischen, völlig unerwartet, mitten im funkelnd neuen Stadtviertel, reichlich deplatziert unter Baukränen, futuristischen Wolkenkratzern und den üppig begrünten Türmen von Stefano Boeris weltbekanntem Bosco Verticale (senkrechter Wald): eine hübsche, zweistöckige Gründerzeitvilla mit Schanigarten und Kinderspielplatz vor der Tür.

„Als wir vor nun etwas mehr als zehn Jahren das Lokal eröffneten, war das hier noch ein ziemlich verrufenes Bahnhofsviertel und das Haus ein Depot der Eisenbahn“, erzählt der Wirt Cesare Battisti, während er in Kochjacke am Eingang des Restaurants und im Schatten der Wolkenkratzer seine Gäste empfängt. Im
Inneren des Lokals erinnern gleich mehrere Elemente an die Geschichte des Hauses, darunter etwa die alten Schienen, die einst darin lagerten und nun zu Tischen oder einem imposanten Weinregal upgecycelt wurden.

Dazwischen hängen Designer-Lampen und moderne Kunstwerke. Alles in allem vertraute Osteria-Stimmung mit einem gehörigen Touch Moderne. Eine Mischung, die sich auch in der Speisekarte widerspiegelt. Tatsächlich entwickelte sich das Ratanà im Jahrzehnt seines Bestehens zu ­einer Art Hochburg der klassischen Mailänder Küche, vom Küchenchef immer wieder angereichert mit zeitgenössischen und persönlichen Elementen. Wie etwa sein stadtbekanntes Risotto alla Milanese, das mit Safran und Knochenmark zubereitet und hier mit Bratensaft garniert wird. Oder sein Osso­buco, dem er eine persönliche Note verpasst, ­indem er die Gemüse des „soffritto“, also des Wurzelwerks, passiert und als sämige Sauce zu den Kalbsstelzenscheiben reicht. Und so spricht Battistis gekonnte Mischung aus Alt und Neu auch ein ziemlich heterogenes und dennoch durch und durch ortstypisches Publikum an: mittags mehrheitlich Damen und Herren im Business-Outfit, abends eher die Kreativfraktion.

Bekannt ist Mailand ja für sehr vieles. Etwa als Finanz-, Wirtschafts-, Design- und Mode-Hauptstadt Italiens. In Sachen Kulinarik indessen belegt die Stadt, wenn man ehrlich ist, nicht gerade einen Spitzenplatz. Zumindest nicht in Italien. Bis auf das bereits Genannte, also Risotto und Ossobuco sowie die Costoletta, die lokale Version des panierten Kalbsschnitzels, gibt es kaum Mailänder Gerichte, die es in den Olymp der italienischen Küche geschafft haben. Zudem fehlt etwa ein eigenes Pasta-Format – für italienische Städte mehr als erstaunlich – gänzlich. Und auch auf alteingesessene, bodenständige Trattorien und Osterien trifft man hier viel seltener als anderswo im Land.

Nachhaltiger Ausblick
Andererseits ist Mailand, im Unterschied zu so gut wie allen italienischen Städten, schon seit jeher ein Ziel für Zuwanderer. Was, in Kombination mit der vergleichsweise hohen Zahlungskräftigkeit seiner Bewohner, für eine hohe Dichte an Lokalen sorgt, die – und auch das ist landesweit unüblich – restitalienische oder sogar internationale Küche bieten, und obendrein zahlreiche Küchenchefs anzieht, die hier Ableger ihrer erfolgreichen Restaurants betreiben. Einer davon ist der Südtiroler Norbert Niederkofler. Letzten Herbst eröffnete der Dreisternekoch ein Lokal namens Horto in zentraler Lage und auf dem Dach eines Gebäudes mit Terrasse und sen­sationellem Ausblick auf die beiden Wahrzeichen der Stadt: die Kuppel der Galleria Vittorio Emanuele II und den Turm des Mailänder Doms.

Das Konzept des Lokals entspricht dem, was man von Niederkofler (zumindest seit einigen Jahren) erwarten darf. Gekocht wird nämlich mit ethischem Anspruch. Was bedeutet: höchstmögliche Abfallvermeidung und Zutaten, die nahezu ausschließlich aus einem Umkreis von einer Autostunde stammen, sowie Verzicht auf Meeresfisch. Vor allem die beiden letzten, selbst auferlegten Restriktionen überraschen im Falle Mailands dann doch etwas. Zumal zu einer Metropole auch ein finanzkräftiger Lebens­mittelmarktplatz gehört und somit hier nicht nur eine Fülle an Zutaten aus ganz Italien und der Welt in höchster Qualität und Frische erhältlich, sondern obendrein das Mittelmeer in gerade einmal zwei Autostunden erreichbar ist.

Aber gut: soll sein. Und so isst man eben ein Filet vom Zuchtzander aus dem Iseosee, das der junge, aber erfahrene Executive Chef Alberto Toè mit Wirsing, hausgemachtem Kombucha und einer Pastete aus der Leber des Fischs anrichtet. Vor allem aber ein dunkelgrünes und optisch wie geschmacklich sehr stimmiges Risotto mit Leimkraut, das am Tisch mit Kefirflocken bedeckt wird und dieserart an das frühlingshafte Auftauchen der Pflanzen unter der Schneedecke erinnern soll. Das alles bei eindrucksvollem Blick über die Dächer der Innenstadt und die neuen Wolkenkratzer bis hin zu den noch schneebedeckten Alpen.

Minimalismus à la Niko Romito
Nur einen Steinwurf vom Horto entfernt, auf der anderen Seite der Galleria und gleichfalls mit atemberaubendem Ausblick, diesmal auf den Mailänder Dom und seinen Platz, hat sich ein weiterer dreifach besternter Koch niedergelassen. Das Konzept des Süditalieners Niko Romito aus den Abruzzen ist allerdings ein gänzlich anderes. So stammen die geschröpften und nur leicht angebratenen Makrelenfilets, die in perfekter Romito-Manier minimalistisch auf einer Creme aus Zitrusfrüchten und Petersilie daherkommen, gar aus dem Pazifischen Ozean. Und zwar deswegen, wie Executive Chef Gaia Giordano lapidar erklärt, weil sie zu dieser Jahreszeit dort am fettesten und am besten seien.

In seiner Einfachheit beeindruckend gerät auch die Pasta Cacio e pepe, eine Art Signature Dish des Meisters, das hier, im Eiernudelgebiet Nord-italien, nicht mit in Süditalien üblichen Spaghetti, sondern mit Tagliatelle serviert wird. Als wahre Explosion an Frische und Geschmack entpuppt sich schließlich ein Gericht namens Assoluto di agrumi, das aus einer Creme aus Bergamotte, ­Zedrat und sonstigen Zitrusfrüchten besteht und mit einer intensiven Gewürzmischung aus Pfeffer und Kardamom aufgepeppt wird. Angesichts der spektakulären Lage inklusive Ausblick, der hohen Qualität und der durchwegs vernünftigen Preise ist es kein Wunder, dass Romitos Spazio zu den angesagten Adressen der Stadt zählt.

Alle lieben Trippa
Die angesagteste von allen ist sie allerdings nicht. Diesen Superlativ verdient sich, seit sieben Jahren nahezu unangefochten, ein Lokal namens Trippa, das nur leicht abseits vom Zentrum nahe der Porta Romana liegt. Eine einfache Trattoria im klassischen, um nicht zu sagen altbackenen Stil, mit dunkelhölzernen Tischen und Stühlen und papierenen Servietten und Tischsets. Spezialisiert ist man, wie der Name („Kutteln“) vermuten lässt, auf Innereien, die man in Italien auch Il quinto quarto, das fünfte Viertel, nennt. Allerdings nicht nur. Denn das Lokal bietet obendrein einige der besten vegetarischen Gerichte der Stadt. Darunter etwa die geradezu umwerfenden Melanzane alla Romana mit einer Sauce aus Käse, Pfeffer und frischer Minze. „Wenn ich ehrlich bin, esse ich selbst kaum noch Fleisch“, gesteht Küchenchef Diego Rossi, „deswegen möchte ich ein Lokal eröffnen, in dem saisonales Gemüse die Hauptrolle spielt und Fleisch als Beilage dient.“ Im ständig ausgebuchten Trippa mit seinem konzeptgeladenen Namen wäre das freilich ein etwas allzu riskantes Unterfangen, weswegen man sich vorerst weiterhin an Rossis genauso puristischen wie überzeugenden Fleischgerichten erfreut, wie etwa an den legendären frittierten Kutteln – ein luftig-krachendes Gekröse, das so sanft ist, in Duft, Konsistenz und Geschmack, dass es wohl auch die hartnäckigsten Innereienverweigerer überzeugen würde. Sensationell auch des Küchenchefs Interpretation des klassischen Vitello tonnato, bei dem die Thunfischcreme aufgeschäumt und jeder einzelnen Kalbfleischscheibe untergehoben wird. Beide Gerichte können seit dem Vorjahr auch in einem Ableger des Lokals im fernen Hongkong in China geordert werden.

Mailands Michelin-Chinese
Von dort, also aus China, stammt Giulia Liu. Gemeinsam mit ihrer bereits seit Generationen hier ansässigen Familie betreibt sie mehrere Lokale in Mailand. Flaggschiff des kleinen, im lokalen Chinatown geborenen Imperiums ist das Restaurant Gong, das chinesische Küche mit Fine-Dining-Anspruch bietet, was dem Guide Michelin einen Stern wert war. Und tatsächlich überzeugt die perfekt zubereitete, knusprige und aufwendig nach dem Lehrbuch servierte Pekingente genauso wie die fusionsfreudigen, filigran-zarten Dim-Sum mit Königskrabbe, Black Cod und sardischer Bottarga oder mit geschmortem Schweinernen und Umbria-Trüffel als Fülle. Das alles in einem eleganten, gänzlich durchgestylten orientalistischen Rahmen und mit makellosem Service. Ein chinesisches Spitzenrestaurant, wie man es anderswo in Europa kaum findet – und in Italien nicht erwarten würde –, das aber ganz wunderbar in die multikulturelle, sich konstant verändernde Zuwanderermetropole Mailand passt. —

Adressen

Restaurants

Ratanà
Sehr stimmiges Lokal im neuen Büro­viertel rund um den Bahnhof Garibaldi. Traditionelle Mailänder Küche mit
kreativem Touch. ratana.it

Horto
Kürzlich eröffnetes Restaurant mit ethischem Anspruch des Südtiroler ­Starkochs Norbert Niederkofler in sen­sationeller Lage und mit Dachterrasse. hortorestaurant.com

Spazio
Tolle Lage, große Küche, vernünftige Preise – Starkoch Niko Romitos Geschenk an Mailand.
spazionikoromito.com

Trippa
Angesagtestes Lokal der Stadt mit bestechenden Innereien-, aber auch wundervollen Gemüsegerichten von Küchenchef und Hipster-Ikone Diego Rossi. Reservierung mehr als notwendig. trippamilano.it

Gong
Chinesisches Fine Dining mit italienischen Einflüssen auf höchstem Niveau und in elegant-eindrucksvollem Rahmen. gongoriental.com

Antica Trattoria della Pesa
Alteingesessenes, gutbürgerliches Lokal und idealer Ort, um die Über­legenheit des Wiener Schnitzels gegenüber der Mailänder Costoletta bestätigt zu sehen. anticatrattoriadellapesa.com

Aperitivo

Bar Basso
Genauso verstaubte wie stimmungsvolle Café-Bar, in der angeblich der Negroni Sbagliato (mit Prosecco statt Gin) erfunden wurde. Publikum aus der Kreativbranche und enormer Andrang während Fashion-, Design- und sonstiger Week. barbasso.com

Pasticceria Cova
Monumentales Pracht-Café in der Via Monte Napoleone, der nobelsten aller noblen Einkaufsstraßen.
pasticceriacova.com/it/stores/monte-napoleone

Pasticceria Marchesi
Im Besitz des Modelabels Prada stehende Konditorei im Zwischenstock über der Boutique in der Galleria mit sehenswertem Interieur und Stehcafé. pasticceriamarchesi.com/eu/it/shops.html

Camparino in Galleria
Wunderschöne, mehr als hundertjährige Tagesbar mit historischer Sodawasser-Leitung zum Aufspritzen des namensgebenden Aperitifs. camparino.com

Carico
Cocktailbar Domenico Carellas, des absoluten Stars unter Mailands Mixo­logisten, mit angeschlossenem Martini Room, wo man originellerweise nicht pro getrunkenem Martini, sondern pro verbrachter halben Stunde bezahlt. carico.io

Vineria Eretica
Noch recht neue und dennoch schon sehr angesagte Weinbar mit Speziali­sierung auf trendige Naturweine.
vineriaeretica.it

Cantine Isola dal 1896
Traditionsweinbar im Herzen von Chinatown, die regelmäßig zur Aperitivo-Zeit gestürmt wird.
cantineisola.com

Starbucks
Als die bekannte amerikanische Kette vor wenigen Jahren beschloss, ihre erste Filiale in Italien zu öffnen, ließ man sich nicht lumpen und schuf ein mehr als sehenswertes, ja geradezu umwerfendes Riesen-Café mit eigener Rösterei und allem dazugehörigen Pipapo. starbucksreserve.com/en-us/locations/milano

Birrificio Lambrate
Einer der Pioniere der lokalen Craft-Beer-Szene mit weitläufigem Brew-Pub, Schanigarten und großem Andrang. birrificiolambrate.com/#locali

Bar Luce
Interpretation einer italienischen Café-Bar durch den berühmten manieristischen Filmregisseur Wes Anderson im Gebäude der Fondazione Prada. fondazioneprada.org

Im Schatten von Bürotürmen und Stefano ­Boeris berühmtem Bosco Verticale kocht Cesare Battisti Mailänder Klassiker mit persönlichem Touch, wie etwa Risotto alla Milanese (Foto unten).
© Georges Desrues
© Georges Desrues
Restaurant Horto
© Mattia Parodi
Executive Chef Alberto Toè genießt den Ausblick aus Norbert Niederkoflers Restaurant Horto über den Dächern der Innenstadt.
© Georges Desrues
Auf Monate ausgebucht – die ­wenigen Tische in der hippen Trattoria Trippa
© Georges Desrues
Minimalismus pur: Makrelenfilets (darunter verbirgt sich eine Creme aus Zitrusfrüchten und Petersilie) mit Wirsing.
Niko Romitos Spazio zählt zu den angesagtesten Adressen der Stadt.
© Georges Desrues
Restaurant Gong: ein chinesisches Spitzenlokal, wie man es anderswo in Europa kaum findet
© Gong
© Gong
Bar Luce
© Attilio Maranzano Courtesy Fondazione Prada
Lokale am Kanal Naviglio Grande
© Getty Images