Zurück in die Zukunft
Räuchern, pfeffern, salzen: I dolci geben sich neuerdings höchst pikant. Die internationale Presse feiert Patissiers und Chocolatiers als die neue Avantgarde. Eröffnungen von Dessert-Restaurants weltweit verleihen den süßen Schlusslichtern eine ganz eigene Würze. Verändert sich die süße Küche oder müssen Nachspeisen gar nicht mehr gezuckert sein?
Zurück in die Zukunft
Text von Nina Kaltenbrunner Fotos: beigestellt
Spanien 2011. Das Menü ist beendet, der Tisch geräumt, mit dem Kaffee werden Pralinen gereicht. Die bunt glänzenden Kapseln entfalten ein unwiderstehliches, üppiges Aroma von frischem Kakao im Raum – sobald man sie von ihren hübschen Metallsockeln abgenommen hat. Parfümiert sind die minimalistischen Designformen mit dem Duft edler Rosen, von Zimt oder Ingwer. Beim Genuss der ansehnlichen "Schoko-Desserts" des katalanischen Spitzen-Chocolatiers Enric Rovira handelt es sich allerdings um ein rein olfaktorisches Erlebnis. Seine virtuellen Pralinen sind nicht gerade zum Verzehr konzipiert. Größer kann der Bruch mit kulinarischen Traditionen nicht sein. Neu, geschweige denn revolutionär, ist er dennoch nicht.
Bereits 1932 entwarf der Futurist Dr. Sirocofran eine radikal-exzentrische "Nachspeise", die er in der "cucina futurista", der damals proklamierten, futuristischen Küche wie folgt beschreibt: "Eingekerkerte Düfte: In dünne, leuchtend bunte Ballons führe man einen Tropfen Parfüm ein. Man blase sie auf und erwärme sie leicht, sodass das Parfüm entströmen kann und die Hülle geschwollen bleibt. Man serviere sie gleichzeitig mit dem Kaffee auf kleinen warmen Tellern, wobei man dafür sorge, dass es unterschiedliche Düfte sind, (…) und atme den Duft ein, der von den Ballons ausgeht."
Das allseits begehrte Dessert verlor also bereits im Italien des beginnenden 20. Jahrhunderts an Körper, und ein sinnlicher Duft war alles, was vom Feste übrig blieb. Vergleicht man die Ideologie der Fortschritt forcierenden Künstlerbewegung rund um F. T. Marinetti mit den Errungenschaften der heutigen Avantgardeküche, erscheinen die vermeintlichen Innovationen in blasserem Licht. Im Futuristischen Manifest der 1930er Jahre wurde längst eingefordert "Speisen aufzutischen, die dem dynamischen und "luftigeren" Lebensgefühl des modernen Menschen entsprächen: Kandierte atmosphärische Elektrizität, geschiedene Eier, Elastiksüße usw. " Allen voran sollte die Chemie in die Pflicht genommen werden, denn schließlich stamme "die Speise der Zukunft aus dem Labor!"
Dem visionären Ruf folgte Jahrzehnte später zunächst Ferran Adrià. Der Katalane löste mit seiner "techno-emotionalen" Küche der 90er Jahre ein, was bereits Marinetti urgierte. Er ersann eine Küche für alle Sinne, in der "die Dekontextualisierung, die Ironie, das Spektakel und die Performance absolut zulässig sind". Dabei unternahm er auch die entscheidenden Vorkehrungen für eine neue Entwicklung der Patisserie und löste die Grenzen zwischen den so genannten "Herzhaften" und den "Süßen Welten" auf. Sein Bruder Albert, der damals Leiter der "Süßen Welten" im legendären Restaurant "El Bulli" war, wurde zum Vorbild einer neuen Generation kreativer Dessertkünstler. Wurden Süßspeisen damit zur ernsthaften Konkurrenz für Hauptgang und Co – oder war all das nichts als parfümierte Luft?
Barcelona: Schokodesign und Dessertjuwelen
Kreativität gehört zum Flair der katalanischen Hauptstadt Barcelona. Sie liegt in der Luft wie das Salz des Meeres. Im zentralen Stadtviertel "El Born" buhlen Designer, Artisten und Küchenchefs um die Führung am Genusssektor. Die "Götterspeise" Schokolade ist dort zu einer eigenen Kunstform erhoben und – ähnlich wie das Manifest der Futuristen – wird diese als Ausformulierung einer kulturellen Entwicklung verstanden.
Unter den führenden Akteuren finden sich, neben Enric Rovira, Oriol Balaguer, Antonio und Christian Escribá und Ramon Moratos. Die Schoko-Artisten entwerfen fragile Kunstwerke in ganzen Kollektionen und präsentieren diese in sinneserregenden Defilées.
Escribás "Candy-Glam Rings" werden wie echte Juwelen in Boutiquen vorgestellt. Seine süßen "Wände" oder die, von moderner Architektur inspirierten "Einzelstücke" von Oriol Balaguer zieren Schauräume nach dem Vorbild hoch dotierter Kunstwerke. Zum Essen sind sie eigentlich zu kostbar.
Und die meisten von ihnen waren in der legendären Kreativ-Kaderschmiede der Adrià-Brüder tätig, bevor sie zu ihren Solo-Höhenflügen – unter anderem mit Sinnescapricen – ansetzten.
Das Dessert – ein Manifest des Süssen?
Im Jahr 2000 setzte Jordi Butrón einen weiteren Schritt. Mit der Eröffnung des ersten Dessertrestaurants der Welt, dem Espai Sucre, sorgte er für internationalen Aufruhr – und einladend viel Raum für Süßes. Mit seinem einmaligen Lokalkonzept trat der vielfach ausgezeichnete katalanische Patissier und Chocolatier an, um die Dessertküche der Spitzengastronomie aus ihren Fesseln zu befreien. Die Wahl zwischen 3-, 4- oder 5-Gang-Menüs in seinem modern-eleganten Restaurant im Herzen von El Born fällt nicht leicht. Der Visionär kreiert, basierend auf den technischen Errungenschaften der Molekularküche, einem profundem Know-how der klassischen Patisserie sowie pikanten Zutaten einen völlig neuen Dessertstil. Er setzt Zucker fast ausschließlich zur Balance von Säure ein, akzentuiert mit Gewürzen und frischen Kräutern und verarbeitet Gemüse neben Obst in seinen extravaganten, international herausragenden "Süßspeisen".
New York: Cheese Cake versus Dinner
Im Big Apple ließen seine Nachahmer nicht lange auf sich warten. Dort werden Adrià und Butrón von Top-Patissiers wie Götter verehrt und als Anführer einer Bewegung zelebriert, deren Ziel es ist, die Nachspeise zur neuen Hauptspeise zu erheben. Die beste Adresse ist das "ChikaLicous". In New Yorks erster 2003 eröffneten Dessert-Bar wird der wahrscheinlich beste Cheese Cake der Stadt über die Theke gereicht, diverse franko-amerikanische Kreationen sind nach japanischer Ästhetik angerichtet. Serviert werden die süßen Köstlichkeiten in drei Gängen: Amuse Bouche, Dessert nach Wahl und eine Auswahl an Petit fours. Reservierungen können an diesem perfect little place für ein ausgedehntes Dessert nach Lunch oder Dinner allerdings nicht vorgenommen werden.
2009 erreicht diese Entwicklung auch den deutschsprachigen Raum. In der offenen Wohnküche des "Prinsessan" fusionieren Hamburger Ambition und der Spirit des New Yorker Lebensstils süß-harmonisch. Fazit: Im November 2010 wurde aufgrund des großen Erfolges bereits die zweite Filiale eröffnet.
Der Nachtisch – Schlusslicht oder Hauptdarsteller?
Üblicherweise verführt das Dessert, wenn der Hunger gestillt ist. Der Wechsel vom Hauptgericht zum Nachtisch markiert einen traditionellen Geschmackswechsel. Man verlässt die Sphäre des Notwendigen und betritt ein Reich freien Schwelgens. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn der finale Gaumenkitzel in Zukunft an erster Stelle stünde?
In Österreich geht man mit internationalen Trends jedenfalls eher vorsichtig um. Auch im Torten- und Mehlspeisenbereich wollen Tradition und Ordnung erhalten sein. Diese Erfahrung machte auch Pierre Reboul. Seit etwas mehr als einem Jahr leitet der Spitzenpatissier die "Backstube" des Café Centrals in der Wiener Herrengasse und bespielt das junge Design-Lokal "Orlando di Castello". Der Franzose kam direkt aus New York, wo er im Gastroimperium von Starkoch Jean-George Vongerichten tätig war, in die Donaumetropole. Talent für das Süße bewies er weiters auf Gastspielen auf den Bahamas, in Hongkong oder London. Von Austro-Amerikaner Kurt Gutenbrunner hat Reboul gelernt, "there’s nothing wrong with the classics!" – ja, eh nicht.
Während die Spanier im Schlepptau der Adrià-schen Errungenschaften bereits in ganz andere Sphären abheben, orientiert sich Reboul an der Konditor und Patisseriekunst seiner französischen Heimat. Neben Trendsetter Pierre Hermé, dem Picasso der Patisserie, der nicht zuletzt ob seiner weltberühmten Tortenkreation Ispahan Kultstatus erlangte, zeigt sich Pierre Reboul vor allem durch die Präzision und Ästhetik der südostasiatischen Dessertküche beeinflusst.
In der Mehlspeisenhauptstadt sorgt er nun für erfrischend internationalen Wind. Hatte Reboul in den weltweiten Sterneküchen seine Desserts auf Kren, Sellerie und Avocado, kombiniert mit Essig, Salz und Räucheraromen ausgeweitet, widmet er sich nun der Neuinterpretation von Klassikern der österreichischen Konditorkunst. Und seine Version der Rosenmakronentorte Ispahan, ein mit frischen Himbeeren und Litschicreme gefülltes Kunstwerk mit Rosenkrokantblatt, ist beinahe noch harmonischer als das Original von Hermé.
Auch Konstantin Filippou bewegt sich leichtfüßig auf internationalem Niveau. Für die Patisserie zeichnet der innovative Küchenchef des Nobelitalieners "Novelli" selbst verantwortlich. Auf seinen Wanderjahren durch Spitzenhäuser wie "Steirereck", bei Gordon Ramsey in London oder Juan Mari Arzak in San Sebastian war der "Allrounder" immer auch in der Patisserie tätig. Seine ausgeklügelten Pre-Desserts bereiten den Gaumen nach dem main course auf das Schöne vor, das da noch kommen mag. Zum Beispiel geräucherteRosmarinbrioche mit karamellisierten Bananen überzogen von Marshmallow- Bananengelee, begleitet von Salzmandeleis und Vanille-Pralinen- masse. Häufig kommt die Gewürzmühle mit Kardamom, Macis und Nelken zum Einsatz. Ein Potpourri, "das dem Gaumen schmeichelt, aphro -disierend, sexy und cool wirkt". Salz, Kräuter, Sprossen, Essig, Röst- und Räucheraromen dürfen beim ungewöhnlichen Zutatenmix in der süßen "Novelli"-Küche nicht fehlen. Die Grenzen ausloten und dabei die Balance nicht verlieren verspricht das Credo des exzentrischen Küchenchefs.
Auch die Desserts im "Steirereck im Stadtpark" von Heinz Reitbauer haben sich in eine neue Richtung entwickelt. Der Obst- und Gemüseanteil – Rüben, Dirndln, Mispel, Quitten und Chicorée – nahm zu, während der Zuckeranteil drastisch reduziert wurde. Die Produkte auf den Dessertkärtchen entsprechen nicht unbedingt dem Standard der Dessertküche, seiner Küchenlinie aber umso mehr: puristisch im Geschmack, immer auf der Suche nach etwas Neuem. Zur Stunde experimentieren Reitbauer und sein Team mit Sortenraritäten aus der Orangerie Schönbrunn. Saure Seltenheiten haben auch die klassische Praline abgelöst. Kunstvoll arrangiert, in hauchdünne, kandierte Scheiben geschnitten werden sie im "Steirereck" an den Tisch gefahren. Auf der Suche nach seinem Zugang an die Einzigartigkeit eines Produktes ist Heinz Reitbauer bei traditionellen Methoden angekommen. Er verändert Texturen durch Einlegen oder Dörren, zum Beispiel alter Apfelsorten. Die Zukunft der Dessert-Küche liegt für ihn in "neu" zu entdeckenden Produkten: Wildfrüchte, alte Obst- und Gemüsesorten, Blüten und Wildkräuter. Ihre Aromen und Essenzen erarbeitet er sich peu à peu: ein Lernprozess in den Anfangsstadien.
Traditionell hält es auch Christian Petz. Zumindest in einem Punkt. Ein Nachtisch muss süß sein. Von Trends und Wellen unbeeindruckt geht der Sternekoch seinen Weg und bleibt dabei bei Schokolade. Kombinationen von süß und salzig verheißen für ihn nichts Neues, ebenso wenig wie Gemüse im Dessertbereich. Die Nouvelle Cuisine führte es vor. Unbestritten gilt für ihn allerdings, dass die Patisserie kein Schattendasein verdient hat. Das Dessert ist schließlich jener Gang, den sich der Gast am ehesten merkt. Seit geraumer Zeit spielt Christian Petz daher mit dem Gedanken, das Dessert einmal an den Anfang eines Menüs zu stellen. Interessant erscheint es ihm allemal, tradierte Gewohnheiten durch Umkehrung neu zu interpretieren. Ein Ansatz, der ebenfalls der bildenden Kunst entlehnt ist. 1989 kehrte Daniel Spoerri die klassische Speiseabfolge im Rahmen eines Ausstellungsprojekts im Museum für angewandte Kunst (MAK) um. Der Schweizer Künstler rumänischer Herkunft eröffnete ein mehrgängiges Menü mit Kaffee, um es anschließend mit der Suppe zu beenden. Doch von solchen Fragestellung abgesehen, beschäftigt sich Petz 2011 mit der Herstellung feinster Schokoladekreationen: Trüffel mit floralen Aromen, Schokotoffees oder Kuchen im Glas.
Dass sich "Schoko-Design" à la Barcelona zu einem Trend auswächst, muss auch Petz zur Kenntnis nehmen. Sein Blick beleuchtet diese "logische Reaktion auf eine gewisse Sättigung" pragmatisch. Plantagen- und Lagenschokoladen gab es schon in Hülle und Fülle. Was bleibt, wenn die Geschmäcker ausgereizt sind, ist der bloße Anblick, reine Ästhetik, kurz: das Design. Das Xocolat-Team um Christian Petz arbeitet zurzeit an der Entwicklung des perfekten Schoko-Highheels. Ob dies der richtige Schritt in eine süße Zukunft ist? Oder eine logische Entwicklung, die aus der Gesamtheit von Küchentrends resultiert? Es wird allerorts aufwändiger, vielfältiger, exzentrischer und internationaler gekocht – die Patisserie entwickelt sich parallel dazu mit. Bloß an gewissen Stellen überholt sie eben, auch ganz virtuell – oder nimmt den Rückwärtsgang: zurück in die Zukunft.
Spanien 2011. Das Menü ist beendet, der Tisch geräumt, mit dem Kaffee werden Pralinen gereicht. Die bunt glänzenden Kapseln entfalten ein unwiderstehliches, üppiges Aroma von frischem Kakao im Raum – sobald man sie von ihren hübschen Metallsockeln abgenommen hat. Parfümiert sind die minimalistischen Designformen mit dem Duft edler Rosen, von Zimt oder Ingwer. Beim Genuss der ansehnlichen "Schoko-Desserts" des katalanischen Spitzen-Chocolatiers Enric Rovira handelt es sich allerdings um ein rein olfaktorisches Erlebnis. Seine virtuellen Pralinen sind nicht gerade zum Verzehr konzipiert. Größer kann der Bruch mit kulinarischen Traditionen nicht sein. Neu, geschweige denn revolutionär, ist er dennoch nicht.
Bereits 1932 entwarf der Futurist Dr. Sirocofran eine radikal-exzentrische "Nachspeise", die er in der "cucina futurista", der damals proklamierten, futuristischen Küche wie folgt beschreibt: "Eingekerkerte Düfte: In dünne, leuchtend bunte Ballons führe man einen Tropfen Parfüm ein. Man blase sie auf und erwärme sie leicht, sodass das Parfüm entströmen kann und die Hülle geschwollen bleibt. Man serviere sie gleichzeitig mit dem Kaffee auf kleinen warmen Tellern, wobei man dafür sorge, dass es unterschiedliche Düfte sind, (…) und atme den Duft ein, der von den Ballons ausgeht."
Das allseits begehrte Dessert verlor also bereits im Italien des beginnenden 20. Jahrhunderts an Körper, und ein sinnlicher Duft war alles, was vom Feste übrig blieb. Vergleicht man die Ideologie der Fortschritt forcierenden Künstlerbewegung rund um F. T. Marinetti mit den Errungenschaften der heutigen Avantgardeküche, erscheinen die vermeintlichen Innovationen in blasserem Licht. Im Futuristischen Manifest der 1930er Jahre wurde längst eingefordert "Speisen aufzutischen, die dem dynamischen und "luftigeren" Lebensgefühl des modernen Menschen entsprächen: Kandierte atmosphärische Elektrizität, geschiedene Eier, Elastiksüße usw. " Allen voran sollte die Chemie in die Pflicht genommen werden, denn schließlich stamme "die Speise der Zukunft aus dem Labor!"
Dem visionären Ruf folgte Jahrzehnte später zunächst Ferran Adrià. Der Katalane löste mit seiner "techno-emotionalen" Küche der 90er Jahre ein, was bereits Marinetti urgierte. Er ersann eine Küche für alle Sinne, in der "die Dekontextualisierung, die Ironie, das Spektakel und die Performance absolut zulässig sind". Dabei unternahm er auch die entscheidenden Vorkehrungen für eine neue Entwicklung der Patisserie und löste die Grenzen zwischen den so genannten "Herzhaften" und den "Süßen Welten" auf. Sein Bruder Albert, der damals Leiter der "Süßen Welten" im legendären Restaurant "El Bulli" war, wurde zum Vorbild einer neuen Generation kreativer Dessertkünstler. Wurden Süßspeisen damit zur ernsthaften Konkurrenz für Hauptgang und Co – oder war all das nichts als parfümierte Luft?
Barcelona: Schokodesign und Dessertjuwelen
Kreativität gehört zum Flair der katalanischen Hauptstadt Barcelona. Sie liegt in der Luft wie das Salz des Meeres. Im zentralen Stadtviertel "El Born" buhlen Designer, Artisten und Küchenchefs um die Führung am Genusssektor. Die "Götterspeise" Schokolade ist dort zu einer eigenen Kunstform erhoben und – ähnlich wie das Manifest der Futuristen – wird diese als Ausformulierung einer kulturellen Entwicklung verstanden.
Unter den führenden Akteuren finden sich, neben Enric Rovira, Oriol Balaguer, Antonio und Christian Escribá und Ramon Moratos. Die Schoko-Artisten entwerfen fragile Kunstwerke in ganzen Kollektionen und präsentieren diese in sinneserregenden Defilées.
Escribás "Candy-Glam Rings" werden wie echte Juwelen in Boutiquen vorgestellt. Seine süßen "Wände" oder die, von moderner Architektur inspirierten "Einzelstücke" von Oriol Balaguer zieren Schauräume nach dem Vorbild hoch dotierter Kunstwerke. Zum Essen sind sie eigentlich zu kostbar.
Und die meisten von ihnen waren in der legendären Kreativ-Kaderschmiede der Adrià-Brüder tätig, bevor sie zu ihren Solo-Höhenflügen – unter anderem mit Sinnescapricen – ansetzten.
Das Dessert – ein Manifest des Süssen?
Im Jahr 2000 setzte Jordi Butrón einen weiteren Schritt. Mit der Eröffnung des ersten Dessertrestaurants der Welt, dem Espai Sucre, sorgte er für internationalen Aufruhr – und einladend viel Raum für Süßes. Mit seinem einmaligen Lokalkonzept trat der vielfach ausgezeichnete katalanische Patissier und Chocolatier an, um die Dessertküche der Spitzengastronomie aus ihren Fesseln zu befreien. Die Wahl zwischen 3-, 4- oder 5-Gang-Menüs in seinem modern-eleganten Restaurant im Herzen von El Born fällt nicht leicht. Der Visionär kreiert, basierend auf den technischen Errungenschaften der Molekularküche, einem profundem Know-how der klassischen Patisserie sowie pikanten Zutaten einen völlig neuen Dessertstil. Er setzt Zucker fast ausschließlich zur Balance von Säure ein, akzentuiert mit Gewürzen und frischen Kräutern und verarbeitet Gemüse neben Obst in seinen extravaganten, international herausragenden "Süßspeisen".
New York: Cheese Cake versus Dinner
Im Big Apple ließen seine Nachahmer nicht lange auf sich warten. Dort werden Adrià und Butrón von Top-Patissiers wie Götter verehrt und als Anführer einer Bewegung zelebriert, deren Ziel es ist, die Nachspeise zur neuen Hauptspeise zu erheben. Die beste Adresse ist das "ChikaLicous". In New Yorks erster 2003 eröffneten Dessert-Bar wird der wahrscheinlich beste Cheese Cake der Stadt über die Theke gereicht, diverse franko-amerikanische Kreationen sind nach japanischer Ästhetik angerichtet. Serviert werden die süßen Köstlichkeiten in drei Gängen: Amuse Bouche, Dessert nach Wahl und eine Auswahl an Petit fours. Reservierungen können an diesem perfect little place für ein ausgedehntes Dessert nach Lunch oder Dinner allerdings nicht vorgenommen werden.
2009 erreicht diese Entwicklung auch den deutschsprachigen Raum. In der offenen Wohnküche des "Prinsessan" fusionieren Hamburger Ambition und der Spirit des New Yorker Lebensstils süß-harmonisch. Fazit: Im November 2010 wurde aufgrund des großen Erfolges bereits die zweite Filiale eröffnet.
Der Nachtisch – Schlusslicht oder Hauptdarsteller?
Üblicherweise verführt das Dessert, wenn der Hunger gestillt ist. Der Wechsel vom Hauptgericht zum Nachtisch markiert einen traditionellen Geschmackswechsel. Man verlässt die Sphäre des Notwendigen und betritt ein Reich freien Schwelgens. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn der finale Gaumenkitzel in Zukunft an erster Stelle stünde?
In Österreich geht man mit internationalen Trends jedenfalls eher vorsichtig um. Auch im Torten- und Mehlspeisenbereich wollen Tradition und Ordnung erhalten sein. Diese Erfahrung machte auch Pierre Reboul. Seit etwas mehr als einem Jahr leitet der Spitzenpatissier die "Backstube" des Café Centrals in der Wiener Herrengasse und bespielt das junge Design-Lokal "Orlando di Castello". Der Franzose kam direkt aus New York, wo er im Gastroimperium von Starkoch Jean-George Vongerichten tätig war, in die Donaumetropole. Talent für das Süße bewies er weiters auf Gastspielen auf den Bahamas, in Hongkong oder London. Von Austro-Amerikaner Kurt Gutenbrunner hat Reboul gelernt, "there’s nothing wrong with the classics!" – ja, eh nicht.
Während die Spanier im Schlepptau der Adrià-schen Errungenschaften bereits in ganz andere Sphären abheben, orientiert sich Reboul an der Konditor und Patisseriekunst seiner französischen Heimat. Neben Trendsetter Pierre Hermé, dem Picasso der Patisserie, der nicht zuletzt ob seiner weltberühmten Tortenkreation Ispahan Kultstatus erlangte, zeigt sich Pierre Reboul vor allem durch die Präzision und Ästhetik der südostasiatischen Dessertküche beeinflusst.
In der Mehlspeisenhauptstadt sorgt er nun für erfrischend internationalen Wind. Hatte Reboul in den weltweiten Sterneküchen seine Desserts auf Kren, Sellerie und Avocado, kombiniert mit Essig, Salz und Räucheraromen ausgeweitet, widmet er sich nun der Neuinterpretation von Klassikern der österreichischen Konditorkunst. Und seine Version der Rosenmakronentorte Ispahan, ein mit frischen Himbeeren und Litschicreme gefülltes Kunstwerk mit Rosenkrokantblatt, ist beinahe noch harmonischer als das Original von Hermé.
Auch Konstantin Filippou bewegt sich leichtfüßig auf internationalem Niveau. Für die Patisserie zeichnet der innovative Küchenchef des Nobelitalieners "Novelli" selbst verantwortlich. Auf seinen Wanderjahren durch Spitzenhäuser wie "Steirereck", bei Gordon Ramsey in London oder Juan Mari Arzak in San Sebastian war der "Allrounder" immer auch in der Patisserie tätig. Seine ausgeklügelten Pre-Desserts bereiten den Gaumen nach dem main course auf das Schöne vor, das da noch kommen mag. Zum Beispiel geräucherteRosmarinbrioche mit karamellisierten Bananen überzogen von Marshmallow- Bananengelee, begleitet von Salzmandeleis und Vanille-Pralinen- masse. Häufig kommt die Gewürzmühle mit Kardamom, Macis und Nelken zum Einsatz. Ein Potpourri, "das dem Gaumen schmeichelt, aphro -disierend, sexy und cool wirkt". Salz, Kräuter, Sprossen, Essig, Röst- und Räucheraromen dürfen beim ungewöhnlichen Zutatenmix in der süßen "Novelli"-Küche nicht fehlen. Die Grenzen ausloten und dabei die Balance nicht verlieren verspricht das Credo des exzentrischen Küchenchefs.
Auch die Desserts im "Steirereck im Stadtpark" von Heinz Reitbauer haben sich in eine neue Richtung entwickelt. Der Obst- und Gemüseanteil – Rüben, Dirndln, Mispel, Quitten und Chicorée – nahm zu, während der Zuckeranteil drastisch reduziert wurde. Die Produkte auf den Dessertkärtchen entsprechen nicht unbedingt dem Standard der Dessertküche, seiner Küchenlinie aber umso mehr: puristisch im Geschmack, immer auf der Suche nach etwas Neuem. Zur Stunde experimentieren Reitbauer und sein Team mit Sortenraritäten aus der Orangerie Schönbrunn. Saure Seltenheiten haben auch die klassische Praline abgelöst. Kunstvoll arrangiert, in hauchdünne, kandierte Scheiben geschnitten werden sie im "Steirereck" an den Tisch gefahren. Auf der Suche nach seinem Zugang an die Einzigartigkeit eines Produktes ist Heinz Reitbauer bei traditionellen Methoden angekommen. Er verändert Texturen durch Einlegen oder Dörren, zum Beispiel alter Apfelsorten. Die Zukunft der Dessert-Küche liegt für ihn in "neu" zu entdeckenden Produkten: Wildfrüchte, alte Obst- und Gemüsesorten, Blüten und Wildkräuter. Ihre Aromen und Essenzen erarbeitet er sich peu à peu: ein Lernprozess in den Anfangsstadien.
Traditionell hält es auch Christian Petz. Zumindest in einem Punkt. Ein Nachtisch muss süß sein. Von Trends und Wellen unbeeindruckt geht der Sternekoch seinen Weg und bleibt dabei bei Schokolade. Kombinationen von süß und salzig verheißen für ihn nichts Neues, ebenso wenig wie Gemüse im Dessertbereich. Die Nouvelle Cuisine führte es vor. Unbestritten gilt für ihn allerdings, dass die Patisserie kein Schattendasein verdient hat. Das Dessert ist schließlich jener Gang, den sich der Gast am ehesten merkt. Seit geraumer Zeit spielt Christian Petz daher mit dem Gedanken, das Dessert einmal an den Anfang eines Menüs zu stellen. Interessant erscheint es ihm allemal, tradierte Gewohnheiten durch Umkehrung neu zu interpretieren. Ein Ansatz, der ebenfalls der bildenden Kunst entlehnt ist. 1989 kehrte Daniel Spoerri die klassische Speiseabfolge im Rahmen eines Ausstellungsprojekts im Museum für angewandte Kunst (MAK) um. Der Schweizer Künstler rumänischer Herkunft eröffnete ein mehrgängiges Menü mit Kaffee, um es anschließend mit der Suppe zu beenden. Doch von solchen Fragestellung abgesehen, beschäftigt sich Petz 2011 mit der Herstellung feinster Schokoladekreationen: Trüffel mit floralen Aromen, Schokotoffees oder Kuchen im Glas.
Dass sich "Schoko-Design" à la Barcelona zu einem Trend auswächst, muss auch Petz zur Kenntnis nehmen. Sein Blick beleuchtet diese "logische Reaktion auf eine gewisse Sättigung" pragmatisch. Plantagen- und Lagenschokoladen gab es schon in Hülle und Fülle. Was bleibt, wenn die Geschmäcker ausgereizt sind, ist der bloße Anblick, reine Ästhetik, kurz: das Design. Das Xocolat-Team um Christian Petz arbeitet zurzeit an der Entwicklung des perfekten Schoko-Highheels. Ob dies der richtige Schritt in eine süße Zukunft ist? Oder eine logische Entwicklung, die aus der Gesamtheit von Küchentrends resultiert? Es wird allerorts aufwändiger, vielfältiger, exzentrischer und internationaler gekocht – die Patisserie entwickelt sich parallel dazu mit. Bloß an gewissen Stellen überholt sie eben, auch ganz virtuell – oder nimmt den Rückwärtsgang: zurück in die Zukunft.