Alles, was wir machen, ist ein alter Hut

Von einem, der auszog, um was Altes neu zu lernen.

Text von Thomas Maurer · Fotos von Ingo Pertramer

Zuckerl!“, schrie der staatlich geprüfte Meisterfotograf Pertramer unüberhörbar erregt ins Telefon. „Da gibt’s einen, der macht Zuckerl! Selber! Da müss’ ma hin!“

„Gemach, junger Freund“, erwiderte ich. „Da bin ich der Falsche. Das bisserl Zucker, das ich überhaupt verbrauche, dient zu 95 Prozent dazu, Paradeissaucen paradeisiger schmecken zu lassen. Zirka drei Mal im Jahr tu ich mir aus purem Mutwillen welchen in den Kaffee. Und Zuckerl habe ich überhaupt, zumindest für den Eigenbedarf, zuletzt so um 1982 gekauft.“

„Ich hab aber schon einen Termin dort ausgemacht“, konterte der Lichtbildner schlagfertig. Und so begab es sich, dass ich eines schönen Vormittags die Herrengasse in Richtung des historischen Hochhauses entlangmarschierte und dort die Zuckerlwerkstatt betrat.

Die Luft ist süß. Es riecht aber nicht eigentlich nach etwas Bestimmtem, wenn auch der brodelnde Zuckertopf eine dezente Karamellnote ausströmt. Es ist eher, als hätte hier die Luft selbst einen anderen Charakter als draußen, wie sich das ja für einen magischen Ort auch gehört. Denn natürlich war ich, mag ich mich auch hundert Mal zum Süßigkeitenignoranten ausgewachsen haben, ebenfalls einmal ein Kind, und zwar ein ganz normales, g’naschtiges, in dem schon der Klang des Wortes „Zuckerlwerkstatt“ sämtliche Neuronen zum Feuern und sämtliche Speicheldrüsen zum Safteln gebracht und der leibhaftige Besuch einer solchen vermutlich die Überzeugung hinterlassen hätte, dass dies bereits der Höhepunkt des Lebens war und nichts annähernd so Grandioses mehr nachkommen kann.

Zumal es im blitzsauberen Verkaufsraum der ­Zuckerlwerkstatt tatsächlich so aussieht, als ob man ohne viel umzuräumen eine Szene eines Old-School-Disneyfilms drehen könnte: appetitlichste Gläser, gefüllt mit farbenprächtigstem Naschwerk, adretteste Verkäuferinnen und blankeste Arbeitsflächen – hier könnte jederzeit ein Rad schlagender Dick Van Dyke hereinwirbeln und ein beschwingtes Lied über die Wonnen des Zuckerschleckens anstimmen.

Der hiesige Dick Van Dyke aber heißt Christian Mayer und begrüßt uns ganz normal, auf zwei Beinen und mit Sprechstimme, obwohl er tatsächlich auch singen könnte. Immerhin hat er damit, ehe er sich be­rufen fühlte, die alte Wiener Zuckerltradition vor dem Aussterben zu bewahren, vorwiegend sein Geld verdient. Und mit Fotografie. Ein Star ist er aber dann überraschend mit seinem neuen Beruf geworden, einem Beruf, den zu ergreifen auch ihn selbst eher überrascht hat.

Auslöser war, dass Christian, wie Paulus vor Damaskus, ein Erlebnis hatte, nach dem nichts mehr so war wie davor. Aber halt nicht in Damaskus, sondern in Schweden, wo er mit seiner Frau Maria 2012 auf Urlaub war. Und es war auch nicht der Anblick Gottes, der den abrupten Wechsel im Lebenswandel zeitigte, sondern der einer – erraten – hübschen kleinen Zuckerlmanufaktur.

Das Licht haben bei dieser Gelegenheit beide Eheleute gesehen. Gattin Maria, bis dahin Juristin, kündigte umgehend in der Kanzlei, und seit Oktober 2013 leiten die beiden die Firma, und zwar recht erfolgreich. Die Top-Innenstadtlage hat sich, trotz ortsüblicher, also horrender Miete, als die richtige Entscheidung erwiesen, spätestens seit die hiesigen Zuckerl, die ebenso sehr Augenweide wie Gaumenfreude sind, es 2018 ins New York Times Magazine geschafft haben. Heute wird das kleine Geschäft in Reiseführern und auf Urlaubsportalen als Shopping-Must-see angeführt, was einen soliden Grundumsatz gewährleistet und eine zusätzliche Werkstatt im 4. Bezirk sowie eine von einer jungen Zuckerlenthusiastin weitgehend selbstständig geführte Dependance in Salzburg ermöglicht hat.

Dennoch steht hinter der Zuckerlwerkstatt kein Businessplan, sondern eine Idee. Christian Mayer erzählt, dass, seit seine Idee aufgegangen ist, es jede Menge Angebote gegeben habe: Potente Think-big-Investoren hätten sich gemeldet, aber er wolle, vielen Dank auch, nicht industriell zu fertigen beginnen. Aus Russland und England seien Anfragen gekommen: „Die wollten das Zeug sattelschlepperweise. Aber woher nehmen?“ Das Mirage-Hotel in Las Vegas wollte sich exklusiv beliefern lassen, nur dass er nicht genug Zuckerl produziere, um auch nur in jedem der über 3.000 Zimmer täglich je eines auf die Kopfpolster zu legen. Also danke, aber nein, danke. Aus dem gleichen Grund gibt es auch keine Kooperation mit einem Supermarkt, obwohl auch da schon Anfragen der großen Ketten gekommen seien. Aber – und hier geht der Idealismus mit pragmatischer Intelligenz eine schöne Verbindung ein: „Sogar, wenn ich das wollte: Da nehm ich einmal einen Kredit über zwei Millionen auf, damit ich das überhaupt produzieren kann, und zwei, drei Jahre später kommen die dann die Einkaufspreise neu verhandeln, weil sie ja wissen, dass ich mit zwei Mille in der Kreide steh’ und nicht aus kann.“ Und Franchise kommt ebenfalls nicht in Frage, weil „ja die Qualität die Idee ist. Einfach den Namen hergeben und hoffen, dass das schon halbwegs was wird, geht nicht. Da müsste schon ein richtiger Freak daherkommen, dann könnte man reden.“

Als der richtige Freak, der er selbst ist, gelang es Christian recht schnell, Hilfe von Veteranen des einst in Wien gar nicht so seltenen Zuckerlmacherhandwerks zu bekommen: „Zuckerlmacher war bis in die 60er-Jahre ein Lehrberuf, in Wien hat’s da etliche Betriebe gegeben, Heller war der bekannteste. Aber inzwischen war das Handwerk einfach weg. Fast komplett. Ich hab alles gelernt von Leuten, die zwischen 75 und 95 Jahren alt waren. Der älteste war Herr Fellöcker, der hat den Beruf über 50 Jahre lang ausgeübt, und dem sein Vater war auch schon Zuckerlmacher. Und der hat, privat, noch eine Zuckerlwerkstatt hinter seiner Bäckerei gehabt. Und ich hab seine 110 Jahre alten Zuckerlwalzen geerbt, da ist jede ­einzelne Form mit der Hand in die Messinglegierung reingestichelt. Ein Wahnsinn!“ Und auch von Zuckerl-Doyen Friedrich Heller kamen nicht nur warme Worte, sondern auch die bis zu 120 Jahre alten Unterlagen des seit 1971 geschlossenen Traditionsbetriebs.

Und anhand derer werden inzwischen wieder echte Heller-Zuckerl produziert, kleine Preziosen, deren Querschnitt unbegreiflich winzige, verspielte und präzise Ziergrafiken zeigt.

Wie zum Teufel kommen die da rein? Bleiben Sie dran!

Grundsätzlich: Ja, die Muster, die man auf den Schnittflächen sieht, ziehen sich tatsächlich –„Die meisten Leut glauben ja, wir drucken das oder lasern oder was“ – gleichbleibend durch jedes einzelne Zuckerl. Zunächst wird das Motiv aus farbigen Zuckermassestäben geformt und zusammengesetzt. Bei einfachen Motiven, zum Beispiel dem des Grapefruit-Zuckerls, an dem ich mich versuchen werde (eine stilisierte Südfruchtscheibe), entsteht so eine stattliche Zuckerwurst von circa fünf Kilo Gewicht, 60 cm Länge und 30 cm Durchmesser, was in ausgezogenem Zustand etwa 50 Meter an 1 cm dicken Zuckerstangen ergibt. Komplexe Motive wie die in die offiziellen Opernball-Zuckerl eingearbeitete Ansicht der Wiener Staatsoper können Würste von bis zu 30 Kilo Masse bei entsprechend angeschwollenem Durchmesser nötig machen.

Das klingt recht kompliziert, und das ist es auch. Zunächst einmal, so erklärt Christian, muss das Verhältnis der einzelnen Farben zueinander ermittelt werden: „Flächenberechnung. In der Schule hätt’ ich geschworen, dass ich das nie wieder im Leben brauch’! Und jetzt sitz ich da und rechne.“

Danach folgt eine geometrische Zerlegung des Motivs, was er anhand eines Zuckerls mit dem „SN“-Logo der Salzburger Nachrichten erläutert: „Das ist alles konstruiert. Mit der Hand könnt ich das nicht zeichnen. Aber so, schau, da ist sogar der dünne Schrägstrich im Fraktur-S in jedem einzelnen Zuckerl ganz präzise da. Aber jetzt probierst du’s einmal ­selber, da kriegt man am besten ein Gefühl dafür.“

Also probiere ich es einmal selber. Angetan mit Schürze, Handschuhen und einem Gesichtsausdruck, mit dem ich Lernwillen und Leistungsbereitschaft zu vermitteln hoffe, warte ich auf den ersten Schritt.

Zunächst benötigt man natürlich die Zuckermasse selbst. Dazu werden Zucker, Wasser und Trauben­zucker (die genauen Mengenverhältnisse sind selbstverständlich Betriebsgeheimnis) gemeinsam verkocht (wie lange, wie heiß und bis zu welchem Restwasseranteil ist selbstverständlich Betriebsgeheimnis).

Die fertige bräunlich-klare Masse wird dann auf den Arbeitstisch geschüttet, in unserem Fall auf den der Schauwerkstatt im Verkaufsraum. Dieser besteht aus einer kapitalen schwarzen Granitplatte von 300 Kilo Gewicht, die konstant auf 85 Grad beheizt wird und mit verstellbaren Metallelementen auf die gerade benötigte Fläche reduziert werden kann.

Genascht wird nicht, das wäre nämlich nicht nur undiszipliniert, sondern angesichts der rund 110 Grad, die die Masse zu diesem Zeitpunkt noch hat, auch ausgesprochen deppert.

Zur Aromatisierung kommt jetzt noch reines Grapefruitöl in die Masse, was zu einer herb-fruchtigen Duftexplosion führt. Generell werden hier nur die besten erhältlichen Materialen verarbeitet, soweit möglich biozertifiziert: „Alles andere wär ja blöd. Erstens ist Qualität unser Konzept, und zweitens ist das Kostspieligste bei uns die viele Handarbeit. Auch wenn ich bei den Aromen das teuerste Zeug überhaupt verarbeite, macht das in der Gesamtkalkulation fast nix aus. Und auch beim Zucker gibt’s einfach qualitative Unterschiede, massive sogar. Da bin ich froh, dass wir von der Agrana direkt beliefert werden, obwohl wir mit zweieinhalb Tonnen im Monat ein Zwergerl sind, das verarbeiten andere an einem Vormittag.“

Ähnliches gilt für die verwendeten Farbstoffe. Im konkreten Fall kommen Safranextrakt (gelb), ein Mineralpigment (weiß) und eine Mischung aus Johannisbeer, Holunder, Schwarzer Karotte und Rotem Rettich (rot) zum Einsatz, die Farben werden direkt auf die zähflüssige Masse gegossen und dann, nach Farbsegmenten vertikal getrennt, so lange mit der Spachtel eingearbeitet, bis die ganze Arbeitsplatte aussieht wie ein klebriges Mark-Rothko-Gemälde.

Mit einer großen scharfen Schere – man händigt mir dankenswerterweise ein umsichtig vorrätig gehaltenes Linkshänderexemplar aus – wird dann die inzwischen etwas abgekühlte Masse in ihre roten, weißen und gelben Felder zerteilt, was sich sowohl haptisch als auch – wegen der noch nicht abgeklungenen Rothko-Assoziation – psychisch auf interessante Art merkwürdig anfühlt.

Vom heißen Granittisch geht es jetzt auf die warme Arbeitsfläche; mir fällt der rote Teil der Masse zu, der nach kurzem Kneten über einen Haken geschlagen wird, worauf die beiden Hälften sich schwerkraftbedingt nach unten zu ziehen beginnen, worauf sie mit einem raffinierten Schlenker erneut über den Haken geschlagen werden und so fort, wieder und wieder.

Durch diese Wiederholungen kommt ordentlich Luft in die Masse, was sich in den Armmuskeln gleich unangenehm, aber später beim Lutschen angenehm bemerkbar machen wird.

Die rote Masse wird in sechs gleiche Teile geteilt, die dann zu Walzen gerollt und im Weiteren zu sechs gleichseitigen Dreieckstäben gleicher Länge und Dicke geformt, die dann ihrerseits auf zwei Seiten mit einer dünnen weißen Zuckermasseschicht versehen (als Klebemittel reicht dünn aufgepinseltes Wasser), zur Rolle zusammengesetzt und mit zunächst einer weißen und dann einer abschließenden gelben Schicht umhüllt werden. Das Ergebnis ähnelt einer stylishen Mortadella, die Wurst muss auf der warmen Fläche immer wieder gerollt werden, damit sie nicht nachgibt und sich platt drückt. Irgendwann hat sie eine Konsistenz, die dem Fachmann signalisiert: Das Ausziehen kann beginnen.

Christian zeigt mir, wie’s geht, es ist eine gleitende Handbewegung mit ein wenig Druck, ein bisschen wie beim Melken. Obwohl die Zuckermortadella für mich als Linkshänder falsch herum liegt, gelingt es mir, einigermaßen regelmäßige Schnüre zu formen, die kurz danach zu Stangen aushärten. Als mir beschieden wird, mich nicht einmal so blöd anzustellen, schwelle ich vor Stolz und beginne, die abschließende Arbeit, das mit einem Palettenmesser längs einer Steinkante ausgeführte Brechen in appetitliche kleine Portionsstücke, mit der nachlässigen Hochgeschwindigkeit des geborenen Profis auszuführen.

Natürlich werden dadurch meine Zuckerl zu un­regelmäßig, und anstelle des rechten Winkels, in dem sie brechen sollten, weisen manche davon scherbenartig schräge Spitzkanten auf, an denen sich ein Kind bequem die Zunge aufschlitzen kann. Ich werde aber mit der Mitteilung getröstet, dass meine Zuckerstangen zwar für einen Erstversuch eh recht gelungen, aber für den Verkauf doch zu unregelmäßig seien und meine Produktion daher sowieso nach kurzer Zwischenlagerung als simpler Lutscher wiedergeboren werde.

Dennoch habe ich irgendwie das Gefühl, eine Belohnung verdient zu habe. Und genau in diesem Moment sagt Christian: „Du hast ja noch gar nix gekostet.“

Wie eingangs schon erwähnt, gehört das Süßigkeitennaschen nicht zu meinen persönlichen Lieblingslastern. Aber jetzt macht es „klick“. (Wäre das alles wirklich ein alter Disneyfilm, erklänge ein Harfenglissando, Julie Andrews würde so etwas wie „Paperlapapp, mein Lieber, natürlich magst du Süßigkeiten“ sagen und gemeinsam mit mir und allen anderen Anwesenden in eine weitere lange, bunte und schrecklich fade Tanznummer ausbrechen.)

Aber auch so: Mir schmeckt’s. Und zwar richtig. Möglicherweise retardiere ich gerade massiv. Oder das Zeug ist einfach wirklich so gut. Die sauren Drops sind so belebend sauer und fruchtig wie damals, in der fernen Ära der zerschundenen Knie und nicht gemachten Hausaufgaben. Die Seidenzuckerl seidig, die Krachmandeln köstlich krachig. Als ich zum dritten Mal ins Glas mit den Fruchtgeleequadraten greife (man muss sich schließlich über jede Farbe eine Meinung bilden), bedenkt mich der staatlich geprüfte Meisterfotograf Pertramer mit einem abstoßend überheblichen Hab-ich-dir’s-nicht-gesagt-Blick. Ich reagiere souverän mit meinem allerbesten Ich-hab-dich-gar-nicht-gesehen-und-hätte-ich’s-wüsste-ich-nicht-was-du-meinst-Blick.

Aber zugegeben: Beim Verfassen dieses Textes hab ich das eine oder andere Zuckerl gelutscht. Nicht oft, schließlich mag ich nichts Süßes. Aber so hie und da. Als Belohnung. Und so ein Seidenzuckerl ist ja schließlich keine Mahlzeit. Am liebsten mag ich, glaub ich, die mit Kaffee und Kardamom.

Die Zuckerlwerkstatt
Herrengasse 6–8, 1010 Wien
Tel.: 01/890 90 56
www.zuckerlwerkstatt.at