Back ma´s

Back ma´s! Möglicherweise ist Brot der neue Paradeiser. Text von Thomas Maurer

Fotos von Ingo Pertramer Jahrzehntelang wurde ja flächendeckend beklagt, dass Paradeiser nur noch nach in verzehrbare rote Luftballonhüllen abgefülltem Leitungswasser schmeckten. Inzwischen aber prangen sommers selbst Supermarktgemüseregale im Schmuck aromatischer, gelber, grüner, schwarzer oder gestreifter Raritäten mit bizarren Oberflächen und einer Größenverteilung zwischen geschwollenem…

Back ma´s!

Möglicherweise ist Brot der neue Paradeiser.

Text von Thomas Maurer


Fotos von Ingo Pertramer

Jahrzehntelang wurde ja flächendeckend beklagt, dass Paradeiser nur noch nach in verzehrbare rote Luftballonhüllen abgefülltem Leitungswasser schmeckten. Inzwischen aber prangen sommers selbst Supermarktgemüseregale im Schmuck aromatischer, gelber, grüner, schwarzer oder gestreifter Raritäten mit bizarren Oberflächen und einer Größenverteilung zwischen geschwollenem Kindskopf und Kugellagerkugel, was zeigt, dass selbst ein normalerweise eher nur als nahrungsmittelindustrielle Blendgranate verwendeter Satz wie: „Der Konsument bestimmt doch bitte, was im Regal steht“ gelegentlich zutreffen kann.

(Und vielleicht wird sich eines Tages sogar die Einsicht durchsetzen, dass Paradeiser ein Saisongemüse sind, dem man zu Hl. Drei Könige nur schwer geschmackliche Höchstleistungen abtrotzen kann.)

Beim Brot ist die Sache etwas komplizierter.

Denn wo einen beim Paradeiser schon die ostblockartige Monotonie eines Einheitsangebotes normgroßer, normfarbiger Früchte alarmieren konnte, da biegen sich die Brotregale der Backketten und Supermarkt-Frischaufbackwinkel unter einer auf den ersten Blick paradiesisch anmutenden Vielzahl an Broten mit phantasievollen Namen und Formen.

Aber leider isst das Auge lediglich mit; der eigentliche Verzehr dieser Prachtstücke lässt sich in der Regel nur in einem Zeitfenster von etwa acht Stunden nach Verlassen des Backofens einigermaßen vertreten, und Vergnügen ist auch das eher keines.

Allerdings ist, zumindest in jenen ökonomischen Nischen, wo Bobos und Lebensmittelfreaks ihr natürliches Habitat haben, der Gegentrend zum kunsthandwerklichen Prestigewecken bereits unübersehbar.

Das augenfälligste Beispiel ist da vermutlich „Joseph-Brot“, das sich binnen kürzester Zeit vermittels einer Kombination von untadeliger Qualität und geradezu perfid zielgruppengenau zugeschnittenem Schlicht- und-Edel-Design als begehrter Lifestyle-Artikel etablieren konnte, sozusagen als das iPhone unter den Broten.

Dass dabei natürlich auch die altehrwürdige Marketing-Weisheit „Wenn du ein Produkt hochwertig positionieren willst, schnalz zuerst einmal den Preis rauf“ beherzigt wird, kann man bedauerlich finden. Andererseits wäre noch vor zwanzig Jahren der Versuch, sich als Bäcker mit Qualitätsausrichtung selbständig zu machen, nicht viel aussichtsreicher gewesen als der, auf einem Hardrockfestival einen Stand mit Strickwolle zu betreiben.

Ich weiß das deshalb, weil mein Vater Ende der Achtziger vor der Alternative stand, entweder die sehr gediegene kleine Traditionsbäckerei zu übernehmen, die er über zwanzig Jahre leitete, oder aber es zu lassen.

Eine realistische Kalkulation ergab, dass sich das nur dann mit Ach und Krach rechnen würde, wenn eins der Kinder ebenfalls Bäcker würde, ein gewisser Selbstausbeutungsfaktor also bereits eingepreist wäre. Uns Kindern aber hatte der alltägliche Anblick eines um zehn Uhr abends seinen Frühstückskaffee trinkenden und untertags komatös schlafenden Schwerarbeiters keinen gesteigerten Wunsch nach ähnlichem Lebenswandel eingeflößt, und so gab mein Vater, der gewohnt war, den Sendlingen der Backmittelindustrie „Ich brauch nix, womit’s schneller geht, kommen’S wieder, wenn’S was haben, womit’s besser wird“ zu bescheiden, seinen Traum auf, wurde von einer miesen Großbäckerei übernommen und beruflich unglücklich für den Rest seiner Arbeitstage.

Allerdings gab ihm die Zukunft inhaltlich recht, Bäckereien schwanden aus der urbanen Landschaft mit der gleichen schleichenden Selbstverständlichkeit wie der früher gleichfalls stadtbildprägende VW-Käfer.

Nur wenige Traditionsbetriebe haben das durch Effizienzsteigerung, Preisdumping und Kundenwurschtigkeit ausgelöste Kleinbäckereiensterben überstanden, ohne zumindest ihren Handwerksethos gegen eine Chance zum Weiterwursteln einzutauschen.

Aber einigen ist es doch gelungen, und ein besonders stattliches Exemplar dieser Gattung befindet sich in der idyllischen Kurrentgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk.

Einer im Verkaufsraum angebrachten Tafel sind die Namen sämtlicher Inhaber seit 1536 zu entnehmen; die meisten davon sind als Bäckermeister ausgewiesen. Das gilt selbstverständlich auch für den derzeitigen, Herrn Andreas Maderna, der an der von seinem Vater 1962 getroffenen Entscheidung festhält, den eingeführten Namen „Bäckerei Arthur Grimm“ beizubehalten, und der sich daher, wie schon dieser, mit großem Gleichmut auch als „Herr Grimm“ ansprechen lässt.

Er erscheint, ein Mann von klassisch massiger Bäckerstatur, im Schmuck pumucklroten Haares und angetan mit den Insignien seiner Zunft: Leiberl, kurze Hose und eine leichte Mehlpatina.

Wir haben uns erst um acht Uhr früh eingefunden, gar nicht, weil wir laxe Künstlertypen wären, sondern weil unser ursprünglicher Plan, eine normale Nachtschicht mitzuarbeiten, von Herrn Maderna mit dem so höflichen wie einleuchtenden Hinweis darauf durchkreuzt wurde, dass während der Arbeitszeit gearbeitet werde und Zeit dabei ebenso Mangelware sei wie Platz. Immerhin ist so noch Zeit, Kaffee zu trinken, dem Sortiment erste Stichproben zu entnehmen und mit dem Herrn des Hauses zu reden.

Er erzählt vom neuen, unlängst erst angeschafften Backofen, welcher dreimal so teuer gewesen sei wie ein normaler.

Wenn man dann auf die Frage, was der denn könne, ein nonchalantes, aber mit Stolz unterfüttertes „Nix“ als Antwort bekommt, hat man auch schon eine erste Ahnung von der Firmenphilosophie: Hier wird auf eine Art und Weise gebacken, die es vermutlich jedem der auf der Historientafel verzeichneten Bäckermeister leicht fallen ließe, sich im Fall einer zufälligen Wiederauferstehung in der Backstube zu orientieren. (Nützliche Neuerungen wie Teigrührmaschinen oder elektrische Backöfen werden von wiederauferstandenen Bäckermeistern in der Regel begrüßt und schnell kapiert.)

Ich oute mich sympathieheischend als Bäckerssohn, frage mich aber gleichzeitig, ob nicht ein Bäcker gewordener Bäckerssohn in einem nicht Bäcker gewordenen Bäckerssohn lediglich einen schwächlichen Deserteur sieht.

Falls dem so ist, lässt sich der Meister aber nichts anmerken, sondern sich stattdessen freundlich von uns ausfratscheln.

Den Anfang vom Niedergang der Bäckereikultur siedelt er in den frühen Siebzigerjahren an, als die automatische Semmelstraße und mit ihr die zuvor unbekannte Maschinensemmel ihren Triumphzug antraten.

Eine Semmelstraße ersetzte umgehend so viele Arbeitskräfte, dass sich die Anschaffung bereits nach einem Jahr amortisierte, eine Verlockung, die obendrein durch die damals noch bestehende Brotpreisbindung gesteigert wurde, die dafür sorgte, dass Handsemmeln und Maschinensemmeln gleich viel kosteten. Die logische Folge waren natürlich wahre Semmelüberschusslawinen und, nach Aufhebung der Preisbindung, die erste Etappe eines Preiskrieges, an dessen Ende fast nur noch Großbrotfabriken auf der verwüsteten Walstatt zurückblieben.

Im Wortsinn unterfüttert wird dieser Exkurs mit einer Handsemmel von idealtypischer Flaumigkeit. Im Zuge des Verzehrs erfahre ich leicht schockiert, dass die fünf Teile der Semmel korrekt „Laugen“ heißen und nicht, wie ich von klein auf zu wissen meinte „Zechen“.

Die Semmel ist auch ein geeignetes Einstiegsobjekt für die Zentralthemen „Zeit“ und „Gärung“. Zweitere braucht erstere, und das ist unter einem rein betriebswirtschaftlichen Blickwinkel schlecht. Während also eine Grimm-Semmel vor sich hin rastet, bis die Hefe ihre volumenstreibende Arbeit erledigt hat, wird die allseits beliebte Aufbacksemmel ehestmöglich eingefroren, was natürlich den Gärprozess zuverlässig abwürgt. Deshalb wiegt eine Aufbacksemmel auch nicht die ca. 48 Gramm einer Handsemmel, sondern 70 bis 75, um auf das gleiche Volumen zu kommen, hat also den Vorteil, dass man für sein Geld schneller satt wird, solange man sich an kittartiger Teigkonsistenz und geschmacklicher Indifferenz nicht stößt.

Wir verzehren respektvoll den Rest unserer Handsemmeln, klopfen uns die Brösel ab und inspizieren das charmant altertümliche Brotregal des Verkaufsraums. Rund siebzig Brotsorten werden hier verkauft, darunter auch etliche glutenfreie, eine Produktnische, die zweifellos geholfen hat, das Bäckersterben zu durchtauchen.

Allerdings gibt es nicht immer alles, dem von Andreas Maderna mit „Wer bremst, verliert“ beschriebenen Marketingdiktat, dass sämtliche Produkte prinzipiell bis Ladenschluss erhältlich sein müssen, verweigert man sich hier, was gelegentlich zu Irritationen bei nicht entsprechend sozialisierten Kunden führt. „Sicher gibt’s welche“, führt er aus, „die, wenn sie hören, das Baguette ist aus, perplex sind und sich denken: Was heißt, das Baguette ist aus? Dann soll der halt nach hinten gehn und noch eines holen!“

Dann beginnt der praktische Teil des Lehrausfluges, und wir gehen in die im Keller gelegene Backstube, um unter Anleitung Brot zu backen. Wir haben uns für das normale Hausbrot entschieden, das, ähnlich der Rindsuppe im Wirtshaus, quasi der Goldstandard des Bäckereiwesens ist und – trotz der Angebotsfülle – auch das meistverkaufte im Betrieb.

Vorher gilt es aber noch einer Versuchung zu erliegen, es ist gerade Fasching und die noch warmen Krapfen – gefertigt aus einem Dampfl, das sechs Stunden Zeit zum Gehen hatte und gefüllt mit Marillenmarmelade von Staud – sind eben fertig geworden.

Nun ist so ein noch warmer Krapfen eine Angelegenheit von hinreißender, aber tückisch substanzlos tuender Flaumigkeit.

Schlagartig erinnere ich mich sowohl daran, wie ich im Alter von zwölf oder dreizehn einmal in der väterlichen Backstube, dieser Illusion erliegend, eine gerade noch einstellige Anzahl frischgebackener Krapfen fraß, als auch an das grimmige Leibschneiden, das mich den Rest des Tages heimsuchte. Daher belasse ich es maßvoll bei zwei.

In der obligatorischen kurzen Hose betrete ich die Backstube und werde von einem weiteren Erinnerungsschub heimgesucht. Annähernd genau so sah damals die Stätte meiner Krapfenorgie aus: die über Kopf verlaufenden Brotablagen, die Teigrühr- und Teigschleifmaschinen im zeitlosen Nachkriegsdesign, der lange Teigmischtisch aus der Vor-Maschinen-Ära („Der steht furchtbar im Weg“, sagt Herr Maderna, „aber ich geb ihn nicht her“), die angekokelten Lochbleche, die vielstrapazierten Backformen und die Stapel von „Simperln“ genannten Brotformen aus Peddingrohr. (Die allerdings heute lebensmittelrechtlich bereits idiotischerweise durch welche aus Silikon ersetzt sein sollten, in denen das rastende Brot nicht atmen kann.)

Mit von der Partie ist inzwischen der siebzehnjährige Jeremiah Schrott, als Sprössling von Herrn Madernas Lebensgefährtin nicht nur Bäckermeistersziehsohn, sondern obendrein noch mit einem weiteren Bäckermeister als leiblichem Vater versehen. In welcher Bäckerei er einmal landen wird, ist noch nicht ausgemacht, aber entgehen wird er diesem freundlichen Familienfluch jedenfalls nicht. Will er auch gar nicht.

Zunächst wird einmal der Teig angemischt, selbstverständlich unter Einsatz eines Natursauer-Vorteiges, dessen ungestörtes Ruhen man tags zuvor mit so zärtlich fürsorgender Umsicht sichergestellt hat, wie sie sonst nur lungensüchtigen Neurasthenikerinnen in Fin-de-Siècle-Romanen angedeiht.

Die Teigrührmaschine gibt ein schabendes Murren von sich, das mir seltsam vertraut vorkommt; der vergessene, aber sofort wiedererkennbare Duft von frischem Brotteig steigt mit heiterer Majestät aus dem Kessel auf.

Weitere Erinnerungsschübe folgen: Es ist nach wie vor ein geradezu pervers sinnliches Vergnügen, einen Germblock in Großhandels-größe mit der Hand zu zerbröckeln. Einen Teigbatzen im richtigen Gewicht zu erwischen, ist für den Ungeübten immer noch sehr viel schwieriger als man glauben möchte. Aus diesem Teigbatzen mit sachtem, gleichmässigem Handballendruck und drei-, viermaligem Falten einen akkuraten Wecken zu formen ist um nichts leichter als bei meinem letzten Versuch vor dreißig Jahren. Nach wie vor bin ich dazu verdammt mitanzusehen, wie jene, die es können, ihre Hände durch beiläufig wirkendes Ins-Mehl-Greifen davor bewahren, sich mit immer dicker und dicker werdenden Sedimentschichten aus zähem Brotteig zu überziehen, während meine eigenen Hände unerbittlich zu grotesken, klebrigen Klumpen anschwellen, mit denen man nichts Praktisches mehr anstellen kann, außer weiteren Brotteig zum Haften zu bringen.

Handwerk mag ja goldenen Boden haben, ist aber echt eine Mordshacken.

Doch es ist immer noch merkwürdig befriedigend, die akkurat aufgereihten Simperln zum Gehen in die klimatisch an eine Seniorensauna erinnernde Gärkammer zu schieben. Es ist immer noch mit einem Gefühl unverdienter Wichtigkeit verbunden, einen Backofen mit Brotlaiben zu bestücken. Und es ist leider immer noch so, dass man auch nach dem Backen die Brote, die ich geformt habe, problemlos mit freiem Auge erkennen kann.

Dennoch durchflutet mich eine Welle reinen Handwerksstolzes, als ich mein missgebildetes, in seiner gekrümmten Asymmetrie an eine stattliche Melanzani-frucht erinnerndes Privatbrot in Ingo Pertramers Kamera halte. Vielleicht, denke ich kurz, hätte ich ja doch nicht Kabarettist werden sollen.

Doch der Melanzani-Makel ist ein rein äußerlicher, das Grimmsche Hausbrot entspricht dann daheim geschmacklich absolut den hochgesteckten Erwartungen.

Es ist natürlich abgedroschen, die einfachen, ehrlichen Genüsse zu loben, insbesondere in einem gehobenen Fressmagazin wie diesem.

Aber trotzdem: So wird das bescheidene Butterbrot wieder zu einem befriedigenden Genussessen. Vielleicht noch ein bisschen Salz drauf. Und, wenn gerade Saison ist, eventuell einen Paradeiser.