Brot nach Maß

Die Herstellung von Brot gilt als eigene Wissenschaft. Wer davon unbeeindruckt trotzdem einen Versuch starten will, lässt sich entweder von den visionären Rezepten des Molekularkochs Heiko Antoniewicz inspirieren oder geht es wie Slow Food Bäcker Helmut Gragger traditionell an.

Brot nach Maß

Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: beigestellt
Brot ist zur Delikatesse mutiert. Dafür sorgen nicht nur einige wenige Bäcker, die sich auf Handarbeit und hochwertige Rohstoffe einge­schworen haben, sondern auch Molekularkoch und Trendforscher Heiko Antoniewicz: Blättert man in seinem Buch "Brot", so findet man nicht nur ungewöhnliche Rezepte für Kirschenbrot mit tasmanischem Pfeffer, gebackenes Raz-el-Hanout-Gebäck mit schwarzem und weißem Sesam und gedrehte Stangen aus Roggen- und Weizenmehl mit Goji Beeren und Koriander. Der deutsche Alchimist hat das Grundnahrungsmittel auch als Kochzutat für sich entdeckt und es geschnitten, gerieben, zerbröselt oder pulverisiert in Gerichte eingebaut: Kalbsbries wird von Antoniewicz etwa in einen hauchdünnen Brioche-Kerbelmantel gepackt und mit Paradeiser­kompott serviert, Karfiol mit Limettenschmelze und sämiger Brot-Emulsion kombiniert und Essigschaum und Olivenpesto mit cremigem Broteis und knusprigem Anisbrot-Crumble fusioniert. Selbst Lollis mit Namen wie "Bircher Müsli" oder "Pistazie und Pimenton" versteht er visionär in Szene zu setzen, vereint molekulare Texturen mit Zutaten wie Schwarzkümmel-, Fladen-, Grau- oder Kokosbrot und verwandelt die Mischkulanz gemeinsam mit Senfkörnern, Curry oder Muscovadozucker zu semi­transparenten, essbaren Kunstwerken am Stiel.
Ähnlich spektakuläre Kreationen – allerdings ohne molekularen Ansatz – entstehen in der Küche des Restaurants "Mraz & Sohn" in der Brigittenau. Während Kollegen aus der Spitzengastronomie ihren Gästen meist nur ein einziges Hausbrot offerieren und die Herstellung des restlichen Repertoires am Brotwagen den Profis überlassen, setzt Markus Mraz täglich selbst Teige an. Das gesamte Sortiment auf seinem Brotwagen ist haus­gemacht und selbst kreiert. Für die Psycho-Hygiene des Kreativkochs scheint es unerlässlich zu sein, jedem Backwerk den "Unique"-Stempel aufzudrücken. Entstanden sind aus seiner Kompromisslosigkeit Brioche, Roggenbrot, das einmal pur und einmal mit Dörrobst versehen auf dem Wagen landet, und Weißbrot, das er mit Paradeisern und geräuchertem Paprikapulver, Pfefferoni und Artischocken füllt oder mit einer Grammelmasse bestreicht und wie eine Schnecke einrollt. Alle Brote nehmen bei Markus Mraz Stangenform an – bis auf eine Ausnahme: das Knoblauchfocaccia. Der Teig wird zu einem Laib geformt, mit Löchern versehen, großzügig mit Olivenöl übergossen, mit Meersalz bestreut und in einer Pfanne in den Ofen geschoben, der Back- und Dampffunktion vereint. Dort verbringt der Teig 40 bis 50 Minuten, bis er eine goldgelbe Kruste angenommen und sich der intensive Knoblauchton in ein mildes, fast süßliches Aroma verwandelt hat.
Wie kompliziert es sein kann, Brot selbst herzustellen? "Eigentlich gar nicht, wenn man herausgefunden hat, wie es geht." Mehrere Jahre hat er damit verbracht, ein Brot herzustellen, das seinen Anforderungen gerecht wird. Die tagtägliche Produktion verstand der Perfektionist als kontinuierlichen Lernprozess: "Die ersten Brote haben wir damals (seit 16 Jahren wird Brot im Restaurant ,Mraz & Sohn‘ ausschließlich in Eigenregie hergestellt) in kleinen Blumen­töpfen gehen lassen, gebacken und auch darin am Tisch serviert. Meine beiden Söhne habe ich damit gelockt, ihnen fünf Schilling zu geben, wenn sie mir die Töpfe ausbuttern und mehlieren." Die Motivation hielt nicht lange an. Nach 14 Tagen und hunderten Blumentöpfen war das Geld kein Anreiz mehr. Auch Markus Mraz verabschiedete sich bald von den Miniatur-Gefäßen. Grund war weniger der Arbeitsaufwand, als das Backresultat: "Es hat sich zwar eine schöne Kruste gebildet, aber innen war mir das Brot zu flauschig." Was vor Jahren nicht ohne Rezept gegangen wäre, hat der Spitzenkoch heute verinnerlicht. Die Erfahrung sagt ihm, wann das Mehl mehr Wasser benötigt und wann weniger. "Die Mengenverhältnisse ändern sich je nach Jahreszeit, selbst wenn man immer das gleiche Mehl verwendet – man muss auf den Teig eingehen." Erkannt hat er auch, dass er Brot zweimal täglich backen muss, um Qualitätsverluste zu verhindern. "Irgendwann bin ich draufgekommen, dass es zu Mittag viel besser schmeckt als am Abend und habe sofort darauf reagiert." An die zehn Sorten Brot schiebt Mraz jeden Tag ins Rohr – dass nicht jeder Teig die gleichen Temperaturen und Backzeiten verträgt, nimmt er genauso in Kauf wie den Aufwand, spezielles Gebäck wie Laugenweckerl mit Rucola und Haselnuss, Mini-Kornspitz mit extra langen Zipfeln, Nusscracker und Mohnschlecker herzustellen. Die Viererkombination landet gemeinsam mit einer mit Mohnöl gefüllten Eprouvette und Butter aus dem Waldviertel auf einem eigens dafür konstruierten, mit Mulden, Schlitzen und Löchern versehenen Nussholzblock, der als Plattform für das designte Backwerk fungiert und jedem Gast zu Beginn eines Menüs serviert wird. Der Nusscracker zählt zu den legendären Akteuren und wird schon seit einem Jahrzehnt in der Mraz-Küche fabriziert. Ein Jahr lang experimentierte Mraz an dem Rezept, bis aus der Basismasse, die in flüssiger Konsistenz aufs Blech gestrichen und mit Kürbis- und Sonnenblumenkernen, gehackten Erdnüssen, Mohn und Sesam bestreut wird, ein flaches Brot mit Knusper-Effekt entstanden ist.
Derartig lange Entwicklungsphasen gibt es bei Helmut Gragger nicht. Der Bäcker mit Chaos-Frisur und Wahnwitz in den Augen denkt sich neue Rezepte über Nacht aus. Wie etwa Darwins Brot, für das er 25 verschiedene Getreide­sorten miteinander vermahlt, die er im Mühlviertel und im oberösterreichi­schen Vorchdorf aufgetrieben hat. Die Vielfalt der Sorten hat ihn gereizt.
"Andere haben ein 5-Korn-Brot, ich hab‘ eben ein 25-Korn-Brot", stellt Gragger lachend fest, der seine Besessenheit nicht nur in der eigenen Backstube auslebt. Auf der Slow Food Messe "Salone del Gusto" in Turin sorgte er für Aufsehen, indem er einen zweieinhalb Tonnen schweren, vorgeheizten Holzofen auf einem Anhänger nach Italien transportierte, um sein Können live unter Beweis zu stellen. In seiner Holzofenbäckerei in der Wiener Innenstadt entstehen in einem eigens für Gragger konstruierten, über drei Meter hohen und 10 Tonnen schweren Ofen täglich 120 Zwei-Kilogramm-Laibe, die bei 240 Grad über Fichtenholz gebacken werden, denn Fichtenholz "brennt den Backraum besser aus und es entsteht ein Glutstock, der nicht raucht". Fünf Brotsorten hat der Bäcker ab vier Uhr morgens hier: darunter den Mühlviertler Vollkornlaib, Roggen-Dinkel- und P-Brot, dessen Rezeptur nach französischem Vorbild entstanden ist. Das Spezialbrot kommt wie die anderen Brote ohne Hefe aus, trägt das Bio-Zertifikat und besteht aus Weizenmehl und 15 Prozent Roggensauerteiganteil. Der Teigling rastet 24 Stunden, bevor er in den Backraum geschoben wird und dort rasch eine Kruste bildet, die dem P-Brot ein saftiges Innenleben und seinen typischen würzigen Geschmack verpasst. Was Querdenker Gragger so alles aus seinem Ofen zieht, müsste eigentlich Heiko Antoniewicz gefallen, der einmal gesagt haben soll, dass er für ein gutes Brot mit Butter und Salz alles andere stehen lasse.