Das Geheimnis der Mumie

Für Stockfisch wird Kabeljau „zu Tode getrocknet“ und feiert dann mit reichlich Wasser eine geschmackvolle Wiederbelebung.

Text von Andrea Karrer
Illustration: Peter Jani

Gejagt wird der Dorsch im Winter. Wenn rie­sige Schwärme Kabeljau aus der Barentssee zum Laichen an die Küste Norwegens wandern, beginnt die Fangzeit. Direkt im Anschluss an den Fang werden die Fische geschlachtet. Dazu werden ihnen die Köpfe abgeschlagen und durch einen Schnitt auf der Bauchseite die Innereien entnommen. Nach dem Ausnehmen werden die Fische ­entweder im Ganzen getrocknet oder entlang des Rückens aufgeschlitzt. Paarweise an den Schwanzflossen zusammengebunden, werden sie auf spe­ziellen Holzgestellen, in Norwegen als „Stokk“ bezeichnet, monatelang zum Trocknen aufgehängt. Hauptsächlich in Nordnorwegen finden sich diese typischen Holzgestelle. In der kalten Seeluft sind die aufgehängten Fische vor Insekten und Bakterienwachstum geschützt. Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt, wie sie in der Nähe des Meeres herrschen, bieten gute Trocknungsbedingungen, denn zu viel Frost würde die Fasern des Fisches zerstören. Als ideal gelten daher die Bedingungen auf den Lofoten, da es durch die Insellage selten zu extremem Frost kommt. Hier wird auch der qualitativ hochwertigste Stockfisch, getrockneter Kabeljau, produziert. Außerdem fällt auf den Lofoten die Zeit des Kabeljaufangs mit der besten Zeit zum Trocknen zusammen. Nach drei Monaten auf den Trockengestellen unter freiem Himmel wird der jetzt brettharte Stockfisch abgenommen und noch für zwei bis drei Monate in großen, gut belüfteten Hallen gelagert. Während der Trocknung verliert der Fisch siebzig bis achtzig Prozent seines Wassers, die Vitamine und Nährwerte bleiben jedoch erhalten. So hat ein Kilogramm Stockfisch genauso viel Vitamin B, Protein, Calcium und Eisen wie fünf Kilogramm Frischfisch.

Zum ersten Mal tauchte Kabeljau als Trockenfisch in der Geschichte der Wikinger als Exportprodukt auf. Die Wikinger tauften den Kabeljau Skrei – Wanderer –, und sein weißes Fleisch war schon bei ihnen heiß begehrt. Es enthielt ­wesentlich mehr Fett als andere Fischsorten und schmeckte frisch oder getrocknet entsprechend kräftiger. Als die Wikinger im Laufe des zehnten Jahrhunderts weiter Richtung Süden bis in die Mittelmeerregion vordrangen, lernten sie, Kabeljau mittels Salz zu konservieren und anschließend auf Klippen ausgebreitet zu trocknen. So entstand der Begriff Klippfisch. Gesalzen und getrocknet konnte der Skrei die lange Reise von Norwegen bis in die heißen Gefilde Portugals und Südspaniens überstehen und dort verkauft werden, ohne unterwegs aufgrund der steigenden Temperaturen zu verderben. Es dauerte nicht lange, bis der Klippfisch in Portugal seinen historischen Triumphzug als „Bacalhau“ antrat. Das nötige Salz für die Konservierung importierten die Wikinger und ­später auch die Norweger überwiegend aus Portugal. Anschließend exportierten sie den Klippfisch wieder dorthin zurück und tauschten ihn gegen Wein und andere portugiesische Produkte. Der Austausch blühte und der Handel gedieh.

Auch heute ist Stockfisch noch ein beliebtes Nahrungsmittel. In Norwegen wird er traditionell mit einem Hammer weich geklopft und anschließend roh und ungewässert gegessen. Hauptabnehmer des Stockfischs sind allerdings Italien und ­Portugal, wo er unter dem Namen Stoccafisso beziehungsweise Bacalhau bekannt ist. Die Portugiesen behaupten sogar, mehr als 365 Zubereitungsarten zu kennen. Vor der Zubereitung wird der Stockfisch allerdings gewässert, damit er weich wird und aufquillt. „Stockfisch wie Klippfisch müssen vor der Zubereitung in Wasser eingelegt werden. Stockfisch muss mit einer Säge in circa fünf Zentimeter breite Stücke geschnitten werden, da das Wasser ins Fleisch eindringen soll und über die Haut keine Flüssigkeit hineinkommt. Luft­getrockneter Kabeljau muss mehr als zwei Tage gewässert werden, wobei das Wasser mehrmals täglich gewechselt werden sollte“, weiß Manfred Buchinger, legendärer Wirt der Alten Schule in Riedenthal, und fährt fort: „Als ich im Hotel Ritz in Lissabon arbeitete, haben wir das grobe Salz vom Klippfisch vor dem Einweichen abgewaschen. Wichtig ist, dass der Fisch während des Wässerns gekühlt ist, sonst bilden sich Bakterien. Je länger man den Fisch wässert, desto ,milder‘ wird der ­Geschmack. Im Zweifelsfall kostet man ein kleines Stück Fisch. Denn wenn er zu lange im Wasser liegt, laugt das Fleisch aus und wird geschmacklos!“

Die kulinarische Dreifaltigkeit, die sich in jedem Bacalhau-Rezept wiederholt, sind Olivenöl, Knoblauch und Zwiebel – eine Aromenfusion aus der Kindheit, die jedem Portugiesen lebenslang in Erinnerung bleibt. Bekannt geworden als Arme- Leute-Fisch, erklomm Bacalhau in den vergangenen Jahren den Olymp portugiesischer Spitzenköche. Originalrezepte sowie innovative Kreationen füllen reihenweise Kochbücher.

Stockfisch wird grob in drei Klassen eingeteilt. Innerhalb dieser Klassen findet eine weitere Feinsortierung statt, die sich nach Qualität, Länge, Dicke und Gewicht richtet. So wird die erste Klasse in zwölf, die zweite in sechs Unterklassen unterteilt. Der Ursprung dieser Graduierung geht auf den Handel zu Hansezeiten zurück. Die verschiedenen Handelspartner wurden und werden immer noch unterschiedlich beliefert. Die erste Qualität, „Genova“, wird nach Italien exportiert. Sie muss eine makellose, glänzende Haut ohne Verfärbungen aufweisen. Keine Frostschäden, Druckstellen oder gar Stockflecken dürfen sichtbar sein.

Die einfachsten Qualitäten werden bis nach Afrika exportiert. Verschwendet wird nichts. Sogar die Köpfe gehen für wenige Cent an Exporteure, die meist aus Nigeria kommen. Für die Menschen dort ist Trockenfisch eine günstige und lebenswichtige Proteinquelle. Strom und Kühlschränke sind in vielen Ländern immer noch keine Selbstverständlichkeit.

Seine enorme Beliebtheit ist dem Kabeljau zum Verhängnis geworden: In den 1990er-Jahren sind die riesigen Bestände vor der Küste Nordamerikas, die lange als unerschöpflich galten, kollabiert und haben sich trotz Fangbeschränkungen bis heute nicht erholt – und es ist nicht sicher, ob sie es jemals tun werden. Andere Bestände, vornehmlich in Nordeuropa, sind in etwas besserem Zustand. Wer Kabeljau, egal ob frisch, getrocknet oder gesalzen, kauft, sollte darauf achten, wo und von wem er gefangen worden ist.

Der berühmte portugiesische Romancier Eça de Queiroz schrieb 1884 in einem Brief an einen Freund: „Als Romancier fühle ich mich als Franzose. Im Herzen bleibe ich Portugiese, stets durchströmt von lyrischer Tristesse, genährt von Fado, Saudade und Bacalhau.“ —

Buchingers Gasthaus zur Alten Schule
2122 Riedenthal
www.buchingers.at

Stock- bzw. Klippfisch kaufen

Eishken Estate
Großgrünmarkt Wien-Inzersdorf
www.eishken.at

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Naschmarkt Wien
www.fisch-gruber.at