Der Kochkurs als Exkurs

Mit dem Fernruf 7 hat sich Helmut Rachinger einen entrückten Ort neben dem Mühltalhof geschaffen. Beim Kochkurs, der keiner ist, wird Brot geprügelt, finden Pilzmilch und Buchweizen zueinander, feiert Reh mit Malzbierlack japanische Hochzeit.

Text von Anna Burghardt · Fotos von Michael Reidinger

Mein Lokal. Oder so.“ Helmut Rachinger steht auf dem Holz­balkon und schaut auf den durchbrochenen Schatten hinunter, den das Geländer des alten Stadls auf den Asphalt wirft. Dieses „oder so“, es wird wiederkehren. Nicht ausgesprochen, aber in den ­dicken Gemäuern seines neuen Refugiums schwebend, über Wildpilzideen genauso wie über dem mit Brot gefüllten Kwass-Gärbottich. Oder so, das heißt, es gibt einen Plan, aber. Oder so – das kann ein erfahrungsgetränktes Pi mal Daumen meinen oder noch zu machende Erfahrungen bedeuten. Vieles ist neu, seit Rachinger das Erdgeschoß des Stadls aus 1887, vom Mühltalhof nur ein paar Schritte entfernt, zu seinem Lokal namens Fernruf 7 umgemodelt hat – benannt nach der allerersten Telefonnummer des Hauses. Sohn Philip hat nun in der Küche des Mühltalhofs das Sagen; der Vater hat sich nach nebenan zurückgezogen, durchwirkt mit seinem leisen Strahlen ob dieser Entwicklung die ohnehin entrückte Atmosphäre des Fernruf 7. Helmut Rachinger ist hier Wirt-oder-so, hält Kochkurse. Oder so. „Ein Kochkurs, der keiner ist“, steht auf der Homepage. Das Kommando bei den Kursen und auch sonst soll der Brotbackofen haben, er wird den Rhythmus vorgeben, uns mitnehmen auf seinem langsamen Abstieg vom 400-Grad-Gipfel, den er stets in ­aller Herrgottsfrühe erklimmt. Der Ofen, der Chef? „Ja … oder Freund“, meint Rachinger nachdenklich.

Das Kochkurspaket: zwei Nächte im Mühltalhof, Mittwoch bis Freitag früh. Ein Aperitif im Fernruf 7, ein Carte-blanche-Menü von Philip am ersten Abend. Einen ganzen Donnerstag lang kochen mit Helmut, all das im Fernruf 7 essen am zweiten Abend. Brot oder Frühstückspizza backen am Freitagmorgen, je nach Frühaufstehgelüsten. Mit dem Aperitif, gedacht zum Kennenlernen der Teilnehmer (sieben an der Zahl, klar), beginnt das Eintauchen in dieses Universum. Das Fernruf 7 ist ein feinsinnig gestalteter Ort mit Details, von denen nicht wenige nach japanischer Art scheinbar zufällig da sind, wo sie sind, und dennoch so punktgenau in den ­jahrhundertealten Gegebenheiten einrasten. Ein Gast-Küchen-Raum samt Ofen und massiver schwarzer Küchenzeile – „mir ist da ein Schmiedetisch vorgeschwebt“ –, ein Hinterzimmer. Rumpeliger, polierter Steinboden, schlichte Holzbänke, dreibeinige Tische – „die stehen auf diesem Boden immer irgendwie gerade“ – und Bewohner, die von weit und fern kommen. Fernruf eben. Japanische Topfbürsten und weiße Algen, die aufs Einweichen warten. Kupferutensilien aus Istanbul, oberösterreichische Emailletöpfe. Seine Enkelinnen kann Helmut Rachinger aus dem Küchenfenster sehen, „da weißt, welches Glück du hast“, zwei Schafe leben auf der Wiese hinterm Haus; manchmal sieht man durch die Stallfenster des Hinterzimmers nur deren atembebende weiße Wollmassen, dicht an die Scheiben gedrückt, manchmal taucht auch ein unverwandt hereinblickender Schafkopf über dem kahlen Schädel von Picasso auf, der sich als Schwarz-Weiß-Fotografie von innen ans Fenster lehnt. Und fürs Sinnieren zwischendurch: eine Pritsche neben Kisten mit unreifen grünen Trauben oder was sonst gerade aufs Fermentieren wartet. Die Platzierung des Brotbackofens, Chef Schrägstrich Freund, war beim Umbau der Kernpunkt. Genau darüber, im Dachboden des Stadls, den Rachinger noch zu einer Art Ryokan, ­einem japanischen Gästehaus, umgestalten will, ist die Selchkammer. Hier werden etwa Erdäpfel geräuchert, um mit Paprikamayonnaise und Grammeln serviert zu werden.

Der Kochkursaperitif am ersten Abend gibt einen Ausblick auf das, worum es hier geht. Traditionelle Methoden des Kochens, Backens und Haltbarmachens, rurale Zutaten aus der Umgebung und vereinzelt aus Übersee. Musik und reden. Zwei verschiedene Brote, Speck, fermentierte Johannisbeeren und Kriecherln vom Baum vorm Haus, Dillblüten sowie gereifter Tofu von einer japanischen Flugbegleiterin. „Wir heißen Fernruf, erlauben uns das. Drüben haben wir ja kaum Fremdländisches, schon seit vielen Jahren nicht.“ Zu trinken: Verjus gespritzt, hausgemachtes braunes Tonic, dessen Rezept in der Küche über eine mondäne Schwarz-Weiß-Postkarte gepinnt ist, oder Hopfel, der mit Hopfen versetzte Most des Kärntner Winzers Markus Gruze. „Das passt zu uns, wir haben ja hier in der Gegend auch Hopfen und Most.“ Aus der ­Gegend stammt auch so manches Messer, von David Günter Wolkerstorfer nämlich, zu dessen Schmiede Rachinger die Kursteilnehmer womöglich bei ausreichend bekundetem Interesse in seinem alten Feuerwehrauto hinkutschieren wird. Der Herr über das Fernruf 7 erzählt über das Haus, erklärt, wie der Kochkurs in etwa ablaufen wird – und wird unterbrochen von einer Dame, die fragt, ob man die Musik vielleicht etwas leiser machen könnte. Zum Glück bittet sie Rachinger nicht, sie abzudrehen. Ohne Musik, scheint es, wäre dieser Koch amputiert, sie ist ein essen­zieller Bestandteil seines Daseins.

Der nächste Tag startet für die Teilnehmer mit einer Tour ins pink gesprenkelte Gebüsch, die Kräuterpädagogin Irmi Kaiser entführt zu Springkraut und Wiesenbärenklau. Rachinger bleibt derweil beim Ofen, kann seine Brotlaibe nicht allein lassen, außerdem erledigt er gleich Mise en Place für das Tagespensum. Für ihn hat dieser Donnerstag schon weitaus früher begonnen. Um halb fünf ist er aufgestanden, um den Ofen anzuheizen (seine Mutter, Burgi gerufen, will das irgendwie noch nicht glauben – „geh!“). In einer Lade hortet er Scheite verschie­dener Bäume, Fichte, Esche, „brennen alle unterschiedlich“. Das Holz wurde schon am Vortag in den Ofen geschlichtet. Spart man sich somit in aller Herrgottsfrühe. Der Ofen und er, das scheint für Rachinger eine Liaison mit neugierigem, aber nichts überstürzendem Kennenlernen. Zwar setzt er auch ein Lasergerät zum Temperaturmessen ein, es gilt dennoch, ein Gefühl für die Befindlichkeiten des Ofens zu bekommen. Auch mit traditionellem Wissen. „Wann ist der Ofen heiß genug, aber nicht zu heiß für Brot? Wenn ein zerknülltes Papier nicht sofort zu brennen anfängt, sondern nur braune Ränder bekommt.“ Beim Brot, so Rachinger, sei „noch ein bisschen Lernbaustelle“. Einmal war der Ofen zu heiß, und die Brotjünglinge waren zu kalt. „Sind schwarz geworden. Am Balkan machen sie’s so, dass sie die schwarz verbrannte Kruste mit einem Stock abschlagen, darunter kommt dann eine ganz dünne, scharfe Kruste zum Vorschein.“ Der bulgarische Zahnarzt im Ort sagt angeblich „geschla­genes Brot“ dazu. Warum nicht gleich beim Kochkurs vormachen … ­Rachinger zieht dem dunklen Laib mit einem Holzprügel kräftig eins über, immer wieder, die verbrannte Kruste springt verschreckt in Splittern ab. Darunter wartet tatsächlich eine zweite, eine neugeborene Kruste.

Um elf Uhr kommt die Kurscrew vom Kräuterausflug zurück. „Dann sollten wir jetzt einmal mit dem arbeitsreichen Teil anfangen“, gibt der Chef vor, alle versammeln sich um den zentralen Holztisch. Manche halten die Hände vorsichtshalber hinter dem Rücken verschränkt – hat er wirklich arbeitsreich gesagt? Ist der Kochkurs, der keiner ist, am Ende doch einer? „Wer möchte einen Fisch filetieren?“ Die Opfer: Saiblinge. Ein Teil der Filets wird am Abend zum berühmten Schindelfisch, der andere Teil kommt gleich auf dem im Ofen erhitzten Salzstein zu liegen – ein weiteres Signature Dish des Mühltalhofs, im Fernruf 7 mit Algen und Süßlupinensauce serviert. Rachinger macht das Filetieren vor. „Man bleibt mit dem Messer auf dem Rückgrat flach auf dem Brett. Das ist alles, was man wissen muss“, sagt der Koch. Die Filets der Teilnehmer sehen nicht danach aus, als ob das alles wäre, was man wissen muss. Rachinger weist an, die Gräten mit einer Pinzette zu entfernen – „ein bissl weiter vorn nehmen, damit mehr Druck drauf ist“ –, wirft die ­Saiblingsköpfe in einen Topf, auf dass sie Wasser in Bouillabaisse verwandeln mögen. Zwei Teilnehmer springen kurz in die Große Mühl, jemand schneidet Zwiebel, schon bereit liegen enthäutete Paradeiser (die Morgen-Mise-en-Place), sie werden später zur Suppeneinlage. „Helmut, der Fond kocht!“, ruft jemand aufgeregt. „Das ist fein“, sagt ­Rachinger seelenruhig und platziert weiter Saiblingsstücke auf Salzstein. Was ist das für ein Stein, wo bekommt man ihn?, wird gefragt. „Leckstein, Lagerhaus. Bei Leckstein weiß aber dort niemand, was du meinst. Bergkern musst sagen.“ Nach über einer Stunde, in der mit Fischschleim und Zwiebeln hantiert wurde, schlägt sich Helmut ­Rachinger an die Stirn, lacht und sagt mit ertappter ­Miene: „Möchte wer eine Schürze?“

Frisch beschürzt geht es weiter mit dem Zerlegen des Rehschlögels, der später am Tag, zur Blauen Stunde, auf dem japanischen Grill zu Yaki Reh werden soll: mit Malzbier-Soja-Lack bestrichenen Spießchen. Rachinger zerteilt das Fleisch, benennt die Einzelteile, „das wäre beim Rind der Tafelspitz, das das Weiße Scherzl“. Sein Blick fällt auf den soeben gelieferten Pilzhaufen. Eierschwammerln, Rotkappen, Milchbrätlinge – „die heißen so, weil unsere Großväter die immer direkt auf die Herdplatte gelegt haben“, hat er zuvor erklärt. Und dann wird der Kochkurs plötzlich zum Exkurs. Rachinger hält inne. „Wart’, wir machen uns jetzt was.“ Das rohe „Weiße Scherzl“ vom Reh schneidet er hauchdünn, „wer traut sich kosten?“, die Kappen einiger Brätlinge werden von einem Teilnehmer in der Zwischenzeit auf die heiße Herdplatte gedrückt. Und nach wenigen Minuten steht da mitten zwischen halb zerteiltem Rehfleisch, nass zerknüllten Geschirr­tüchern und Messern ein dunkler Teller mit einem spontan entstandenen Gericht: Gebratene Milchbrätlingskappe mit Rehsashimi, fermentierten Johannisbeeren und Kräutern belegt. „Wie bist du jetzt darauf gekommen?“, taucht die Frage auf. „Das ist ent­standen“, sagt Rachinger nachdenklich. „Das ist entstanden.“ Und der Exkurs wird wieder zum Kochkurs.

Die Nachdenklichkeit aber, dieses „Oder so“-Momentum der offenen Möglichkeiten, bleibt noch ein Weilchen. Irgendwann, später, gibt er zu, dass er gern allein arbeite, „mittlerweile“, dass er seine Ordnung brauche. Vor allem nach der Japanreise, auf der er in Sushilokalen gesehen hat, was Ordnung ist. Gedankenversunken sortiert Rachinger Rotkappen nach Größe, während sein Blick immer wieder auf die Brätlinge daneben fällt; die äußere Ordnung scheint eine innere anzustoßen. Er lässt alle die aus den Brätlingen austretende Pilzmilch kosten. Man kann zusehen, wie die weißen Tropfen herausquellen und auf den Holztisch fallen. „Wie Topinambursaft …“ Die Milchbrätlinge fordern ihn offensichtlich wirklich heraus. Plötzlich geht er die paar Schritte zum Küchenfenster, holt Buchweizen, kostet. „Brätlinge und Buchweizen, so heißt das Ding“, sagt er, nickt sich selbst bestätigend zu und trägt den Buchweizen wieder zurück. Am Abend wird beides zu einem Happen werden, mit „Milch“ aus geröstetem gekochtem Buchweizen, mit Butter aufgeschäumt. Um zwanzig vor zwei gibt es das erste Pale Ale, das Hofstettner Hop Love. Und der Gastgeber lädt zu Bouillabaisse und Rosé an den Tisch draußen, vor dem großen gelben Schild, das sein Großvater anno dazumal beim Bahnhof auf­gestellt hat, um die Gäste die laut Schild 400 Schritte zum Gasthof Bad Rachinger zu lotsen. „Sommerfrische und Eislaufplatz“, spricht es in großen grauen Buchstaben, und „Anerkannt-vorzügliche Küche“. Wer vor der Nachmittagspause noch einen Kaffee möchte, bekommt ­zuerst Kaffeesalz vor die Nase gehalten – „das geben wir am Abend auf die Rehspieße“ –, kommt aber dann auch in den Genuss von Rachingers piemontesischem Kaffee. Dieser wird mit einem Gemisch aus dem „Vorlauf“ aus der Bialetti und Kristallzucker verrührt, was ihn erstaunlich dicht und hell macht. „Ich hab das im Piemont ge­sehen. Und wir sind hier in ­Unternberg, und Piemont heißt Unterm Berg.“

Am frühen Abend trifft die Truppe wieder im Fernruf 7 ein. Und wieder wird Helmut Rachinger gebeten, die Musik etwas leiser zu drehen. Er teilt die Teilnehmer paarweise zum Finalisieren des Abendmenüs ein, hat selbst in der Zwischenzeit wieder Mise en Place gemacht, Brombeeren fürs Dessert sortiert, Hopfendolden zerbröselt, ­Zedernholzschindeln bereitgelegt. Der erste Happen: ein Paradeiser-Marillen-Lavendel-oder-so mit halbierten unreifen Trauben belegt. Ein ­Hybrid-Gericht zwischen Salat und Kaltschale. Ein Hybrid ist auch der Kochkurs an diesem aus jeglicher Zeit fallenden Ort. Die Stimmung ­mäandert zwischen Geschäftigkeit und Müßiggang; wo gerade noch Timing notwendig war, ist im nächsten Augenblick Kontemplation. Topfen hängt träge über der Spüle zum Abtropfen, die Late Night Tales von Bonobo fluten aus den Boxen leise den Raum, die Aperitif-Ecke neben dem Ofen ist gut besucht. Der eine sitzt auf einem Lammfell neben dem Bücherstapel in der Ecke, wo Sandor Katz über Fermentation erzählt und das Tartine-Buch vom Brotbacken. Eine andere schaut Helmut Rachinger über die Schulter, während dieser geröstete Erdäpfelbrotscheiben mit Erdäpfel-Mayonnaise und Hopfenbröseln anrichtet oder die geselchten Erdäpfel mit Asche, Paprikasauce und Grammeln. Bar und Kühlschrank spendieren dazu Suze, den französischen Bitterlikör, das Sauerbier Wildbrett oder einen jungen Grünen Veltliner aus der Wachau, der in der Karte das Prädikat „11 % zum deppert Saufen, dabei noch gut“ trägt. Irgendjemand muss aber auch mit Essig marinierte Wassermelonenscheiben in der Grillpfanne schweinstauglich mit Röstaromen aufrüsten, Kapuzinerkresse hacken oder Kren reiben, den Rachinger im Garten aus­gegraben hat. Zur Sulz aus ofen­geschmorten Schweinshaxln, der als Begleitung vom Chef kurzerhand ein Sauerbier zugeteilt wird, weil dieser darin was Nierndlartiges, Viecherlndes entdeckt hat. Der Wein wird ­immer zügiger nachgeschenkt, die Rehspieße drängen sich auf dem in Dämmerlicht getauchten japanischen Grill vor dem Eingangstor, der selbstgemachte Rohmilchtopfen wird zuerst in guss­eisernen Pfannen und dann im noch immer warmen Ofen zu brombeerbevölkertem Schmarren. Es wird spät.

Am nächsten Morgen, Freitag, ist der Ofen der Zweite, der sein Tagwerk beginnt. Sein Befeuerer war der Erste. „370 Grad ist zu heiß für Brot, das passt aber für Pizza“, erklärt Rachinger die Reihenfolge, die der frühmorgens eingeheizte und im Tagesverlauf langsam abkühlende Ofen wieder vorgibt. Zuerst also Teigfladen ziehen und belegen. „310 Grad ­passen dann für Brot.“ Wer von den Kursteilnehmern nach dem Mühltalhof-Frühstück im Fernruf 7 eintrifft, ist da, wer nicht, der nicht. Was man versäumt? Mühlviertler Spontanpizza, belegt mit japanischen Algen, Topfenbrocken, eingelegten Eierschwammerln und Speck. Oder so. Der Plan, er muss keiner bleiben.

Fernruf 7
Unternberg 7, 4120 Neufelden
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