Der metrosexuelle Gang
Die scheinbaren Gegensätze süß und salzig nähern sich schon seit längerem an: Im Dessert vereinen sich die beiden zu überraschenden Geschmackserlebnissen.
Der metrosexuelle Gang
Text von Anna Burghardt Fotos: Luzia Ellert
Feine Salzblumen auf der dunklen Schokotarte, Pfeffer in der Crème brûlée, scharfer Senf im Sorbet: Was bei manchen noch Unverständnis auslöst, lässt andere Esser indes nach mehr lechzen. Allmählich scheint ein Trend auch hierzulande flächendeckend Fuß zu fassen: die Pikantisierung der Desserts.
Balsamico und grüner Pfeffer auf Erdbeeren sowie Kürbiskernöl zum Vanilleeis – man konnte schon vor einigen Jahren beobachten, dass solche Mischungen, vormals als Verrücktheiten abgetan, sich langsam zum dernier cri unter aufgeklärten Essern mauserten.
Mittlerweile haben sie, ebenso wie die heute allerorts anzutreffende Chilischokolade, ihren Avantgardestatus verloren und werden ihrerseits abgewandelt, etwa wie im burgenländischen "Taubenkobel" als gesulztes Kernöl mit Vanille. Nicht zuletzt dank dem umtriebigen Josef Zotter mit seinen Grammel- und Käseschokoladen sind Süßigkeiten mit überraschenden – weil pikanten – Einsprengseln eine beliebte Geschenkidee geworden. Man wähnt sich kulinarisch auf dem letzten Stand und schenkt solcherlei als Ausweis von Weltläufigkeit gern her. Beim Verspeisen dieser Kreationen herrscht aber noch nicht immer derselbe Wagemut.
Unterzieht man nun Gerichte wie weiße Mousse au chocolat mit Wasabi oder Eis von schwarzen Oliven einer stilistischen Untersuchung, kommt man, vorerst wenig überraschend, zum Schluss: Zutaten, die man ursprünglich nur von pikanten Speisen kannte, schummeln sich zu solchen, die klassische Dessertbestandteile sind. Die bisher recht klar abgegrenzte Geschlechtszugehörigkeit der Produkte verschwimmt. Die Lebensmittel wandern in der Topografie von Speisekarten allmählich nach hinten. Gewürze wie Pfeffer oder Curry finden sich nun auch in der Rubrik Dessert wieder, als bestimmender Bestandteil von Soufflés, nicht mehr nur als Begleiter von Fleisch, Fisch oder Gemüse.
Apropos Gemüse: Auch mit dessen Zutun läuft zurzeit eine Spielart der Pikantisierung ab, wenngleich deren Ergebnisse mitunter genauso süß sind wie Desserts mit traditionellen Zutaten. Bis auf wenige Ausnahmen wie den Kürbis spielten Paradeiser und Co. die längste Zeit auf der salzigen Spielwiese. Nun häufen sich jedoch Nachspeisen wie Süßes Dreierlei von der Tomate oder grün-weiß marmoriertes Spargeleis. Ein heimischer Vorreiter in Sachen Gemüsedesserts ist der kulinarische Querdenker Manfred Buchinger. Desserts wie Safran-Karfiol mit Ananas oder Creme vom weißen Spargel mit Topfen und Orange muten zwar vielleicht ungewöhnlich an, zeugen aber von einem neuen Blick auf Lebensmittel – nicht unwesentlich für die Zukunft der Küche. Die tatsächlichen Eigenschaften eines Produkts könnten doch schließlich im Vordergrund der Überlegungen stehen, nicht die Tradition seiner Verarbeitung. Süße Zutaten gibt es nämlich mehr, als deren Präsenz in der Dessertküche vermuten lassen würde: Pastinaken können süßer schmecken als so manche Himbeere, auch Garnelen oder geschmorte Zwiebeln entwickeln eine beträchtliche Süße, dennoch scheinen sie auf unseren Nachspeisenkarten nicht auf.
Was Desserts aus Gemüse und Gerichte wie Chili-Schokoparfait gemeinsam haben, lässt sich als Dekontextualisierung beschreiben: Ein Produkt wird aus seinem angestammten Kontext – beim Paradeiser etwa Suppe, Pizza, Spaghettisauce – losgelöst und gleichsam in ein neues Genre eingeführt. Interessant ist dabei, dass dieser Prozess zwar in die eine Richtung ausnahmslos funktioniert, man aber darob keinen Umkehrschluss ziehen darf. So gut wie alle Zutaten aus der süßen Ecke wurden schon einmal für pikante Vor- oder Hauptgerichte verwendet. Rosinen gemeinsam mit Kapern zum Rochen, Schokolade zu Wild, Karamell sowieso zu fast allem. Dass die Verschiebung von Lebensmitteln aber in die andere Richtung nicht mit derselben Konsequenz funktioniert, ist zwar leicht zu beobachten, aber schwieriger zu analysieren. Für Sardellen, Knoblauch oder Innereien ist eine Vereinnahmung durch die Patisserie gewiss noch weit entfernt. Warum? Vordergründig natürlich, "weil das ja ekelhaft wäre". Was aber steckt hinter diesen Ressentiments? Möglicherweise hat es unter anderem mit unserer angeborenen Vorliebe für Zucker zu tun, dass wir zwar dem Süßen überall Platz gewähren, dem Salzigen oder Bitteren jedoch den Eintritt oft verweigern.
Untersuchungen belegen ja, dass Neugeborene nach Süßem gieren, Bitterstoffe und Säure jedoch ablehnen. Der Zucker scheint also eine gewisse Vormachtstellung zu haben, einen geheimen Schlüssel zu allen Geschmäckern. Wie heißt es im Musical Mary Poppins so schön schwungvoll: Mit ’nem Teelöffel Zucker nimmst du jede Medizin – angenehm und sehr bequem.
Ein weiteres Beispiel soll zeigen, dass die einseitige Codierung von pikanten Zutaten allen Entfremdungsversuchen zum Trotz noch immer in hohem Maße wirksam ist: Ein Klacks Marmelade zum Fleisch wird durchaus gern verzehrt, solange das Ganze unter Hauptspeise läuft. Bei den Desserts hingegen wäre die Anwesenheit eines Stücks Fleisch auf einer Marmeladepalatschinke immer noch ein Affront. Nur Zuckriges darf also überall hin, umgekehrt aber gilt zum Großteil noch das rot-weiße Einbahnschild.
Zu Recht werden aber nun die Codes aufgebrochen, was von vielen Gourmets auch äußerst dankbar angenommen wird. Einerseits eröffnen differenzierte Sichtweisen auf Zutaten wie Gemüse neue Möglichkeiten im Dessertbereich. Zum anderen werden klassische Nachspeisen wie die Mousse au chocolat oder die Creme brûlée mit pikanten Akzenten aufgemöbelt, was der schweren, oft nicht mehr willkommenen Süße äußerst erfrischend entgegenwirkt. Süßes ohne scharfen, salzigen oder bitteren Gegenpart kann eine einlullende und allzu beruhigende Wirkung haben, wir kennen das ja vom beliebten Zuckerl als Trostmittel. Dem müden Gaumen wird geschmeichelt, und man wird noch träger gemacht, was nach einem ausgiebigen Menü vielfach nicht erwünscht ist.
Salz, scharfe Gewürze oder Säuren wie Essig können eine fade Süße nun nicht nur ausgleichen und abrunden, sie belüften gleichsam das Dessert und bewirken ein Flirren und Schwingen – höchst anregend. Salzflocken mit ihrer kristallinen Kantigkeit oder Pfefferschrot mit seinen kitzelnden Schärfemomenten führen zu neuen Bewegungen innerhalb der Geschmacksstrukturen, spannend nicht zuletzt hinsichtlich einer erweiterten Sensorik. Desserts mit pikanten Akzenten und sogar leicht salzige wirken durch ihre aromastrukturelle Ausgeglichenheit zudem viel angenehmer auf den Magen als einseitig süße. Die vielleicht ideale Kombination sind die sich häufenden Gerichte, die Dessert und Käse vereinen. Für die Gastgeber wirtschaftlich zwar die unklügere Variante, fällt doch ein Gang weg, für die Esser aber ein Gewinn in Sachen Unbeschwertheit. Man erspart dem Magen eine weitere Belastung und kommt zu Ende eines Menüs dennoch in den Genuss von beidem – Süßem und Pikantem.
Ziegenkäsestrudel mit Kirschen und Honig, Birnentarte mit Roquefort oder Pralinen aus Schafkäse und Datteln: Beispiele finden sich viele. Und sie beherzigen alle, was Manfred Buchinger so treffend in Worte fasst: Weniger Zucker ist das Mehr am Dessert.