Der völlig verkehrte Apfelkuchen

Tarte Tatin ist ein international bekannter französischer Apfelkuchen, der „auf dem Kopf“ gebacken und anschließend gestürzt wird.

Text von Andrea Karrer · Illustration von Peter Jani
Seine Existenz soll die Tarte einem Missgeschick verdanken. Die betagten Schwestern Stéphanie und Caroline Tatin führten das Hotel Tatin mit Restaurant in Lamotte-Beuvron im Loiretal und buken Apfelkuchen. Einer der beiden Damen fiel der fertige Apfelkuchen aus der Hand und – wie jedes ordentliche Butterbrot das auch tut – fiel der Kuchen natürlich auf die Apfelseite. Die Obstschicht blieb heil, aber der Boden war von dem Sturz beschädigt. Daraufhin hätte die unerschrockene Dame den Kuchen mit der Fruchtseite nach unten wieder in die Form gegeben, neuen Teig darübergelegt und den Kuchen noch einmal gebacken. Diese hübsche Geschichte muss man nicht unbedingt glauben, denn laut Larousse Gastronomique gab es in dieser Gegend Frankreichs schon einige Zeit vorher gestürzte Tartes mit Äpfeln oder Birnen. Nett ist die Erzählung aber trotzdem, zumal die Schwestern diesem Kuchen tatsächlich ihren Namen gegeben haben. Gebacken haben sie ihn also auf jeden Fall. Der bekannte französische Gastronomiekritiker Maurice-Edmond Sailland, besser bekannt unter seinem Pseudonym Curnonsky, hat ihn schließlich in ganz Frankreich bekannt gemacht: In den 1920er Jahren schrieb er eine Buchreihe über die Küche der französischen Provinzen und 1926 veröffentlichte er das Rezept für „La Tarte des Demoiselles Tatin“. Kurze Zeit später erschien der Kuchen im Pariser Nobelrestaurant Maxim’s auf der Speisekarte – der Anfang einer steilen kulinarischen Kuchen-Karriere.
Ob Curnonsky damals das „Geheimrezept“ der Schwestern Tatin erfahren hat, ist ungewiss. Das Hotel Tatin in Lamotte-Beuvron gibt es übrigens heute noch. Auf der Webseite des Hotels ist jedoch zu erfahren, dass ihm ein anderer Autor namens Paul Besnard zuvor gekommen ist, der schon 1921 das angeblich authentische Rezept veröffentlichte. Hier die Übersetzung:
„Nimm eine verzinnte Kupferform, etwa 6 cm tief, die innen gut mit einer Schicht Butter eingefettet wird, darüber kommt eine etwa 1 cm dicke Schicht Puderzucker. Dann fülle die Form mit einer Schicht geviertelter Äpfel oder Birnen; auf diese Viertel gib noch etwas Butter und Zucker, dann bedecke alles mit einem pfennigdicken Mürbeteig. Der Kuchen wird auf einem guten Kohlenfeuer gebacken, dann das Ganze umgekehrt in einem four de campagne (einer Art Tortenpfanne mit Füßen und Deckel) bei starkem Feuer. Backzeit: 20 bis 25 Minuten. (…) Die Tarte ist gar, wenn die Früchte golden sind und der Zucker etwas karamellisiert. Bedecke die Tarte mit dem Teller, auf dem sie aufgetragen wird und drehe das Ganze schnell um, so dass die Früchte oben sind. Heiß servieren.“
Das Besondere der Tarte Tatin ist ihre Zubereitung, denn sie wird „kopfüber“ gebacken, d. h. die Äpfel werden mit Teig zugedeckt und so vor dem Austrocknen im Backrohr bewahrt. Auf diese Weise werden die Äpfel karamellisiert und erhalten dadurch ein wunderbar intensives Aroma. Durch die Feuchtigkeit unter diesem Teigdeckel werden sie zudem auf dem Boden der Backform regelrecht gedünstet und entwickeln dadurch einen ganz neuen, interessanten und sehr intensiven Geschmack.
Der Wahl des richtigen Mürbteigs (Pâte Brisée, sagt der Franzose) ist bei allen Tartes für den Genuss ganz besonders wichtig. Ich habe mehrere Rezepte ausprobiert, doch der ganz klassische ist für mich immer noch der Beste. Unabhängig vom Rezept (ob mit Ei oder ohne Ei, ob mit etwas Zucker oder nicht, ev. Zitronensaft) gibt es zwei Grundregeln:
1. Der Teig darf nicht zu viel geknetet werden, weil sich sonst zu viel Gluten bildet. Es ist jener Kleber, der dem Teig Festigkeit verleiht und der entsteht, wenn Mehl auf Wasser trifft. Je mehr der Teig bearbeitet wird, desto mehr Kleber entsteht, das Ergebnis wird elastisch und beim Backen hart und schrumpft.
Zitronensaft und kaltes Wasser helfen, das Gluten unter Kontrolle zu halten. Weil die Temperatur so entscheidend ist, arbeiten Profis auf kalten Marmorplatten, billiger und ebenfalls effizient ist es, Eiswürfel ins Wasser zu geben.
2. Auch die Butter sollte kalt sein, damit sie, wenn ich das richtig verstanden habe, die Gluten-Partikel gut umschließt und nicht zu früh ins Mehl schmilzt. Weil sie sich beim händischen Kneten schnell erwärmt, hackt man sie mit einem Teigschaber in kleine Stücke, bevor man den Teig knetet. Es braucht dann nur noch wenig Knetarbeit, um einen geschmeidigen Teig zu bekommen.
Hinweis: Im fertigen Teig dürfen keine Butterstückchen mehr zu sehen sein. Zu einer Kugel formen, in Frischhaltefolie wickeln und mindestens eine halbe Stunde im Kühlschrank rasten lassen, besser noch 24 Stunden rasten lassen. Das Gluten soll Zeit bekommen, sich zu entspannen. Dann auf einer bemehlter Arbeitsfläche auf die gewünschte Größe ausrollen und kleine Löcher mit einer Gabel hineinstechen, damit der Teig beim Backen nicht zu sehr Blasen wirft. Erneut im Kühlschrank mindestens eine halbe Stunde rasten lassen.
Die Apfelsorte ist entscheidend: Ich empfehle eine Sorte mit nicht zu hohem Wassergehalt, die beim Garen ihre Form behält und nicht zu Matsch zerfällt – etwa Renetten. Derzeit sind aber sowieso nur mehr spätreife Varianten zu bekommen, die Qual der Wahl erübrigt sich daher, also am besten Boskop oder jede andere Sorte von Lederäpfeln nehmen.
Es braucht erstaunlich viele Äpfel für die Tarte, und wenn man zu wenige hat, entstehen unschöne Lücken. Mit zwei – drei Kilo (geputzt und entkernt etwa 1 ¼ kg) sollte man rechnen.
Tarte Tatin wird nicht in einer Tarte-Form, sondern in einer Pfanne gebacken. Das Pfannenfachgeschäft bietet für Liebhaber eigene Tarte-Tatin-Pfannen an, wer so etwas für übertrieben hält, greift zur „gemeinen“ Bratpfanne (mit hitzebeständigem Griff!).
Wichtig ist nur, dass sie einen hohen Rand hat, weil die Karamell-Butter-Apfelsaft-Mischung ziemlich hochkocht, und dass ihr Boden einigermaßen dick ist, so dass sie gleichmäßig heiß wird. Ich nehme eine Pfanne mit 25 Zentimeter Durchmesser, wer sich für eine wesentlich größere entscheidet, muss die Zucker-, Butter- und Apfelmengen entsprechend anpassen.
Für den Karamell den Zucker mit Butter in der Pfanne zu bernsteinfarbenem Karamell schmelzen, die geschälten, entkernten und in dicke Spalten geschnittenen Äpfel kreisförmig darin eng aneinander anordnen, so dass die Pfanne möglichst voll ist. Nun kann man die Äpfel oben auf der Herdplatte im Karamell dünsten, ich gebe die Pfanne lieber ins vorgeheizte Rohr. Die genaue Garzeit hängt von der Dicke der Äpfel und der Sorte ab. Die Äpfel sollten gerade noch etwas Biss haben.
Die Äpfel auskühlen lassen und danach noch mindestens 1 Stunde in den Kühlschrank stellen.
Bis hierhin kann die Tarte sehr gut vorbereitet werden.
Zur Fertigstellung das Backrohr vorheizen, die vorbereitete Teigplatte auf die Äpfel legen und die Tarte noch etwa 20 bis 30 Minuten backen. Herausnehmen und mindestens 10 bis 15 Minuten stehen lassen, so dass die Äpfel das Karamell richtig gut aufsaugen können. Aber ja nicht länger als 30 Minuten! Denn wenn die Tarte zu lange steht, wird das Karamell wieder hart und die Tarte bleibt an der Pfanne kleben. Jetzt noch einen Teller (auf dem die Tarte serviert wird) auf die Äpfel legen und die Pfanne wenden. Schmeckt sehr gut mit Vanilleeis oder Crème fraîche oder nicht zu fest aufgeschlagenem Obers oder leicht gesüßtem Rahm …
KLASSISCHE TARTE TATIN
Zutaten für 1 Tarte (25 cm Durchmesser)
Mürbteig
200 g Mehl (glatt)
100 g Butter, in kleine Würfel geschnitten
60 ml eiskaltes Wasser
1 kleine Prise Salz
Mehl zum Ausarbeiten
Karamell:
200 g Zucker
100 g Butter
ev. 1 Vanilleschote
1.250 g säuerliche Äpfel (z. B. Boskop, Cox Orange, Renetten)
Mürbteig Alle Zutaten rasch zu einem Mürbteig verkneten; mindestens 30 Minuten (am besten 24 Stunden) kalt stellen; anschließend auf bemehlter Arbeitsfläche oder zwischen Backtrennpapier zu einer 3 mm dicken Scheibe von 28 cm Durchmesser ausrollen; mindestens 30 Minuten kalt stellen. Anschließend mit einer Gabel mehrmals einstechen und wieder kalt stellen.
Karamell Zucker in die Pfanne geben und darin schmelzen lassen. Wenn der Zucker beginnt, sich hellgelb zu verfärben, die Butter beifügen und unter Rühren schmelzen lassen (Tipp: eventuell eine Vanilleschote längs halbieren und dekorativ in den Karamell legen.).
Die Äpfel schälen, entkernen, in dicke Spalten schneiden und kreisförmig eng aneinander in der Pfanne anordnen, so dass die Pfanne möglichst voll ist. Im vorgeheizten Rohr bei 160 °C etwa 45–60 Minuten garen. Die genaue Zeit hängt von der Dicke der Äpfel und der Sorte ab. Die Äpfel sollten gerade noch etwas Biss haben. Die Äpfel nach dem Auskühlen mindestens 1 Stunde in den Kühlschrank stellen.
Bis hierhin kann die Tarte sehr gut vorbereitet werden.
Fertigstellung
Die vorbereitete Teigplatte auf die Äpfel legen und die Tarte im vorgeheizten Rohr bei 175 °C etwa 20 bis 30 Minuten backen. Herausnehmen und mindestens 10 Minuten, maximal 30 Minuten stehen lassen. Einen Teller auf die Äpfel legen und die Pfanne wenden.
Warm mit Vanilleeis oder Crème fraîche servieren.
VARIATIONEN
Für eine weihnachtliche Tarte 2 Sternanis und der Länge nach durchgeschnittene Zimtstange mit der Vanilleschote einlegen.
Oder 1 EL geriebenen Ingwer und etwas geriebene Zitronenschale vor den Äpfeln in den Karamell geben.
Apropos Variation: Eine Tarte Tatin muss nicht nur mit Äpfeln zubereitet werden, wie schon erwähnt, wurden solche Tartes in Frankreich auch mit Birnen belegt, mittlerweile gibt es Tarte Tatin mit Feigen, Rhabarber, Bananen, Orangen, Quitten, Mangos, Pfirsichen, Marillen … – und grandios schmecken auch die pikanten Tartes, wie Tarte Tatin mit Zwiebeln oder Schalotten, mit Birnen und Roquefort, mit Tomaten und Mozzarella, mit Ziegenkäse, mit Waldpilzen …
TARTE TATIN „TIAN STYLE“
Wunderbar schmeckt mir die moderne Version der Tarte Tatin von Thomas Scheibelhofer (Restaurant „tian“)
Zutaten für 6 Portionen
6 mittelgroße Äpfel (Gala oder Boskop)
150 g Zucker
25 g Butter
Fertig-Blätterteig, aufgetaut oder 200 g Mürbteig
Die Äpfel schälen und das Kerngehäuse herausstechen.
Zucker in einem kleinem Topf mit etwas Wasser zum Kochen bringen (dabei nicht zu viel umrühren ) und den Zucker solange kochen, bis er eine hellbraune Karamellfarbe hat. Dann von der Hitze nehmen, die Butter zugeben und kurz einrühren. Sofort etwa 1 cm dick in entsprechende Formen eingießen.
Tipp: Am besten eignen sich halbrunde Silikonformen mit einem Durchmesser von 6–7cm (im Fachhandel erhältlich).
Die geschälten Äpfel in den noch warmen Zucker hineindrücken und mit einer weiteren Silikonform oder Alufolie abdecken. Im vorgeheizten Rohr bei 175 °C etwa 20 Minuten backen. Hinweis: Die Äpfel sollten sich vom Karamell vollgesogen und eine weiche Konsistenz haben, aber nicht verkocht sein!
Aus dem Rohr nehmen und abkühlen lassen (Vorsicht mit dem heißen Zucker!). In der Zwischenzeit aus dem Blätterteig* 6 Scheiben (6–7 cm Durchmesser) ausstechen und im vorgeheizten Rohr bei
220 °C etwa 18 Minuten backen.
Wenn die Äpfel abgekühlt sind, auf den gebackenen Blätterteig legen und mit etwas vom restlichen Karamell in der Form übergießen.
Sehr schön ist dieses Gericht, wenn es in einem Glas serviert und mit etwas Weinchadeau übergossen wird. Geröstete Mandeln darüber streuen und evtl. etwas Vanilleeis dazugeben.
*oder ausgerolltem Mürbteig
TARTE TATIN NACH GERHARD GERER
Von Reinhard Gerer habe ich eine wunderbare und schnelle Variante
Zutaten für 1 Kuchen (4–6 Portionen)
330 g Blätterteig (ev. tiefgekühlt)
1 kg Äpfel (z. B. Boskop, Cox Orange, Elstar, Jonagold)
100 g Butter
2–3 EL brauner Zucker
Zimt (gemahlen)
Blätterteig auftauen lassen.
Äpfel schälen, vierteln und entkernen. Eine hitzebeständige Form (Jenaer Glas) oder Pfanne dick mit Butter befetten, Butterflocken darauf verteilen und mit braunem Zucker bestreuen. Die Form dicht mit den Apfelstücken belegen und mit einer Prise Zimt würzen.
Blätterteig auf bemehlter Arbeitsfläche etwa 4 mm dick ausrollen und 3 cm größer als die Form zuschneiden. Äpfel mit dem Blätterteig bedecken und den Teigrand wie ein Leintuch seitlich einschlagen. Blätterteig mit einer Gabel mehrmals einstechen und den Kuchen im vorgeheizten Rohr bei 200 °C etwa 45 Minuten backen. Dabei zergeht die Butter und der Zucker karamellisiert.
Kuchen nach dem Backen sofort stürzen. So ist der Teig jetzt unten und die Äpfel oben. Mit halb aufgeschlagenem, leicht gesüßtem Schlagobers servieren.
ADRESSEN
TIAN
Himmelpfortgasse 23, 1010 Wien
www.tian-vienna.com
MAGDALENENHOF
Senderstraße 355, 1210 Wien
www.reinhard-gerer.at